Rezension zu Kinderheim Baumgarten
Zeitschrift für Sozialpädagogik, 10. Jg. 2012, Heft 1
Rezension von Prof. Dr. Michael Winkler
Barth, Daniel: »Kinderheim Baumgarten. Siegfried Bernfelds ›Versuch
mit neuer Erziehung‹ aus psychoanalytischer und soziologischer
Sicht«,
Gießen: psychosozial Verlag 2010
Zu den erstaunlichen Phänomenen der Erziehungswissenschaft und der
Sozialpädagogik gehört, dass Siegfried Bernfeld für das 20.
Jahrhundert als der Klassiker schlechthin zu gelten hat. Ingrid
Lohmann, Ritzi und Horn, auch andere Untersuchungen zu
pädagogischen Klassikern haben das auf unterschiedlichen Wegen
mehrfach bestätigt. Bernfeld wird an erster Stelle genannt, wenn
die wichtigsten Autoren, Theoretiker oder schreibenden Praktiker
aufgezählt werden, mit ihm befassen sich sogar die (längst raren)
Lehrveranstaltungen, welche sich mit Texten auseinandersetzen.
Erstaunen muss dieser Rang aus mehreren Gründen. Zum einen war
Bernfelds Ansehen keineswegs sehr groß, weder unter den
Reformpädagogen, denen er heute zugerechnet wird, noch unter den
Vertretern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Aus heutiger
Sicht lassen sich ihre Vorbehalte sogar nachvollziehen, zu sehr war
ihm die Macht jener Triebstrukturen bewusst, die zwar sublimiert
als pädagogischer Eros erschienen, ohne jedoch wirklich in ihrer
Bedeutung erkannt zu werden. Dokumentiert ist jedenfalls, wie
Eduard Spranger dem noch recht jungen Bernfeld die Nutzung von
Räumen der Berliner Universität untersagte, zu Lehraufträgen kam es
schon gar nicht. Bernfeld galt als Marxist, Psychoanalytiker und
war Jude, für große Teile des akademischen Betriebs gab es nichts
Schlimmeres. Hätten die pädagogischen Zeitgenossen gelesen, was er
geschrieben hat, wären sie wohl endgültig erstarrt. Denn die
verehrten Erzpädagogen, Fröbel oder der heilige Pestalutz kommen
bei ihm nicht gut weg, genauer: die Heiligungsakte, mit welchen
Klassiker der Pädagogik ordentlich immunisiert wurden, fanden
seinen Spott ebenso wie die Versuche, durch Erziehung für den
Fortschritt der Menschen sorgen zu wollen. Zwar stand Bernfeld
selbst einer solchen Ambition ursprünglich gar nicht abgeneigt
gegenüber und verlor die Möglichkeit einer sozialistischen
Erziehungskritik keineswegs aus den Augen. Dennoch plädierte er für
Nüchternheit wobei sein strenges Plädoyer für Rationalität und
Wissenschaft sich im Kern als Verteidigung eines eher
positivistischen und sozialtechnologischen Denkens lesen lässt.
Verdächtig macht ihn jedenfalls, wie er den Pädagogen gegenüber
allem idealisierenden Überschwang eine Tatbestandsgesinnung
abverlangt und von den Tatsachen spricht, für deren Beschreibung
und Analyse er ein theoretisches Modell entwickelt, das zumindest
eine Erklärungsfunktion hat, die in das professionelle Handeln von
Pädagogen eingeht. (Es wäre übrigens spannend, der Frage
nachzugehen, ob Bernfeld nicht sogar durch die Debatten im Wiener
Kreis beeinflusst wurde, die dank der Caféhauskultur weit in die
intellektuelle Öffentlichkeit getragen wurden; der Zug
physikalistischen und sprachlogischen Denkens, der den Positivismus
auszeichnet, dann Hoffnungen in eine Sozialtechnologie verbreitet,
wie die Beispiele des »linken« Otto Neurath und später das Karl
Raimund Poppers zeigten, der wenigstens zum äußeren Wiener Kreis
gerechnet wird.)
Später geriet Bernfeld als Emigrant zunächst in Vergessenheit und
wurde erst durch die 68er, die Kinderladenbewegung und durch die
radikale Kritik an der herrschenden Erziehungspraxis sowie ihrer
Legitimationsfiguren wieder entdeckt; nebenbei: eine Kritik, die
sich im Nachhinein bestätigt hat und heute gegen¬über den Vorwürfen
ideologischer Motiviertheit rehabilitiert ist. Bernfeld stand für
marxistische Theorie und für die Psychoanalyse, die zu diesem
Zeitpunkt in Europa und insbesondere im deutschsprachigen Raum
ebenfalls ein Mauerblümchendasein fristete, in den USA hingegen in
einem technischen, sogar gesellschaftsaffirmativen Verständnis
weiter entwickelt worden war (vgl. Zaretzky 2009). Dieser
Rezeptionskontext ließ ihn allerdings für die
geisteswissenschaftliche Pädagogik erneut als kontaminiert
erscheinen. So ist es kein Zufall, dass sein »Sisyphos« 1967 im
Suhrkamp Verlag erschien, dem man Nähe zur Pädagogik nicht
nachsagen konnte (und kann). Die dreibändige Ausgabe von Schriften
Bernfelds, die Lutz von Werder und Reinhart Wolff unter dem etwas
irreführenden Titel »Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse«
herausgegeben haben, war durch den Verlagsort diskreditiert; das
konnte nicht einmal der Nachdruck in der Materialien genannten
Reihe des Ullsteinverlags heilen, die dann noch in der
Textzusammenstellung geändert worden war, was ordentliche
bibliographische Angaben zum Hasard werden ließ und lässt. Die von
Ulrich Hermann geplante große Ausgabe blieb ein Torso, seit kurzem
erst sind einige Bände im Psychosozial-Verlag angekündigt, aber
noch nicht veröffentlicht.
Kurz und gut: in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive lässt sich
nicht so einfach erklären, warum Bernfeld zum Klassiker der Zunft
geworden ist. Befürchten muss man sogar, dass er in diesen Rang
erhoben wurde, weil ihm das Schicksal widerfuhr, das den Klassiker
par excellence auszeichnet: Man hat ihn nicht wirklich gelesen.
Pädagogen schielen ja auf Praxis und Reform, gegenüber Büchern
kultivieren sie den Affekt, mit dem sie sich zu Beginn des 20.
Jahrhunderts auf den Weg zur Modernisierungskraft gemacht haben.
Der Verdacht der Nicht-Lektüre trifft sogar die von ihm geprägte
Standarddefinition von Erziehung, die heute zwar zum Prüfungswissen
selbst angehender Lehrer zählt, aber nur selten in ihren
Implikationen bedacht wird: »Die Erziehung ist danach die Summe der
Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache«
(Bernfeld 1967, S. 51). Diese Bestimmung erweist sich bei genauer
Lektüre nämlich als ziemlich vertrackt; es verblüfft sogar, wie
Bernfeld unter Bezug auf diese für einen sozialwissenschaftlichen
oder soziologisch inspirierten Zugang in Anspruch genommen wird.
Bernfeld hält nämlich nachdrücklich fest, dass es sich bei
Erziehung um einen Tatbestand ganz eigener Art handelt: Erziehung
lässt sich nicht, wie das verbreitete Missverständnis lautet, aus
der Gesellschaftsstruktur ableiten, sie ist kein soziologisches
Epiphänomen. Sie hat vielmehr eine eigene Logik, in der sie erkannt
und begriffen werden, der man praktisch folgen muss, mit der sie
gegenüber manchen an sie gerichteten Erwartungen resistent wird- im
Guten wie im Schlechten.. Hinzu kommt - noch provozierender für die
Mehrzahl sozialwissenschaftlich denkender Pädagogen: Die
Besonderheit des Tatbestandes Erziehung ergibt sich daraus, dass
zwei Voraussetzungen interagieren und den Erziehungssachverhalt
konstituieren, nämlich »die biologische und die soziale«,
Voraussetzung, die ihrerseits durch das gerahmt werden, was man die
Unhintergehbarkeit der Generationendifferenz nennen könnte:
»Kindheit in einer Erwachsenengesellschaft verlaufend, das ist die
Voraussetzung für Erziehung«. Wer über Erziehung redet, muss also
über Natur, über Biologie, über Evolution nachdenken, darüber, wie
die natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz in die Erziehung
eingehen, die mit der Funktion eines »Wagenhebers« den Rückschritt
der menschlichen Spezies verhindert, realisiert in
Kooperationsverhältnissen und mit einer Zeigestruktur - wie
inzwischen weniger die Allgemeine Pädagogik, sondern die
Evolutionsbiologie zeigt (vgl. Tomasello 2002, 2009). Bernfeld
steht dem ziemlich nahe.
Noch mal: Bernfeld gilt als der Klassiker schlechthin, doch bleibt
die Forschungslage zu ihm ziemlich übersichtlich; viele Materialien
zählen zu den gehüteten Schätzen, vieles ist aber schlicht und
einfach noch nicht erforscht. Insofern darf man die Arbeit von
Daniel Barth als einen Meilenstein bezeichnen, in mancher Hinsicht
verdient sie sogar das Prädikat einer Wissenschaftssensation. Barth
rekonstruiert, analysiert und interpretiert zwar die kurze Zeit des
»Versuchs mit neuer Erziehung«, den Bernfeld in Wien mit dem
Kinderheim Baumgarten von Oktober 1919 bis April 1920 unternommen
hat. Sein Buch aber verhandelt in großer Differenziertheit doch den
ganzen pädagogischen Bernfeld. Vor allem: Barth ist weniger an der
Lebensgeschichte Bernfelds interessiert, obwohl seine Arbeit
Einblick sowohl in das rote Wien wie insbesondere in die Geschichte
und Gesellschaft des jüdischen Wiens gibt. Barth verfolgt vielmehr
ein systematisches Interesse, um die entscheidenden Grundannahmen
und Implikationen der (sozial-)pädagogischen Theorie Bernfelds zu
rekonstruieren. Dabei gibt er sich selbst vorsichtig und spricht
davon, eine psychoanalytische und soziologische Perspektive auf das
Werk zu wählen. Doch gibt es wenig Zweifel daran, dass das Buch von
nun (und vermutlich für längere Zeit) den Forschungsstand zu
Siegfried Bernfeld repräsentieren wird.
Der Versuch mit dem Kinderheim Baumgarten bildet eine
Schlüsselerfahrung in der pädagogischen Biographie Bernfelds. Was
in den Baracken im Wiener Stadtteil Penzing-Baumgarten (heute 14.
Wiener Gemeindebezirk: Penzing) geschah und von Bernfeld in seinem
Bericht festgehalten wurde, führte zu zwei Einsichten: Einmal
musste der politisch hoffnungsvolle, von Utopismus bewegte Bernfeld
erkennen, dass und wie einerseits soziale Verhältnisse, Macht und
Herrschaftsstrukturen das pädagogische Geschäft begrenzen und sogar
unmöglich werden lassen; zum anderen aber trat zugleich die
Erziehungstatsache hervor. Der pädagogische Tatbestand gab sich als
solcher in der Brechung durch die gesellschaftliche Widrigkeiten zu
erkennen. Nebenbei: diese Erkenntnisbedeutung des Scheiterns
pädagogischer Ambition wird nicht selten übersehen und oft gegen
die pädagogischen Experimente eingewandt, welche doch zumeist
gescheitert sind. Gewiss: verstetigen haben sie sich nicht lassen.
Aber im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Experimenten, welche
in ihrem Erfolg erinnert werden, macht der Misserfolg strukturell
entscheidende Einsichten zugänglich, die für professionelles
pädagogisches Handeln darin wichtig werden, weil Grenzen sichtbar
werden. So verarbeitet Bernfeld seine Erfahrungen im Kinderheim
Baumgarten dann kritisch im Sisyphos, einerseits als eine Abrechung
mit den (gesellschaftsreformerisch) ambitionierten Pädagogen (und
damit mit seinen eigenen Hoffnungen und Erwartungen), andererseits
als eine strenge Analyse des Erziehungssachverhalts und in einer
Theorie, die als Synthese der verfügbaren Einsichten in die
wichtigsten Dimensionen des Erziehungsgeschehens gelten darf.
Barth gliedert sein Buch in fünf Kapitel. Wie es sich gehört setzt
er - in seinem als Einleitung gestalteten ersten Kapitel - mit
einer Untersuchung des Forschungsstandes ein, die zugleich das
Vorurteil widerlegt, nach welchem der Baumgartentext intensiv
bearbeitet worden sei. Gegenüber vorschnellen pädagogischen
Vereinnahmungen macht Barth als sein eigenes Erkenntnisinteresse
geltend, den Bericht soziologisch und psychoanalytisch lesen zu
wollen (S. 41) - paradoxerweise führt eben dieser Zugang dazu, dass
ihm am Ende ein Beitrag zur sozialpädagogischen Theorie gelingt.
Bemerkenswert ist allerdings, wie Barth seine Methode expliziert,
geben sich theoriegeschichtlich angelegte Untersuchungen hier doch
meist eher zurückhaltend. Barth legt hingegen mit ungewöhnlichem
methodologischen und methodischen Bewusstsein sein Verfahren dar,
er liest und interpretiert die Texte in einem tiefenhermeneutischen
Verfahren, das er bei Alfred Lorenzer gelernt hat. Mit dieser so
explizierten Hermeneutik gelingt es ihm, die gegenüber dem zu
erschließenden und auszulegenden Material andere Seite des Zirkels
zu benennen und selbst wiederum kritischer Prüfung zugänglich zu
machen. Das lässt seine Entdeckungen transparent und
nachvollziehbar werden. Um ein Beispiel zu nennen: Barth
rekonstruiert die Interaktionsstrukturen und Prozesse im Kinderheim
ausdrücklich mit Rückgriff auf Habermas, was nun dazu fuhrt, dass -
etwas emphatisch gesprochen - Sachstrukturen des Pädagogischen
hervortreten, methodisch begründet und durch das gewählte Verfahren
mit geradezu doppelter Evidenz versehen. Die Unsicherheit und
Offenheit des Hermeneutischen tritt zurück zu Gunsten eines
Gegenstandswissens.
Das zweite Kapitel rekonstruiert die realgeschichtliche wie
politische Vorgeschichte des Wiener Versuchs: Bernfeld verfolgt
eine Art ideenpolitische, hegemoniepolitische Strategie, die Barth
mit einem von Hans Hoffmann-Nowotny entlehnten Modell der Steuerung
sozialen Wandels interpretiert. Bernfeld will zu diesem Zeitpunkt
noch mehr als bloße gesellschaftliche Reproduktion und
systemkonforme Veränderung, er zielt auf den Aufbau eines jüdischen
Erziehungswesen, das die Notlage der jüdischen Waisenkinder als
Wirkung sozialer Kräfte erkennt und zugleich die Selbstbestimmung
der Kinder in das Zentrum der pädagogischen Praxis stellt. Die
geplante freie jüdische Schulsiedlung richtet sich auf eine
»umfassende Neuorientierung im Umgang mit den Kriegswaisen« (S.
83), von der er sich eine Leitfunktion versprach - beschränkt
allerdings auf das Judentum, ein generalisierender, etwa auf die
bürgerliche Pädagogik schlechthin bezogener Ansatz lässt sich nicht
erkennen. Barth schließt dieses Kapitel mit einem für das
Verständnis von Bernfeld zentralen Befund, der seine Rede vom
sozialen Tatbestand eigentlich erst verständlich macht: Obwohl
Bernfeld immer wieder den Marxismus für sich reklamiert, ist er in
seinem Denken und seinem Insistieren auf die Tatbestandsgesinnung
wohl durch Emile Durkheim beeinflusst, dessen Regeln der
soziologischen Methode durch seinen Universitätslehrer Wilhelm
Jerusalem zugänglich wurden (vgl. S. 108 f.).
Illustriert mit bislang unbekanntem Bildmaterial rekonstruiert
Barth im dritten Kapitel das »ideale Konzept« einer neuen
Erziehung, wie es Bernfeld ausdrücklich dem Kinderheimexperiment zu
Grunde gelegt hat und in seinem Bericht noch zu erkennen gibt.
Bernfeld geht es um eine »soziale Pädagogik«, welche mit einem
hohen systematischen Anspruch psychologisch begründet ist, zugleich
interaktionstheoretische und gesellschaftstheoretische Überlegungen
aufnimmt. Im Kern steht dabei die Spannung zwischen dem Willen des
Kindes und dem des Lehrers, die in einer Form von
Verständigungsorientierung aufgelöst werden soll, um so einer
postkonventionellen Moral zum Durchbruch zu verhelfen (S. 127), was
letztlich scheitert. Bernfeld entdeckt dabei nicht nur das Problem
der Erziehbarkeit, sondern begreift dank seiner psychoanalytischen
Erkenntnis die für dieses entscheidende »Grundstruktur eines
Vergesellschaftungsmechanismus« (S. 173).
Das vierte Kapitel ragt systematisch heraus, weil es die
Untersuchungen nun in der realen Theorie der Sozialpädagogik
zuspitzt, die sich der Voraussetzungen vergewissert, wie sie von
den Kindern in den Versuch mitgebracht wurden. Bernfeld fasst
angesichts des politischen Drucks und unter dem Eindruck des
Problems der Erziehbarkeit die Geschehnisse zunehmend nüchterner.
Das fünfte Kapitel nimmt darauf Bezug, wobei Barth nun eine
soziologische Perspektive wählt, die streng genommen Institutionen-
und Professionstheorie verbindet, dies aber als eine Art
Metareflexion der Pädagogik präsentiert.
Keineswegs darf man nun Barths Buch allein als eine Studie zu
Bernfelds »Baumgarten« lesen, obwohl sie als solche schon
verdienstvoll wäre. Barth gelingt weit mehr, nämlich eine am
Kinderheim Baumgarten exemplifizierte Theorie der Sozialpädagogik,
was übrigens noch einmal die Qualität von Bernfelds Bericht selbst
hervortreten lässt und ihn zugleich in die Nähe der großen
Darstellungen sozialpädagogischer Praxis rückt, wie sie von
Pestalozzi mit dem Stanser Brief, von Makarenko mit dem
Pädagogischem Poem geschrieben wurden. Faktisch verlässt nämlich
die Untersuchung die klassische Form der pädagogischen
Theoriebildung, in welcher doch immer noch ein Überschwang des
Textuellen zu erkennen blieb; man sprach über sprachliche Produkte,
mehr oder weniger über literarische Zeugnisse, eher philologisch,
denn sachbezogen. Es trifft schon zu: die Tatbestandsgesinnung hat
bislang gefehlt, man musste allemal streng dafür plädieren, dass es
in den Darstellungen um solche einer sozialen Wirklichkeit geht.
Hier nun, vermutlich durch den explizit verdeutlichten methodischen
Zugang wird die Wirklichkeit der Sozialpädagogik sichtbar: Denn
fasst man sozialpädagogisches Handeln als Sachverhalt, dann zeigt
sich dieser strukturell auf drei Ebenen in ein komplexes Feld von
Transformationen eingebunden, das zwischen Gesellschaft, genauer
zwischen sozialem Wandel, Kultur und subjektiver Entwicklung
konstituiert ist. Die erste Ebene wäre die einer politischen
Aktivität, bei der es darum geht, gesellschaftliche Veränderung
durch den Versuch voranzutreiben, die hegemonial wirkenden
kulturellen Deutungsmuster zu beeinflussen, welche ihrerseits die
Sinnstrukturen der Akteure bestimmen. Bernfeld selbst wollte hier
weder mit einem naiven Materialismus noch mit einem ebenfalls
naiven Idealismus operieren, wie er für das Verhältnis von
Pädagogik und Politik bis heute durchaus verbreitet ist. Das
Geschäft ist eben nicht so einfach, wie die Spannungen bei ihm
zwischen der Einsicht in den sozial konservativen, reproduktiv
funktionellen Charakter von Pädagogik einerseits und dem
verhaltenen Optimismus einer sozialistischen Erziehungskritik
zeigen, die übrigens als Kritik der Pädagogen an den
gesellschaftlichen Verhältnissen, nicht aber als Versuch einer
durch Pädagogik bewirkten Reform des Sozialen zu lesen ist. Auf
einer zweiten Ebene vollzieht sich die Organisation des
pädagogischen Tatbestands, was Bernfeld mit dem Begriff der
Instituetik zu fassen versuchte – wobei Bernfeld sich allerdings
von nahezu allen einschlägigen Versuchen einer radikalen,
kollektiven Erziehung unterscheidet: Gleich ob wir es mit
Pestalozzi oder Makarenko zu tun haben, regelmäßig wird ein
pädagogischer Heros stilisiert, der als einsamer Held agiert und
überleben muss. Anders als diese sieht Bernfeld im Heim Baumgarten
die Interaktion der Erzieher untereinander als ein wesentliches
Moment des Erziehungsgeschehens an. Auf einer dritten Ebene
identifiziert Barth nun als »ideales Konzept« die Mikrologik des
Geschehens am sozialpädagogischen Ort. Sie ist zu begreifen als
eine reale Parallelisierung von gesellschaftlicher sowie kulturelle
Entwicklung und Ontogenese, welche zunächst die konkrete Wahrheit
des Erziehungstatbestands als Transformator sozialer Ordnung
ausmacht, in dieser Parallelisierung, so die von Bernfeld
herangezogene psychoanalytische Einsicht, entsteht die reale
Erziehbarkeit gleichsam als Summe der unterschiedlichen Formen
sozialer Ordnung und individueller Affektregulierung.
Wiederum ist systematische Relevanz festzuhalten. Barth kommt
nämlich in der Rekonstruktion des Bernfeldschen Berichts dem nahe,
was als Bildsamkeit benannt, aber eben doch nicht differenziert
begriffen wurde. Faktisch geht es um eine Erziehung vor der
Erziehung. Sozialpädagogik hat dann die Aufgabe, die subjektive,
durch die natürliche Triebstruktur gegebene Welt und die soziale
sowie kulturelle Welt zumindest dann so »komplementär« zu
verknüpfen, dass Erziehung möglich wird, wenn dies nicht gleichsam
von selbst geschieht. So gesehen muss also der Erziehungstatbestand
geschaffen werden, muss – um an Durkheim zu erinnern – dem fait
social, der doch eigentlich schon immer geschehenden socialisation
eine planmäßig gestaltete, methodische Sozialisation zur Seite oder
voraus gestellt werden. Sozialpädagogik muss also jene strukturelle
Deprivation aufheben, die Bernfeld als Tantalussituation
analysiert. Sie ist in dieser Hinsicht auf eine gewissermaßen
außer- und zumindest vorpädagogische Radikalität verwiesen, auf
Arbeit an den tiefliegenden Fundamenten des Sozialen. Eine solche
Arbeit stellt sich im Heim als eine Selbsterzeugung des Menschen,
durch die sie ihre selbst gesellschaftlich erzeugte Asozialität
überwinden und darin erziehbar werden.
Ist eine solche, vom realen Konzept der Erziehung verlangte
Radikalität überhaupt möglich? Barth diskutiert diese Möglichkeit
soziologisch am Verhältnis zwischen Verwaltung und Erziehern. Die
Befunde stimmen eher skeptisch. Eine wichtige Funktion kommt der
Schule zu, mit der Bernfeld aber hadert. Hier ist er – wenigstens
im Bericht über Baumgarten – zu sehr Reformpädagoge und dann
ernüchterter Soziologe, um den pädagogischen Kern von Schule,
nämlich Unterricht zu begreifen; dem nähert er sich erst im
Sisyphos an, wenn er die Rationalität der Didaktik begreift.
Freilich wird ihm auch dort noch nicht so ganz klar, was Unterricht
in der Schule ausmacht, nämlich die Verknüpfung der durch eine
Institution gegebenen sozialen Organisation mit einer pragmatischen
Zeigestruktur, welche den Blick über gegebene Verhältnisse hinaus
lenken kann.
Man darf hier die Besprechung abbrechen, weil man andernfalls in
eine weiter führende Debatte hinein gerät, welche die durch Barth
entzifferten Erkenntnisse hinter sich lässt. Das wäre jedoch
Aufgabe einer Forschung, die an einen nun erreichten und
gesicherten Stand anknüpfen kann, um über diesen hinaus zu gehen.
Dass dies möglich wird durch das Buch, macht seine dann doch fast
atemberaubende Qualität aus: Barths Buch stellt auf eine
faszinierende Weise die (sozial-)pädagogische Theoriebildung und
die Theorie selbst auf eine nachdrückliche Art vom Kopf auf die
Füße – es könnte nun weiter gehen in der sozialpädagogischen
Forschung, wenn sie sich nur ernsthaft darauf einlassen würde.
Literatur:
Bernfeld, S: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am
Main 1973
Durkheim, E.: Education et sociologie. Presses Universitaire de
France 1973
Tomasello, M.: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens.
Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002
Tomasello, M.; Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009
Zaretzky, E.: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse.
München 2009