Rezension zu Versuch über die moderne Seele Chinas
Psychologie Heute, März 2012
Rezension von Martina Bölck
Kulturimport oder Befreiungsangebot?
Westliche Psychotherapie hat sich in China etabliert. Zwei Bücher
zeigen, wie deutsche Fachleute maßgeblich zu dieser Entwicklung
beigetragen haben.
Kurz nach Maos Tod 1976 geht die junge deutsche Psychologin
Margarete Haaß-Wiesegart nach China mit der idealistischen
Vorstellung, dort eine menschlichere Psychiatrie zu finden. Aus
persönlichen Kontakten mit chinesischen Kollegen entsteht Jahre
später, 1988, das erste deutsch-chinesische Symposium für
Psychotherapie in Kunming (Südwestchina) – eine Pioniertat für alle
Beteiligten. Deutsche Psychotherapeuten aus drei Fachrichtungen
(Familientherapie, Verhaltenstherapie und Psychoanalyse) haben sich
unentgeltlich für das Projekt gewinnen lassen. Zur
Wissensvermittlung wählt man die in China völlig unübliche Form des
Workshops. Die »ungeheure Ignoranz« der deutschen Lehrenden
gegenüber möglichen interkulturellen Hemmnissen erweist sich in
diesem Fall als Erfolgsfaktor: »Was in den Workshops geschah, war
lebendig, es sprudelte wie eine Quelle«, äußert eine ehemalige
Teilnehmerin. Es kommt zu nächtelangen Diskussionen. Konflikte
zwischen den einzelnen Schulen, wie sie in Deutschland an der
Tagesordnung sind, werden zurückgestellt, das gemeinsame Abenteuer
verbindet.
Nach zwei weiteren Symposien 1990 und 1994 entsteht das Bedürfnis
nach einem langfristigen Ausbildungsprogramm. Die
Deutsch-Chinesische Akademie für Psychotherapie wird gegründet, es
ist die eigentliche Geburtsstunde der »Zhong De Ban«, der
Chinesisch-Deutschen Klasse. Die Akademie bietet dreijährige
Lehrgänge in drei Therapierichtungen an, der erste Durchgang
beginnt 1997. Aus einer persönlichen Initiative ist eine
Organisation geworden, deren »Einfluss auf die Entwicklung der
Psychotherapie in China kaum hoch genug eingeschätzt werden
[kann]«. Viele der ehemaligen Ausbildungsteilnehmer besetzen heute
maßgebliche Stellen. Wie es dazu kam, welche gesellschaftlichen und
politischen Voraussetzungen und Veränderungen eine Rolle spielten,
welche Institutionen eingebunden oder umgangen werden mussten, wie
das Ganze finanziert wurde, welche spontan getroffenen
Entscheidungen sich als Glücksfall erwiesen und welche kulturellen
Unterschiede zu berücksichtigen waren, davon handelt das Buch
»›Zhong De Ban‹ oder: Wie die Psychotherapie nach China kam«. Trotz
der Fülle an Details, die eher für Insider von Interesse sein
dürften, gelingt es dem Autorenteam über weite Strecken, die Leser
an der Spannung und Dynamik dieses Prozesses teilhaben zu lassen.
Dazu tragen neben Auszügen aus Therapiesitzungen vor allem die
Interviews mit deutschen und chinesischen Beteiligten des Projekts
bei, die von ihrer Neugier und Begeisterung, aber auch von
interkulturellen Problemen und persönlichen Enttäuschungen
erzählen.
Ein persönliches Resümee ist auch das Buch »Versuch über die
moderne Seele Chinas« der Psychoanalytikerin Antje Haag. Sie war
1988 in Kunming dabei, gehörte zum Lehrpersonal der »Zhong De Ban«
und engagierte sich insgesamt 20 Jahre als Lehrtherapeutin in
China. Ihr Buch verbindet theoretische Überlegungen mit eigenen
Erfahrungen und Beispielen aus dem beruflichen Alltag. Dabei bewegt
sie die Frage, ob es möglich ist, »eine Theorie über die
menschliche Psyche, die so fest und eindeutig in der westlichen
Lebenswelt verwurzelt ist, in eine uns so fremde Lebenswelt zu
transplantieren«.
China sei von einer konfuzianisch-kollektivistischen
Gesellschaftsordnung geprägt, der Einzelne in ein hierarchisches
Beziehungsnetz gegenseitiger Abhängigkeiten eingebunden, in dem die
Grenzen des Ichs verschwimmen. Die Aufrechterhaltung der sozialen
Harmonie sei das wichtigste Ziel, dem sich die Wünsche des
Einzelnen unterzuordnen hätten. Während im Westen psychische Reife
eng mit Autonomie verbunden werde, zeige sie sich in Ostasien durch
Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Aufgaben und Situationen.
Damit verbunden sei indirektes Kommunikationsverhalten,
Konfliktvermeidung und die Fähigkeit, vermeintlich Unvereinbares
nebeneinander stehenzulassen. Auch Schamgefühl und die Angst vor
Gesichtsverlust erklären sich in Asien aus der Bedeutung des
sozialen Netzes für den Einzelnen.
Auf dieser Grundlage beschreibt Haag zwei zentrale Themen für die
psychische Situation im heutigen China: die traumatischen
Erfahrungen der Revolutionszeit, vor allem während der
Kulturrevolution, die immer noch kaum aufgearbeitet sind, und die
rasanten Umwälzungen seit den 1980er Jahren, die nicht ohne
Auswirkungen auf die Psyche des Einzelnen blieben.
Doch ist die am (westlichen) Individuum orientierte Psychoanalyse
das geeignete Mittel, diese Probleme zu bewältigen? Haag bietet
keine fertigen Antworten, das ist die Stärke ihres Buchs. Sie
formuliert vorsichtig, vermutet, zweifelt, stellt Fragen. Man spürt
ihren aufrichtigen Wunsch, das Fremde zu verstehen und nicht
abzuwerten, dabei ist sie sich jedoch ihrer »kulturellen
Selbstbefangenheit« bewusst. »Diese Fremdheit nahm paradoxerweise
mit den Erfahrungen, die ich dort machte, zu.« Gleichzeitig
entwickeln sich für sie aus der Begegnung Fragen an die eigene
Kultur. »Verlieren wir nicht in unserer modernen Idealisierung von
Autonomie auch die Fähigkeit, abhängig zu sein, und damit etwas,
das auch zur psychischen Gesundheit gehört?«
Haag plädiert für einen intensiven interkulturellen Austausch,
nicht zuletzt um über die Einseitigkeit beider Perspektiven, die
entweder das Individuum oder die Gemeinschaft in den Mittelpunkt
stellen, hinauszugelangen. Die Psychoanalyse »wird sich den
Gegebenheiten der unterschiedlichen Kulturen anpassen müssen, wenn
sie nicht erstarren will«. Die Frage, ob westliche Therapiekonzepte
zu China passen, wird in »Zhong De Ban« pragmatischer beantwortet:
»Mit der zunehmenden Verwestlichung der chinesischen Gesellschaft
werden offenbar auch die Patienten passender für westliche
Therapiemethoden.«