Rezension zu Die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung durch Freud und Jung
Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse. Heft 167, 01/2012, 43. Jg., Brandes&Apsel Verlag, Frankfurt, S.125ff.
Rezension von Christfried Tögel
Elke Metzner/Martin Schimkus (Hrsg.) Die Gründung der
Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung 2011, 276 S., Gießen, Psychosozial, € 29,90
Der vorliegende Sammelband enthält alle Beiträge der
Frühjahrstagung der »Deutschen Gesellschaft für Analytische
Psychologie« (DGAP), die vom 18. bis 21. März 2010 in Nürnberg
stattfand.
Ort und Datum waren nicht zufällig gewählt: 100 Jahre zuvor war am
31. März 1910 an gleicher Stelle die »Internationale
Psychoanalytische Vereingung« gegründet worden. Und »gleiche
Stelle« ist hier wörtlich zu nehmen: Die Tagungsteilnehmer fanden
sich - wie die Gründungsväter der IPV - im Nürnberger »Grand-Hotel«
zusammen.
Leibl Rosenberg, Gründer des »Forums für jüdische Geschichte und
Kultur e.V. Nürnberg« beschreibt in einem der lesenswertesten
Beiträge des Buches gleich nach der Einleitung der Herausgeber den
»unsichtbaren Tagungsort Nürnberg«. Er zitiert aus der Werbung des
damaligen »Grand-Hotels«: »Haus 1. Ranges / Rechts vom Ausgang des
Centralbahnhofs / Kein Eisenbahngeräusch / In schönster und
freiester Lage der Stadt, mit hübschem Vorgarten; mit allem Comfort
der Neuzeit ausgestattet, elektrisches Licht, Centralheizung, Lift
etc.. Bäder auf jeder Etage. Civile Preise.«
Der Wiener Soziologe Friedhelm Kröll behandelt
»Organisationsprobleme der Psychoanalyse« und deutet - ganz
nebenbei - eine interessante Parallele zwischen der
Institutionalisierung der IPV zwischen 1910 und 1913 und der des
Bauhauses in Weimar zwischen 1920 und 1923 an. Die Überlegungen
Krölls zur Strukturierungs- und Strukturproblemen sind eine
wichtige Ergänzung zu Gerhard Wittenbergers Arbeit über
Institutionalisierungsprozesse in der Psychoanalytischen Bewegung
(Das »Geheime Komitee« Sigmund Freuds.
lnstitutionalisierungsprozesse in der Psychoanalytischen Bewegung
zwischen 1912 und 1927. Tübingen 1995, edition diskord).
Michael Ermann konzentriert sich in seinem Beitrag Ȇber die
Notwendigkeit (und die Not) einer ständigen Internationalen
Organisation« auf die Rolle Sándor Ferenczis im
Institutionskonflikt der Psychoanalyse. Als Ausblick in die Zukunft
formuliert Ermann am Ende: »Es bleibt zu hoffen, dass die
fortschreitende Marginalisierung unserer Wissenschaft die Einsicht
befördert, dass die Psychoanalyse als ein Projekt des vertieften
Verstehens des Unbewussten nicht an bestimmte Strukturen gebunden
ist.«
Mai Wegener beschäftigt sich mit Jacques Lacans Bewertung der
Gründung psychoanalytischer Gesellschaften. Er hielt sie für einen
»außerordentlichen joke«. Die Interpretation der Lacanschen
Überlegungen durch Wegener und ihre Schlussfolgerung, »die
Übermittlung der Psychoanalyse [sei] in ihrer Struktur dem Witz
verwandt«, verlangt dem Leser allerdings sehr viel intellektuelle
Flexibilität ab.
Anne Springer beleuchtet die Prozesse der Institutionalisierung und
Professionalisierung in Bezug auf die Entwicklung der Analytischen
Psychologie in Deutschland. Jung und seine Anhänger hätten der
Institutionalisierung von Anbeginn an skeptisch gegenüber
gestanden, nicht zuletzt als Folge des Bruchs mit den Freudianern.
Auch seine »zu verurteilenden Äußerungen im Nationalsozialismus«
haben die institutionelle Entwicklung der Analytischen Psychologie
behindert.
Roman Lesmeister analysiert das Verhältnis zwischen Jung und Freud
im Jahre 1910. Er konstatiert die »Intimität einer Beziehung ohne
ausreichende Verständigungsgrundlage«. Dass man dafür nicht
unbedingt auch Freuds Skepsis gegenüber Mythologie und Okkultismus
verantwortlich machen muss, hat jüngst Ernst Falzeder gezeigt
(Freud und Jung. Zusammenarbeit - Bruch - gegenseitige Befruchtung.
Luzifer-Amor, 24, H. 48, 2011, S.156-173).
Almuth Bruder-Bezzel geht im Detail auf Alfred Adlers Rolle während
des Nürnberger Kongresses ein. Sie versucht »das Geschehen in
Nürnberg von der Perspektive der Wiener aus zu betrachten und von
der – vermutlichen – Perspektive Adlers – direkte Äußerungen Adlers
dazu gibt es nicht«. Freud habe die Wiener Gruppe und ihren
»stärksten Kopf« (so Freud am 31.1.1908 in einem Brief an Adler)
»völlig überrollt und übergangen«. Unter anderem deshalb sei Adler
nach Nürnberg der »erste Dissident« gewesen.
Michael Buchholz beschäftigt sich mit den »zukünftigen Chancen der
psychoanalytischen Therapie«. Er glaubt, dass die Ausarbeitung
eines Modells des »resonanten Unbewussten« diese Chancen erhöhen.
Dieses resonante Unbewusste entfaltet »gleichsam in horizontaler
Richtung soziale Bezüge zum Anderen«. Der Individualismus einer
ausschließlich vertikalen Perspektive ignoriere »die vielfältigen
Kontexte der mikroanalytisch beobachtbaren Interaktionen«. Es müsse
ersichtlich werden, »was an der Oberfläche berichtbar, für den
Beteiligten sichtbar, hörbar und vernehmbar geschehen ist«. Die
Konzentration der Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Dynamik des
Patienten müsse »weniger werden und allmählich verschwinden.«
Edith Kerstan stellt Ȇberlegungen zu Karl Abrahams Psychoanalyse
eines Falles von Schuh- und Korsettfetischismus« an. Abraham hatte
in Nürnberg zum Thema »Psychoanalyse des Fetischismus« referiert –
gleich im Anschluss an Freuds Eröffnungsvortrag. Der Analyse von
Abrahams vorgestelltem Fallbeispiel ist ein kurzer historischer
Exkurs zum Begriff des Fetischismus vorangestellt.
In einem Beitrag über «Psychoanalytische Psychosenkonzepte« gibt
Christian Maier einen sehr instruktiven Überblick von Freuds Arbeit
über «Die Abwehr-Neuropsychosen« von 1894 bis hin zu Wilfred Bion.
Besonders geht er dabei auf die beiden Vorträge in Nürnberg ein,
die sich mit Psychosen befassten: Johann Honegger «Über paranoide
Wahnbildung« und Alphonse Maeder «Zur Psychologie der Paranoiden«.
Wieso Maier Paul Federns Arbeiten zur Psychose nicht erwähnt,
erschließt sich eigentlich nicht.
Michael Lindner nimmt Wilhelm Stekels auf dem Nürnberger Kongress
vorgetragenen «Vorschläge zur Sammelforschung im Gebiete der
Symbolik und typischen Träume« zum Anlass, anhand einer
Fallvignette der Frage nachzugehen, «ob und inwieweit Traumbilder
des Patienten über ihren Zeichencharakter hinausgehen und einen
Symbolgehalt aufweisen«. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen
Fragen, werden jedoch nicht explizit beantwortet. Der Leser muss
versuchen, die Antworten aus dem Fallbeispiel zu generieren.
Abgeschlossen wird der Sammelband mit einem Anhang, der u.a. sowohl
das Tagungsprogramm von 1910, als auch das von 2010 enthält, sowie
die im Korrespondenzblatt der IPV veröffentlichte Zusammenfassung
der Vorträge von 1910 durch Otto Rank.