Rezension zu Reifungsprozesse und Entwicklungsaufgaben im Lebenszyklus
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Rezension von Prof. Dr. Hermann Staats
Rolf Göppel, Margret Dörr u.a. (Hrsg.): Reifungsprozesse und
Entwicklungsaufgaben im Lebenszyklus
Herausgeberinnen und Herausgeber
Margret Dörr und Rolf Göppel sind Vorsitzende der Kommission
»Psychoanalytische Pädagogik« in der Deutschen Gesellschaft für
Erziehungswissenschaft, Antonia Funder ist Assistentin im
Arbeitsbereich psychoanalytische Pädagogik der Universität Wien.
Die Herausgeber lassen in ihr Buch Erfahrungen aus der Allgemeinen
Pädagogik, der Biografiearbeit, Sozialpädagogik, Frühpädagogik und
der Psychoanalyse einfließen. Sie haben dazu eine eindrucksvolle
Reihe von Autorinnen und Autoren gewonnen, die sich vielfach über
Arbeiten mit psychoanalytischem oder gruppenanalytischem
Hintergrund ausgewiesen haben – weiteres dazu unter Inhalt.
Thema
Ein Überblick über die Entwicklungsaufgaben des menschlichen Lebens
ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Autoren strukturieren ihre
Arbeit entlang des Konzepts des »Lebenszyklus« von E. Erikson.
Denken, Fühlen und Erleben in den einzelnen Entwicklungsstufen wird
auf diesem Weg dargestellt und Konflikte, Ängste und Wünsche der
Menschen in den entsprechenden Alters- und Entwicklungsstufen
beschrieben. Dies geschieht aus einer breit und interdisziplinär
verstandenen psychoanalytischen Perspektive.
Aufbau
Das Buch erscheint als 19. Band in der Reihe »Jahrbuch für
Psychoanalytische Pädagogik« mit einem programmatischen Editorial:
Wie sind die spezifischen Probleme und Herausforderungen der
einzelnen Lebensabschnitte heute aus psychoanalytisch-pädagogischer
Perspektive zu begreifen?
Dazu folgen dann neun einzelne, am Lebenszyklus orientierte
Beiträge, die auf im Editorial von der Redaktion gestellte Fragen
eingehen. Dies ist der Hauptteil des Buches.
Das letzte Drittel ist von diesem Thema unabhängig und enthält eine
Literaturumschau zum Thema Migration und Buchbesprechungen. Die
Rezension geht auf diesen letzten Teil nur kurz ein; sie
konzentriert sich auf die im Titel vorgegebene
entwicklungspsychologische Thematik des Hauptteils des Buches.
Inhalt
Ein von der Redaktion verfasstes Editorial verbindet das
Eriksonsche Modell des Lebenszyklus mit aktuellen
gesellschaftlichen Entwicklungen. Die übergreifende Frage des
Buches nach den Besonderheiten der Psychoanalytischen Pädagogik
wird in zahlreiche konkrete Fragen zu Reifungsprozessen und
Entwicklungsaufgaben in der heutigen Zeit aufgeteilt – und der
Leser damit auf die folgenden neun Kapitel verwiesen.
Günther Bittner führt in seinem Beitrag »Das Rätsel der Sphinx.
Oder: psychosoziale vs. naturalistische Paradigmen der
Lebensspanne« Erikson als einen »Stiefsohn der Psychoanalyse« ein.
Er gibt einen historischen Überblick zu Darstellungen der
»Lebensalter«, fasst eigene Forschungen zusammen und stellt auf
eine persönliche Weise seine »Kampfansage an das ›psychosoziale
Paradigma‹«(S. 27) dar. Hier finden sich pointierte Aussagen, z. B.
wenn auf Seite 25 zur Frage der Beteiligung von männlichen
Erziehern in der Frühpädagogik als eine »Naturtatsache« angeführt
wird, »dass kleine Kinder unter der Obhut von Frauen durchweg
besser aufgehoben sind«.
Margit Datler, Wilfried Datler, Maria Fürstaller und Antonia Funder
schließen methodisch konstrastierend mit einer Beobachtungsstudie
zur Eingewöhnung eines 19 Monate alten Jungen in einer Kita an
(»Hinter verschlossenen Türen. Über Eingewöhnungsprozesse von
Kleinkindern in Kindertagesstätten und die Weiterbildung
pädagogischer Teams«). Das anrührende Beispiel für das Verhalten
und Erleben eines Kindes in einer Krippe bietet sehr genaue,
detailreiche Beobachtungen und gut nachvollziehbare
Interpretationen individueller und institutioneller Abwehrprozesse,
die zu einem Verstehen der Arbeit in Krippen beitragen.
Der folgende Beitrag von Annelinde Eggert-Schmid Noerr »Mensch,
ärgere dich nicht, spiele! Psychoanalytische und
psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf das kindliche Spiel«
nimmt ebenfalls konkrete Beobachtungen von Spielszenen auf. Die
Interpretation ist vorrangig auf Freuds Hypothesen zum Kinderspiel
und Arbeiten von Winnicott ausgerichtet, aktuelle Konzepte klingen
an.
Burkhard Müller schreibt zu »Jugend und Adoleszenz in
psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive« und nimmt dabei die
Generationendifferenz in den Blick. Adoleszenz wird hier nicht –
wie sonst häufig – als Ausdruck neuronaler Unordnung verstanden,
sondern in Hinsicht auf ihre gesellschaftliche Funktion und die
damit verbundenen Konflikte untersucht – etwa wenn Erwachsene
»jugendlich« bleiben und Entwicklungsmöglichkeiten Jugendlicher
blockieren. Die »zweite Chance« der Adoleszenz ist so nicht nur ein
Risiko für Jugendliche, sondern auch für ihre Eltern und die
Gesellschaft. Müller beschreibt die Eriksonsche Formulierung der
Entwicklungsaufgabe »Identität versus Identitätsdiffusion«. Eine
als notwendig erachtete Anerkennung der »pädagogischen Ohnmacht«
(S. 78) im Umgang mit dem Jugendalter steht neben dem Hinweis, dass
Jugendliche auf eine Umwelt persönlich bedeutsamer Erwachsener
angewiesen sind – »Es gibt keine unwirksame Elternschaft« (S.
88).
Renate Praza und Kornelia Steinhardt schließen wieder mit einem
beobachtungsnahen Beitrag an – »Adoleszenz und
Mathematikunterricht. Die Bedeutung des Erlebens von Scham und
Stolz für Jugendliche im schulischen Kontext«. Die
Auseinandersetzung mit der als faszinierend und bedrohlich erlebten
Mathematik wird unter dem Aspekt von Stolz und Scham beschrieben.
Was bedeutet es für adoleszente Schüler, hier an Grenzen des
eigenen Verstehens zu kommen? Die beschriebene
entwicklungsfördernde Funktion des Mathematikunterrichts kann Leser
zu weiteren eigenen Überlegungen anregen.
»Das frühe Erwachsenenalter – auf der Suche nach dem ›guten Leben‹«
wird von Rolf Göppel anhand von Filmen und aktuellen Beispielen aus
Zeitschriften untersucht. Zur Frage des Autors – Was trägt zum
Glück bei? – werden Ergebnisse präsentiert, die über das erwartete
hinausgehen. Göppel zitiert als Fazit Fendt, wenn er schreibt,
Glück entstehe aus Bindungen und Engagement (S. 136, Fendt
2009).
Urte Finger-Trescher gibt zu »Eltern. Anmerkungen zu einer
denkwürdigen Lebensform« einen kurzen Überblick der aktuellen
Diskussion. Sie greift heraus, dass eine aktuell zu beobachtende
Idealisierung der Kinder auch ein Verschwinden der Kindheit
bedeute, und weist darauf hin, dass für viele Eltern die eigene
Adoleszenz als eine zentrale Zeit des Erwerbens elterlicher
Kompetenzen gefehlt habe – die intensive schulische Belastung,
wenig Geschwister, Nichten, Neffen und Nachbarskinder wirken sich
auf das Lernen des Umgangs mit kleinen Kindern aus.
»Erwachsene« werden von Margret Dörr unter dem Aspekt der
Einbindung in eine leibliche Entwicklung und ein gesellschaftliches
Unbewusstes diskutiert. Dörr sieht die Elternschaft als einen
zentralen Aspekt des sich »erwachsen« Fühlens und diskutiert
geschlechtsspezifisch unterschiedliche Entwicklungen.
Wilfried Datler und Kathrin Trunkenpolz schreiben dann zu
Trauerarbeit als Bildungsaufgabe im hohen Alter wieder mit Bezug zu
einem konkreten Beobachtungsprotokoll aus einem Pflegeheim.
Ohne Bezug zum Thema Reifungsprozesse und Lebenszyklus enthält das
Buch noch eine Literaturumschau (Julia Stieber, Aleksandra Peric)
zum Erleben von Migration, eine dichte, kommentierende
Übersichtsarbeit mit umfangreicher Literatur.
Diskussion
Die einzelnen Kapitel werden durch den Bezug auf die Entwicklung
des Menschen verbunden. Sie greifen zum großen Thema der
Reifungsprozesse einzelne Aspekte auf. Methodisch sind sie auf
interessante Weise unterschiedlich: Anregende Aufsätze zu
gesellschaftlichen Fragen wechseln sich ab mit detaillierten
Auswertungen konkreter Beobachtungen. Diese Auswahl bildet auch
psychoanalytische Veröffentlichungstraditionen ab. Dabei werden
klassische psychoanalytische Konzepte betont. Aktuelle
entwicklungspsychologische Konzepte klingen an, werden aber oft
wenig deutlich herausgearbeitet (z. B. im Kapitel zum kindlichen
Spiel).
Fazit
Auf eine anregende Weise unsystematisch, gut lesbar und
unvollständig bietet das Buch pointierte, teils deutlich subjektiv
gefärbte Einsichten in eine psychoanalytisch orientierte
Entwicklungspsychologie der Lebensalter. Die im Editorial
aufgeworfenen Fragen werden – natürlich – nicht umfassend
beantwortet. Aber die auf sie zwanglos ausgerichteten Kapitel regen
mit ihren gesellschaftlich und politisch aktuellen Stellungnahmen
zum eigenen Weiterdenken und manchmal auch zum Widerspruch an.
Wer sich also von einer deutlichen Gliederung lösen kann und keinen
Anspruch darauf erhebt, ein entwicklungspsychologisches Lehrbuch zu
erhalten, bekommt eine vielseitig interessante Lektüre.
Angesprochen von dem Buch werden pädagogisch oder psychoanalytisch
interessierte Leser, die sich über Verbindungen ins jeweils andere
Gebiet anregen lassen möchten, sowie Sozialarbeiter,
Psychotherapeuten und Psychoanalytiker mit
entwicklungspsychologischer Neugier.
Rezensent
Prof. Dr. Hermann Staats
Professor für psychoanalytische Entwicklungspsychologie an der
Fachhochschule Potsdam
Zitiervorschlag
Hermann Staats. Rezension vom 02.02.2012 zu: Rolf Göppel, Margret
Dörr, Antonia Funder (Hrsg.): Reifungsprozesse und
Entwicklungsaufgaben im Lebenszyklus. Psychosozial-Verlag (Gießen)
2011. 250 Seiten. ISBN 978-3-8379-2105-2. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/11689.php, Datum des Zugriffs
02.02.2012.
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