Rezension zu Unaushaltbarkeit
Psychoanalyse im Widerspruch 2/2011
Rezension von Moritz Senarclens de Grancy
Psychoanalyse im Widerspruch, 23. Jahrgang, 2011 Heft 46, S.
125–127
Moritz Senarclens de Grancy
Hermann Beland: Unaushaltbarkeit. Psychoanalytische Aufsätze II.
Zu Theorie, Klinik und Gesellschaft. Gießen 2011
Nach Die Angst vor Denken und Tun (2008) legt der international
renommierte Psychoanalytiker Hermann Beland mit Unaushaltbarkeit
den zweiten Auswahlband mit Aufsätzen und Vorträgen aus seiner
langjährigen psychoanalytischen Arbeit vor. Die 22 Beiträge,
unterteilt in die Abschnitte Theorie, Klinik und Gesellschaft,
stellen Bezüge zu therapeutischen, kulturgeschichtlichen als auch
sozialpolitischen Aspekten psychoanalytischen Forschens her und
machen die Lektüre dieses Buches zu einem anregenden Erlebnis.
Anknüpfend an den ersten Band setzt Beland in Unaushaltbarkeit
seinen Versuch über eine semiotische Theorie der Psyche fort. Ein
Verständnis des psychischen Geschehens ist hier gemeint, welches
Zeichen- und Symbolverknüpfungen in den Vordergrund der
Betrachtung stellt. So präsentiert Beland im ersten Abschnitt des
Buches psychoanalytische Überlegungen zu der Frage nach den
Strukturen unseres psychischen Systems, die sich für Beland vor
allem im Gebrauch der Sprache erforschen lassen. Sprache sei
hiernach als ein umfassendes psychosomatisches Geschehen
psychogenen Primats zu verstehen, deren Symbolisierungen (Worte,
Grammatik) von Generation zu Generation über das affektive
Verstehen der Mutter an das Kind herangetragen werden. Treibende
Kraft sind hierbei die Triebe, aus denen sich die Psyche »Schicht
für Schicht selber« bildet, indem sie das herrschende semiotische,
d. h. insbesondere das sprachliche Zeichensystem in ihrem Sinne
verwendet. Für das Scheitern resp. Gelingen dieses
Bildungsprozesses seien maßgeblich Ängste und
Befriedigungserlebnisse sowie deren Dauer verantwortlich. Beland
bezieht sich in seinen Ausführungen umfassend auf die Werke
Wilfred R. Bions in der psychoanalytischen Tradition nach Melanie
Klein und Donald W. Winnicott, die wertvolle Beiträge für die
Weiterentwicklung der Psychoanalyse nach Freud geleistet haben.
Bion analysierte psychotische Phänomene und gewann daraus
grundlegende Erkenntnisse über Entstehung und Formen des Denkens
sowie die Grundvoraussetzungen menschlicher Kommunikation. Bions
Container-Contained-Modell basiert auf der klinischen Erfahrung,
daß unerträgliche Ereignisse leichter mit Hilfe einer nahen
Bezugsperson, prototypisch der Mutter, verarbeitet werden können,
indem das Erfahrene von dieser aufgenommen und gemildert wird.
Während Beland weithin als erfahrener Kliniker gilt, nimmt er in
seinen Aufsätzen auch umfassend Bezug auf geistes- und
kulturwissenschaftliche Gegenstandsbereiche und Disziplinen. Dies
gilt auch für den zweiten Abschnitt des Buches »Zur Klinik«, in
dem etwa Goethes Ballade vom »Erlkönig« der Veranschaulichung
psychischer Agonie durch Nichtverstehen dient: »Siehst, Vater, du
den Erlkönig nicht?« – Beland geht in dieser Untersuchung dem
Genre der Rätselfrage nach und identifiziert die Frageform,
insbesondere in der Variante ihrer Verneinung, als Indiz eines
paradoxen Zustands aus gleichzeitigem Wissen und Nichtwissen:
»Fragen, die mit Negationen formuliert werden, sind Erinnerungen an
Wissen.« Doch das Nichtverstehen, so Beland, ist weitgehend
selbstverschuldet. Weil die Antwort noch nicht gewußt werden darf,
versagen Verstehen und Vernunft ihre Dienste, bis die scheinbar
drohenden Gefahren in Folge der Realitätsverweigerung aus eigener
Kraft nicht mehr abgewendet werden können.
Doch auch das antike Drama um Sophokles’ König Ödipus bietet
immer noch reichlich Material für theoretische Weiterentwicklungen
in der Psychoanalyse. Während Freud den Ödipuskomplex zunächst
im Beziehungsdreieck Vater-Mutter-Sohn verankerte, gingen spätere
Analytiker zu einem strukturellen Verständnis dieses Begriffs
über, wonach es um die Folgen geht, die sich aus dem Hinzutreten
eines Dritten oder auch von etwas Drittem in eine Zweierbeziehung
ergeben. Beland zeigt nun, wie im gegenwärtigen psychoanalytischen
Verständnis Bions Theorie des Denkens ödipal fortgeschrieben
wird, insofern im Prozess des Container/Contained immer ein Drittes
erzeugt wird, das neutral, destruktiv oder konstruktiv sein kann.
Die Kernfrage lautet demnach, welche Wirkungen sich aus
Beziehungsgeschehnissen ergeben können: keine, zerstörerische
oder entwicklungsfördernde. Das Theorem der Ödipalität wird
dabei als universelles und ubiquitäres Konflikt- und
Beziehungsmuster verstanden, das tendenziell auf jeder
Entwicklungsstufe neu durchgearbeitet werden muß.
Der dritte Abschnitt Zur Gesellschaft enthält Arbeiten zu
Zusammenhängen zwischen individuellen und kollektiven Motiven und
Phänomenen. In einem psychoanalytischen Versuch über das Werk von
Annette von Droste-Hülshoff thematisiert Beland die Folgen von
Trennungs- und Angsterlebnissen in Kindheit und Erziehung und deren
Verarbeitung in der künstlerischen Symbolbildung. Die Fähigkeit
zur Symbolbildung bzw. zum Symbolverstehen stellt für Beland eine
elementare Erkenntnisfunktion dar, die Neugeborene im Wege des
mütterlichen Mitfühlens und Linderns emotionaler Urerfahrungen
erlernen. Dabei handelt es sich nicht etwa nur um einen
individuellen Prozess zum Erlernen von Zeichen, sondern ebenso um
Gruppenerfahrungen, in deren Bewältigung eine Nation oder eine
Gemeinschaft erst ihr Gesicht erhält.
Beland untersucht Sophokles’ Ödipus-Trilogie und die politischen
Verhältnisse der griechischen Polis unter Anwendung von Bions
Container-Contained-Modell: Bereits das antike Athen des
90-jährigen Sophokles’ mußte ein Wissen um den Segen gehabt haben,
der »von der Anerkennung der Vergangenheit in Form von kollektiver
Selbsterkenntnis« ausgeht. Erkennbar geht es dem Autor darum, das
ödipale Konfliktmuster in individuellen als auch kollektiven
Zusammenhängen aufzuspüren und auf den Punkt zu bringen, es etwa
als »Ziel eines ungetrennten Liebesbesitzes im weitesten Sinne« zu
paraphrasieren. Dessen Realisierung wird freilich nur allzu oft von
der Wirklichkeit vereitelt, was der Mensch ohne
»Frustrationstoleranz«, um einen weiteren Schlüsselbegriff des
Buchs zu zitieren, nicht aushalten könnte.
In einem vom Autor bewußt persönlich gehaltenen Schlussbeitrag
untersucht Beland die Bedingungen, unter denen sich ein Kollektiv
von Unrecht und Schuld befreien kann. Als Mitbegründer der
Nazareth-Gruppenkonferenz zur Annäherung deutscher und
israelischer Psychoanalytiker setzt sich Beland persönlich für
ein Stück Wiedergutmachung der deutschen Verbrechen an den Juden
im Nationalsozialismus ein. Bereits in den Studien über Hysterie
definierte Freud Trauer als eine »Reproduktionsarbeit«, bei der
Verlusterfahrungen »in Muße« wieder und wieder vergegenwärtigt
werden müssen. Doch um welchen Verlust der an Verlusten so reichen
deutschen Geschichte als Folge des Nazi-Regimes sollte zuerst
getrauert werden? Für Beland steht die Trauer um den Verlust der
eigenen Bonitas, der »normalguten Identität« der Deutschen, an
vorderster Stelle, was die Bewußtmachung der mörderischen Exzesse
der Deutschen unter Hitler einschließt. Desweiteren müsse es darum
gehen, im Sinne einer kollektiven Mentalitätsgeschichte die
historischen Bedingungen besser verstehen zu lernen, die zum
wahnhaften Antisemistismus geführt hatten. Der dritte Aspekt der
deutschen Trauerarbeit bestehe darin, die kollektive deutsche
Mentalitätsstruktur zu durchdringen und besonders dort zu
erfassen, wo sie zum psychotischen Ausagieren im Durchsetzen und
Tolerieren von zerstörerischen Entwicklungen neigt.
Insgesamt verdeutlicht Belands Unaushaltbarkeit den immensen
Erkenntniszuwachs, den die Psychoanalyse der Säuglings- und
Kleinkinderforschung verdankt, wie sie von Melanie Klein und Anna
Freud begründet und von Bion, Winnicott und anderen Analytikern
fortgeführt wurde. Belands Buch macht sich dadurch verdient, daß
er diese Erkenntnisse anhand illustrativer Untersuchungen in Bezug
zu Kultur, Alltag und Klinik setzen kann.