Rezension zu Versuch über die moderne Seele Chinas

Dr. med. Mabuse. Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe. Nr. 196. März/April 2012. 37. Jahrgang

Rezension von Helmut Foster

Rezension zu Antje Haag: Versuch über die moderne Seele Chinas
Aus: Dr. med. Mabuse. Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe. Nr. 196. März/April 2012. 37. Jahrgang
Rezensent: Helmut Forster

»Ich bin überaus erfreut«, schrieb Sigmund Freud 1929 an den chinesischen Gelehrten Zhang Sizao, »durch Ihre Absicht, in welcher Art Sie sie immer wollen, sei es die Kenntnisse der Psychoanalyse in Ihrem Heimatlande China anbahnen, sei es, dass Sie uns Beiträge für unsere Zeitschrift ›Imago geben, in denen Sie unsere Vermutungen über archaische Ausdrucksformen am Material Ihrer Sprache messen.« Krieg und Revolution ließen die damals begonnene Rezeption der Psychoanalyse in China von der Bildfläche verschwinden, im maoistischen China galt sie wie alle westliche Psychologie als reaktionär. Freuds Bücher waren verboten. Ende der 1970er Jahre entwickelte sich mit der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik wieder ein Interesse an Psychotherapie. Ein Psychotherapietransfer nach China setzte ein, der heute zu einem regelrechten Psycho-Boom geführt hat.

Freud ist jedenfalls in China angekommen. 2010 fand der erste asiatische Psychoanalytische Kongress in Peking statt. Bei der Übertragung westlicher Psychoanalyse nach China waren von Beginn an deutsche Psychoanalytiker dabei, wie auch Antje Haag von der Universität Hamburg. Sie bildete jährlich für mehrere Wochen chinesische Psychologen in Shanghai aus und führte Analysen durch.
Zwei Problemkreise spielten dabei die zentrale Rolle. Zum einen waren es die traumatischen Auswirkungen der Kulturrevolution, die den Höhepunkt des maoistischen Kampfkultes darstellte und alle grundlegenden moralischen Werte zerstörte. Davon hat sich China bis heute nicht erholt. Immer noch sind die psychosozialen Folgen jener totalitären maoistischen Schreckensherrschaft nicht aufgearbeitet. Zum anderen waren es die psychischen Auswirkungen der ungeheuer raschen Wandlung des Reiches der Mitte hin zu einer modernen, tendenziell marktwirtschaftlichen Ordnung, die jedoch immer unter der Diktatur der Kommunistischen Partei Chinas steht.

In ihrem Buch »Versuch über die moderne Seele Chinas« schreibt Antje Haag anhand von Fallbeispielen aus ihrer psychoanalytischen Praxis in Shanghai über beide Problembereiche und versucht ihre oftmals verwirrenden Eindrücke zu ordnen und in einen theoretischen Rahmen einzupassen. Dabei stellt sie die auf Individualismus fixierte westliche Gesellschaft der konfuzianisch-kapitalistischen chinesischen Gesellschaft gegenüber, in welcher der Mensch nicht als Individuum gefasst, sondern ausschließlich über seine sozialen Beziehungen definiert werde. Dieser Konfuzianismus präge bis heute (!) die Struktur der chinesischen Gesellschaft.

Diese - stark eurozentristische und reduktionistische Züge aufweisende – Theorie kulminiert in der unkritischen Übernahme von Argumentationen westlicher Ethnologen, die den westlichen Schuldgesellschaften die asiatischen Schamgesellschaften gegenüberstellen Schuld ist dabei im Inneren der Psyche angesiedelt, Scham (Gesichtsverlust) hingegen bloß äußerlich. »Die hohe Bewertung des Gesichtsverlusts ist möglicherweise eine der Ursachen für die Unbeweglichkeit, die die chinesische Gesellschaft seit Jahrtausenden auszeichnet«, schreibt Antje Haag. Hier also der mobile Westen, dort der unbewegliche Osten?!

Die gegenwärtige Entwicklung der Marktwirtschaft erzwinge Individualisierung, was nur durch eine Überwindung des alten Schamkodexes denkbar sei, so Antje Haag weiter. Sie unterschätzt damit die ungeheuren Änderungen, die die Übernahme des Kommunismus in China für Gesellschaft und Individuum mit sich gebracht haben. Konfuzius jedenfalls kannte keine Parteizellen und -sekretäre und auch keine Geheimpolizei.

Wie stark der aus dem Stalinismus stammende Maoismus China vom Kopf auf die Füße stellte, geht aus dem Buch »Chinesische Seelenlandschaften« hervor, das zu Recht den Untertitel »Die Gegenwart der Kulturrevolution (1966-1976)« trägt. Der Herausgeber dieses Buches, der Psychoanalytiker Tomas Plänkers, präsentiert darin die Ergebnisse eines von ihm geleiteten Forschungsprojektes über die psychosozialen Auswirkungen der Kulturrevolution und den transgenerationalen Einfluss traumatischer psychischer Strukturen von einer Generation zur nächsten. Westliche Traumaforschung mit ihren vielen, unter anderem an der Aufarbeitung von Völkermorden gewonnenen Erfahrungen kann in China sicherlich eine große Rolle spielen.

Insgesamt zwölf Personen wurden im Rahmen des Projektes interviewt. Leider werden diese Interviews nur in einem Überblick vorgestellt und kommentiert. Der Herausgeber sieht selbst das zentrale Problem darin, dass der »ermöglichte psychodynamische Blick in die Tiefe psychischer Verfassungen ... erkauft« wird »durch die Unmöglichkeit statistischer Repräsentativität«. Erschwerend kommt hinzu, dass die chinesischen Interviewer wohl nicht über die psychoanalytischen Interview-Standards verfügten.

Dieses Defizit wird teilweise wettgemacht durch Texte zur Traumaforschung; durch einen fachkundigen sinologischen Beitrag, der die Gespräche mit den Narrativen der Kulturrevolution in Parteigeschichte, Literatur, populären Medien und Interviews analytisch vergleicht; schließlich durch eine Untersuchung zur Kulturrevolution als Kontingenzerfahrung sowie durch eine sozialpsychologische Betrachtung des Terrors der Roten Garden.

Eine relevante neue psychoanalytische Erkenntnis vermag ich dennoch nicht zu erkennen, es sei denn, dass auch in China »individuell ... die traumatische Ätiologie und Symptomatologie höchst unterschiedlich« sind, wie der Herausgeber schreibt. In welcher Beziehung diese Aussage zum Universalitätsanspruch der Psychoanalyse steht, bleibt ebenfalls ungeklärt. Ob der Odipuskomplex auch uneingeschränkt in China oder nur in kulturell modifizierter Form gilt, erschließt sich übrigens aus beiden Büchern – mir jedenfalls – nicht. Aber auch in China ist die Kritik am wissenschaftlichen Anspruch der Psychoanalyse schon längst angekommen.

Ist die westliche Psychotherapie überhaupt für die chinesische Kultur geeignet? Kann Psychoanalyse in einem nicht westlichen Kulturkreis überhaupt praktiziert werden? Für Antje Haag bleibt diese Frage offen, sie plädiert gar für ein Modell der Verschmelzung westlicher (Individuum) und östlicher Perspektiven (Kollektiv), die für sich allein einseitig seien. Damit geht sie dem Problem aus dem Weg, inwieweit Psychoanalyse in einer Diktatur ohne Rede- und Meinungsfreiheit überhaupt praktizierbar ist und ob sie nicht mit ihrem aufklärerischen Anspruch zur Überwindung der kommunistischen Diktatur beitragen muss.

Die den Psychotherapietransfer organisierenden westlichen Psychoanalytiker sind längst keine beobachtenden »Zaungäste« chinesischer Wandlungsprozesse mehr, wie Antje Haag schreibt, sie sind Teil dieses Prozesses. Der Bedarf an Psychotherapie ist groß in China, es ist eines der Länder mit den meisten psychischen Störungen weltweit, jeder fünfte Chinese ist davon betroffen. Antje Haag meint, dass vor allem psychoanalytische Gruppen-, systemische Familien- und lerntheoretisch fundierte Verhaltenstherapie nach China passen würden. Vielleicht werden chinesische Psychiater aber auch ganz pragmatisch und eklektizistisch verschiedene Methoden und Theorien miteinander verschmelzen - so wie jene jungen Psychiater in Ausbildungskursen von Antje Haag in Shanghai, die gleichzeitig noch Kurse anderer Theorierichtungen besuchten.

Beide Bücher dokumentieren jedenfalls das Vordringen der Psychoanalyse nach China. Es ist zu hoffen, dass sie sich einmal wirklich des großen Fundus/' an klassischer chinesischer Literatur annimmt, um - Freud wieder aufgreifend »unsere Vermutungen über archaische Ausdrucksformen am Material Ihrer Sprache zu messen«.

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