Rezension zu In Anerkennung der Differenz

www.socialnet.de

Rezension von Prof. Dr. Melanie Plößer

Frauen beraten Frauen, Traude Ebermann, Marion Breiter (Hrsg.): In Anerkennung der Differenz. Feministische Beratung und Psychotherapie. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2010.

Thema
Eine der großen Leistungen feministischer Beratung und Therapie besteht darin, deutlich zu machen, dass Probleme und Belastungen von Frauen kein Ausdruck individueller Störungen und Defizite sind, sondern immer auch erst durch machtvolle (Geschlechter-)Verhältnisse hervorgerufen und bedingt werden. Der Einsicht folgend, dass »das Private politisch ist« geht es feministischer Therapie und Beratung deshalb um die Kritik an der Vernachlässigung und Individualisierung weiblicher Lebenslagen in psychosozialer Theorie und Praxis. Schließlich führe eine Ausblendung der Geschlechterdifferenz – so der nach wie vor gültige Tenor – Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen von Frauen und Mädchen fort. »Anerkennung der Geschlechterdifferenz« ist deshalb auch die Leitmaxime, mit der sich die feministische Beratung und Therapie für eine Erforschung geschlechtsspezifischer Ursachen von Problemlagen und für die Entwicklung feministischer Therapie- und Beratungskonzepte einsetzt. »In Anerkennung der Differenz« lautet auch der Titel des von Traude Ebermann, Julia Fritz, Karin Macke und Bettina Zehetner herausgegebenen Sammelbandes, der sich zum Ziel setzt, einen Einblick in den aktuellen Stand feministischer Beratung und Therapie zu geben und dabei eindrucksvoll belegt, wie notwendig und bedeutsam eine die Geschlechterdifferenz erkennende und anerkennende Beratung und Therapie ist.

Herausgeberinnen
Die vier Herausgeberinnen sind Mitarbeiterinnen der ersten österreichischen Frauenberatungsstelle »Frauen beraten Frauen« in Wien, die im Jahr 2010 ihr dreißigjähriges Jubiläum feierte. Dieses Jubiläum nahmen die engagierten Mitarbeiterinnen zum Anlass »ein Buch aus der feministischen Praxis für die feministische Praxis herauszugeben« (S. 10). Dabei wollen die Herausgeberinnen an das von Helga Bilden herausgegebene »Therapiehandbuch« anknüpfen und den Stand feministischer Beratung und Therapie 20 Jahre nach dessen Erscheinen vorstellen. Neben den Herausgeberinnen selber kommen langjährige Praktikerinnen und Theoretikerinnen feministischer Beratung und Therapie in Fachaufsätzen sowie in Form von Dialogen und Gesprächsrunden zu Wort. Gelungen gerahmt werden die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven verfassten Beiträge durch Gedichte der österreichischen Autorin Elfriede Gerstl und einen Text der bekannten Autorin und Regisseurin Marlene Streeruwitz.

Entstehungshintergrund
»Was verstehen wir heute unter frauenspezifischer oder gar feministischer Beratung? (…) Welche Prinzipien und Qualitätskriterien zeichnen eine so genannte feministische Beratung und Therapie gleichermaßen aus? Wo wird eine feministische Haltung sichtbar und wie wirkt sie?« (S. 10). Diese von Traude Ebermann und Bettina Zehetner in der Einleitung formulierten Fragen bilden den Hintergrund für die unterschiedlichen Beiträge des Sammelbandes. Dabei zielen die Herausgeberinnen darauf ab, den Status Quo aktueller feministischer Beratung und Therapie sichtbar zu machen sowie die breitere Öffentlichkeit von der Bedeutsamkeit einer gendersensiblen Arbeit zu überzeugen. Zugleich geht es ihnen darum, die Protagonistinnen zurückblicken und einen Ausblick wagen zu lassen. Letzterer findet Ausdruck in einer »Vision 2040« im Rahmen derer die Autorinnen im Anschluss an ihre jeweiligen Artikel eine feministische Zukunftsperspektive entwerfen.

Inhalt
Antworten auf die Frage nach den zentralen Positionen und Entwicklungen feministischer Politik gibt das von Margot Scherl geführte Interview mit Sabine Scheffler und Christina Thürmer-Rohr. In dialogischer Form werden dabei die zentralen Ausgangsprämissen und Entwicklungen feministischer Theorie und Praxis gelungen entfaltet.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der erste Teil des Sammelbandes den Merkmalen, den Errungenschaften und Themenfeldern feministischer Beratung und Therapie. So führt Sabine Scheffler pointiert in zentrale Maximen und Ansätze feministischer Psychotherapie und Beratung ein. Daran anschließend widmet sich Ruth Großmaß der Frage nach der Aufgabe von Beratung im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und diskutiert überzeugend die Herausforderungen und Impulse, die durch die dekonstruktiven Ansätze der Genderforschung für die feministische Praxis gegeben werden. In den drei folgenden Aufsätzen werden thematische Schwerpunkte feministischer Beratung mit Rückgriff auf Fallvignetten vorgestellt und diskutiert: die Beratung von Frauen, die von Gewalt betroffen sind (Agnes Büchele), Entwicklungen und Postulate der Frauengesundheitsberatung (Sylvia Groth und Felicé Gall) sowie Vorgehensweisen in der feministischen Trennungs- und Scheidungsberatung (Bettina Zehetner). Auf alte und neue Formen der Beratungsgestaltung gehen anschließend der Aufsatz von Bettina Zehetner zu den Möglichkeiten einer feministischen Online-Beratung und der Aufsatz von Marion Breiter zur Bedeutung sozialer Netzwerke in der feministischen Beratung ein.

In einem zweiten Zugang widmet sich der Band den Positionen und Selbstverständnissen feministischer Psychotherapie. Diese werden allerdings nicht übergreifend dargelegt. Vielmehr setzen sich die Therapeutinnen, die in diesem Teil zu Wort kommen, kritisch mit den zumeist »geschlechterblinden« Ansätzen unterschiedlicher Therapieschulen auseinander. So zeigt Brigitte Schigl auf, wie die integrative Gestalttherapie nach Perls aus feministischer Perspektive kritisch beleuchtet und auch weiterentwickelt werden kann. Dass und wie die Katathyme Imaginative Psychotherapie durch den Einsatz alternativer Symbole feministisch-kritisch ergänzt werden kann, um so den Belangen und Bedürfnissen von Frauen Rechnung tragen zu können, ist Thema des anschließenden Beitrags von Traude Ebermann. Weitere Therapieschulen, die kritisch hinterfragt und auf anregende Weise weiterentwickelt werden, sind die psychoanalytische Schule unter besondere Berücksichtigung der Übertragungsprozesse zwischen Therapeutin und Klientin durch Anna Kollreuter, die systemische Paartherapie (Sabine Kirschenhofer) und die Personenzentrierten Psychotherapie nach Rogers, deren besondere Bedeutung für die feministische Beratungsarbeit durch Marietta Winkler herausgestellt wird.
Und dem Obertitel »Weibliche Identität im sozialen Zusammenhang« geht die Philosophin Alice Pechriggl in einem anschließenden Schritt aus einer psychoanalytischen Perspektive der Veränderlichkeit von Geschlechtsidentitäten nach, während Regina Trotz die Geschichte der Frauenbewegung als Gruppenentwicklungsprozess fokussiert und diskutiert.

In einem abschließenden Zugang werden von den vier Herausgeberinnen des Sammelbandes die Positionen eines Expertinnengesprächs, das im Jahr 2009 auf Initiative der Frauenberatungsstelle mit feministischen Beraterinnen und Therapeutinnen durchgeführt wurde, je individuell aufbereitet und die jeweils bedeutsamen Aussagen zu eigenen Reflexionen verflochten. Mit einem eindrucksvollen Essay von Marianne Streeruwitz, in dem sie dafür plädiert, dass Frauen ihre eigenen Erzählungen führen und tauschen können, endet der Sammelband.

Diskussion
Feministisch beraten und therapieren heißt eine gesellschaftskritische Perspektive einzunehmen, heißt bestehende Machtverhältnisse auf struktureller und institutioneller Ebene und in der sozialen Praxis kritisch zu hinterfragen, heißt bestehende Therapiekonzepte und Methoden gegen den Strich zu bürsten, heißt Handlungsfähigkeit zu ermöglichen und solidarisch zu sein. Diese Einsichten verstehen die Beiträge des Sammelbandes »In Anerkennung der Differenz« überzeugend zu vermitteln. Insbesondere durch den Bezug auf die Fallvignetten wird deutlich, dass die Anerkennung der Geschlechterdifferenz in Beratungs- und Therapiekontexten einen wichtigen Unterschied macht. Ohne diese (an-)erkennende Perspektive – das wird den LeserInnen klar – werden wesentliche Strukturen, die die Deutungen und Wahrnehmungen wie auch die Handlungsstrategien der Subjekte (und zwar der Klientinnen wie auch der Beraterinnen und Therapeutinnen) leiten und auch behindern können, nicht erkannt. Zugleich wird deutlich, dass sich die Methoden und Vorgehensweisen feministisch orientierter psychosozialer Arbeit als ebenso elaboriert wie vielfältig darstellen.
Dem Sammelband gelingt es damit den eigenen Anspruch einzulösen nämlich ein breiteres Publikum für die Bedeutung einer geschlechtersensiblen Arbeit zu überzeugen. Darüber hinaus wird deutlich, inwiefern die in der feministischen Therapie und Beratung entwickelten Fragen, Perspektiven und Haltungen insgesamt für die Beratungs- und Therapiearbeit von Bedeutung sind und sogar bereits in diese eingeflossen sind: Die Infragestellung der Hierarchien zwischen BeraterIn und KlientIn, die Berücksichtigung von Ungleichheitsverhältnissen, die Ermöglichung eigener Erzählungen und Handlungsfähigkeit – all dies sind Aspekte, die für die feministische Praxis thematisiert und bearbeitet wurden, dabei aber gleichzeitig auch auf grundlegende Fragen, Probleme und Themen psychosozialer Arbeit verweisen.

Etwas schade ist, dass sich der Band nicht durchgängig als Einführungsband in die feministische Beratung und Therapie eignet. Während in den Aufsätzen von Ruth Großmaß und Sabine Scheffler jeweils noch ein Überblick über die zentralen Entwicklungen feministischer Beratung und Therapie gegeben wird, erweisen sich andere Beiträge doch als recht voraussetzungsreich, indem sie entweder eine/n bereits feministisch informierte/n oder eine/n in den jeweiligen Therapieschulen kundige/n LeserIn ansprechen. Zudem spielen mit der Geschlechterdifferenz verknüpfte, weitere Differenzlinien (Klasse, Sexualität, Migration usw.) und damit einhergehende Machtverhältnisse wie beispielsweise Armut, Rassismus, Heteronormativität oder Behinderung nur eine marginale bis gar keine Rolle. Das ist insofern schade, weil die Erweiterung der Perspektive hin auf die Vielfalt von Differenzen und ihrer Verwobenheit mittlerweile auch als Qualitätsmerkmal feministischer Theorie und Praxis verstanden werden kann. Auch bestehende Differenzen innerhalb der feministischen Positionen werden vielfach nur angedeutet oder als Generationendifferenz oder fehlende Politisierung jüngerer Frauen verhandelt.

Fazit
Dem von »Frauen beraten Frauen« herausgegebenen Sammelband gelingt es auf inhaltlich beeindruckende Weise, die Erfolge und Errungenschaften einer anerkennenden Perspektive auf die Geschlechterdifferenz in Beratung und Therapie deutlich zu machen. Die unterschiedlichen Beiträge liefern überzeugende Anhaltspunkte dafür, wie sich feministische Beratung und Therapie entwickelt haben und wie sich die feministische Perspektive in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und auf unterschiedliche Therapieschulen auswirken kann. Allein: Der Ausblick auf neuere Entwicklungen hätte gar nicht auf das Jahr 2040 verschoben werden müssen. Ansätze und VertreterInnen, die die Anerkennung der Differenzen im Plural wie auch queere, rassismuskritische und postfeministische Positionen profilieren, sind längst in der feministischer Theorie und Praxis angekommen und hätten als solche auch sichtbarer gemacht und stärker diskutiert werden können.

Mein Fazit: Ein Buch, das eindrucksvoll und perspektivenreich für die Notwendigkeit der Anerkennung der Differenz in Beratung und Therapie sensibilisiert, den Verweis auf die Notwendigkeit der Anerkennung und Reflexion der Differenzen im Plural aber leider etwas aufschiebt. Vielleicht wäre das ja ein schöner Aufhänger eines sicher ebenso lesenswerten Nachfolgebandes.

www.socialnet.de

zurück zum Titel