Rezension zu Ein Junge namens Sue

Transgenderradio (Alex Radio)

Rezension von Andrea Bronsterin

Wortbeitrag in Transgenderradio vom 19. Februar und 4. März 2012

Biographische Operationen

Das Leben der weitaus meisten Trans*menschen kann an Hand der vorher/nachher-Differenz beschrieben werden. In autobiographischen, belletristischen und wissenschaftlichen Texten ist von einem großen Unbehagen im biologischen Geburtsgeschlecht die Rede, von einem tief sitzenden Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper und der befreienden Wirkung eines Coming-Outs. Die Paradoxie des trans* Erlebens kulminiert in der Überzeugung, »immer schon« das Geschlecht gewesen zu sein, das mit der Transition erst angestrebt wird. Zur bleibenden Aufgabe der trans* Menschen gehört es, das Leben im abgelehnten Geschlecht in die Identität zu integrieren. Diesen biographischen Operationen widmet sich die Autorin Alexandra Köbele, die mit fünf im klassischen Sinn transsexuellen Menschen Interviews geführt hat. Ihre Arbeit ist unter dem Titel »Ein Junge namens Sue. Transsexuelle erfinden ihr Leben« Ende 2011 im renommierten Psychosozial-Verlag in Gießen erschienen.

Alexandra Köbele arbeitet als Psychologin und Theaterpädagogin und ist darüber hinaus Mitglied im Orgateam der Trans*tagung München. Die über mehrere Stunden gehenden Interviews paraphrasiert sie anhand elementarer Aussagen zu Körperlichkeit, Sexualität, Partnerschaft, Kleidung, Familie und Beruf. Dabei möchte sie den Auswirkungen von trans* auf das individuelle Leben auf die Spur kommen; auf Aspekte, die sich gravierend geändert haben, konstant geblieben sind und künftig kommen können. Die Ergebnisse ihrer Nacherzählungen sind fünf anrührende Lebensläufe unter dem Fokus trans* und Geschlecht. Köbele wirkt leicht irritiert, da niemand der fünf Interviewten die eigene Geschichte vor dem Hintergrund der patriarchalen Gesellschaft reflektiert, die eigene Geschlechtlichkeit vielmehr als etwas Privates begreifen will. Zusätzlich erhebt Köbele leise den vertrauten Vorwurf an Trans*menschen, mangels ausgeprägten politischen Bewusstseins mit aller Macht in genau ein Geschlecht wachsen zu wollen und damit die Mann/Frau-Dualität zu bestätigen, anstatt für eine Auflösung rigider geschlechtlicher Normen einzutreten.

Beim Lesen des Textes stellt sich ein ums andere Mal die Frage, für welche Zielgruppe dieses Buch gedacht ist? Für Trans*menschen wohl kaum, da sie die geschilderten Lebensläufe in ähnlicher Weise kennen. Ein Handbuch zum Thema ist es auch nicht, da konkrete Informationen zu Gesetzeslage, medizinisch Möglichem und psychologischer Unterstützung nur verstreut angeboten werden. Unbedarfte Studierende der Sozialwissenschaften mögen einen ersten Eindruck transidenter Lebensweisen bekommen; repräsentativ ist die Studie ob des geringen Umfangs der Stichprobe allerdings nicht, zumal sich alle Interviewten innerhalb der etablierten Mann/Frau-Dualität verorten - zum ausdrücklichen Bedauern der Autorin. Offen bleibt schließlich, an welche Fragen in der Diskussion über trans*, queer und gender dieses Buch anschließt. Es fehlt ein theoretischer Rahmen, der das erhobene empirische Material ordnet und interpretierbar macht. Die Autorin bringt ihrer Klientel eine beachtliche Empathie entgegen, lässt es aber mitunter an einer gebotenen Distanz fehlen. Immer wieder schimmert im Text die stille Erleichterung durch, nicht selbst »so« zu sein. Trans* scheint für Köbele erklärungsbedürftig; die Abweichung dient vor allem dazu, der Mehrheit ihre Normalität zu garantieren (Michel Foucault).

Erstaunlich ist die streckenweise ungelenke Arbeitsweise: So werden Zitate aus der Literatur mit hochgestellten Ziffern belegt, die aber nicht wie in akademischen Texten üblich auf fortlaufende Fußnoten mit bibliographischen Angaben verweisen, sondern auf den jeweiligen Titel in der Literaturliste im Anhang. Das dem Buch den Titel schenkende Zitat von Johnny Cash, »A boy named Sue« wird gar nicht erst als solches kenntlich gemacht. Die Autorin verwendet konsequent den Unterstrich des gender gap (Freund_innen), ohne diesen zu erklären oder gar auf die Quelle (Steffen Kitty Herrmann 2003) zu verweisen. Und leider hat sie kanonische Texte zur Biographieforschung bei Trans*menschen nicht rezipiert (Annette Runte 1996, Volker Weiß 2009). Mehrfach vermengt Köbele indirekte Zitate der Interviewten mit eigenen Reflexionen, sodass nicht immer deutlich ist, welche Stimme gerade zu hören ist. Unterm Strich gewinnt die Leserin den Eindruck des gut Gemeinten, aber auf halbem Wege stehen Gebliebenen; auch weil unklar bleibt, wie Transsexuelle, wie im Untertitel postuliert, ihr Leben denn nun »erfinden«. Das eigentlich Spannende, wie nämlich Menschen, die nicht trans* sind, im Vergleich zu jenen mit den alltäglichen Anforderungen und Zumutungen der Geschlechtsdarstellung klarkommen, ob nun entspannter, affirmativer oder glaubwürdiger, wird im Buch nur gestreift. Angesichts dieser verpassten Chance bleibt die simple Frage: So where is the beef?

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