Rezension zu Unterrichtskultur

Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 3/2011

Rezension von Helmwart Hierdeis

Heiner Hirblinger (2011): Unterrichtskultur. Bd. 1: Emotionale Erfahrungen und Mentalisierung in schulischen Lernprozessen. Bd. 2: Didaktik als Dramaturgie im symbolischen Raum. Gießen: Psychosozialverlag. Je 447 Seiten.


Seit mehr als zwanzig Jahren publiziert Heiner Hirblinger zu Fragen einer psychoanalytischen Theorie des Unterrichts (u.a. zu den Themen Übertragung-Gegenübertragung im Lehrer-Schüler-Verhältnis, unbewusste Prozesse im Unterricht, emotionale Bildung, Erfahrungsbildung, Mentalisierung, Symbolbildung, Entwicklung des Ich bei Adoleszenten, Unterricht als Setting). Nun legt er unter dem Titel »Unterrichtskultur« eine annähernd 900 Seiten umfassende, zweibändige Systematik vor: eine Art »Summa« der eigenen psychoanalytisch orientierten und reflektierten Praxis im Gymnasium als Lehrer für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie sowie als Betreuer von Referendaren. Die psychoanalytische Ausrichtung erschließt sich fürs erste allerdings nur dem Rezipienten, der entweder Hirblinger als Autor kennt oder der mit den Begriffen »Mentalisierung« und »symbolischer Raum« etwas anzufangen weiß. Ausdrücklich benannt wird sie im Titel nicht.

Da ich ein Unternehmen wie das vorliegende weder dem Umfang noch dem Inhalt nach kenne, frage ich mich, in welches theoretische Umfeld ein solches Opus hineingerät und welche Anschlüsse der Autor selbst von seinem speziellen Zugang aus zu den vorhandenen relevanten Theoriekomplexen herstellt. Zur ersten Frage: Trotz einer annähernd hundertjährigen Theorie- und Praxisgeschichte auch im pädagogischen Feld gehört die Psychoanalyse immer noch nicht zu den »bewährten« Theorien, wenn es um Schule und Unterricht geht. Das hat zum einen mit ihrer Herkunft aus der Therapie und mit ihrer Eigenart als »Deutungstheorie« zu tun, die schlecht zu dem im Schul- und Unterrichtsbereich vorherrschenden quantitativen Paradigma zu passen scheint. (Dabei stünde allein das geradezu erdrückende kasuistische Material der Psychoanalyse einer auch quantitativen Auswertung offen.) Zum andern trifft die Psychoanalyse auf die Skepsis wenn nicht gar Abwehr einer pädagogischen Wissenschaft und Praxis, die weniger auf Deutungen als auf Handlungsorientierungen aus ist und die spürt, dass der Blick aufs Unbewusste, weil er zur Selbstreflexion zwingt, weder vor Forschern noch vor Praktikern Halt macht. In einer so beschaffenen Landschaft muss Hirblingers Entwurf wie ein Solitär wirken. Die Frage, welche Anschlüsse an die vorhandenen Theorien für den Autor selbst wichtig sind, lässt sich anhand der von ihm angegebenen Referenzen beantworten. Sie zeigen, dass er fast die gesamte Schultheorie links liegen lässt, auch die psychoanalytische (mit Ausnahme von Fürstenaus »Psychoanalyse der Schule als Organisation« von 1966). Die Bezüge zur Unterrichtstheorie sind zwar deutlicher zu erkennen, aber die Auswahl ist bildungstheoretisch dominiert. Und obwohl die meisten Fallbeispiele dem Deutschunterricht entstammen, erfolgt die Einbeziehung der einschlägigen fachdidaktischen Literatur nur marginal.

Ein Manko sind diese Einseitigkeiten aber höchstens für Leserinnen und Leser, die »abgeholt« werden wollen, wo sie »stehen« und die sich in ihren theoretischen Annahmen bestätigt oder zumindest ernst genommen fühlen möchten. Sie müssen wie all jene, die beim Gedanken an Schule und Unterricht strukturfunktional denken und in erster Linie verwertbare Lernprozesse im Auge haben, ihre Sichtweise umstellen. Denn für Hirblinger stehen nicht die Interessen der Abnehmer schulischer Bildungsprozesse im Vordergrund; er fragt also nicht danach, was die Schule als Sozialisations- und Qualifikationsinstitution leisten muss, um der Gesellschaft den sozial kompetenten und produktiven Nachwuchs zuführen zu können, sondern er schaut in die entgegengesetzte Richtung: Wer sind die Menschen, mit denen wir es in der Schule zu tun haben? Was brauchen sie für ihre Ich-Entwicklung? Was kann schulisches Lernen dazu beitragen, dass diese Entwicklung gelingt? Welche Rolle spielt der Lehrer dabei? Seine Mitwirkung an Prozessen der Ich-Entwicklung bzw. Selbstbildung ist für Hirblinger der Kern schulischer Bildungsarbeit. In diesem Verständnis sieht er sich in den Spuren der Bildungstheorie seit Wilhelm von Humboldt. Aber das gilt nur für die Intention. Was ihre Umsetzung angeht, verfolgt er theoretisch wie praktisch Wege, die sich die Vertreter der »Menschenbildung« in Allgemeiner Pädagogik und Didaktik nicht haben vorstellen können oder wollen. Diese Wege werden von einem psychoanalytischen Strukturkonzept der Psyche und von psychoanalytischen Entwicklungs- und Beziehungstheorien bestimmt.

Hirblinger unterteilt seine Darstellung in fünf große Abschnitte:
1. »Adoleszente Identifikationsschicksale und die Gegenübertragung des Lehrers«;
2. »Unterrichtsprinzipien und psychische Strukturierung«;
3. »Sprechakte im Unterricht«;
4. »Entwicklung des Selbst — Das Drama der zweiten Individuierung im Unterricht«;
5. »Dramaturgie des Unterrichts — Gestaltungsimpulse und Gestaltungsrahmen«.

Anstelle einer Zusammenfassung versuche ich zu skizzieren, was ich als zentralen Gedankengang des Autors herausgelesen habe. Damit werde ich zwar nicht den zahlreichen philosophischen, psychoanalytischen, historischen und literarischen Verästelungen seiner Argumentation gerecht, aber möglicherweise verhelfe ich dem potenziellen Leser zu einem bündigeren Eindruck: Die Schule bildet einen Rahmen mit impliziten und expliziten Definitionen für den Sinn des Geschehens, für die Angemessenheit von Handlungen und Interaktionen und für die Diskurse darüber. Er garantiert eine gewisse (immer wieder bedrohte) Konformität. Der in dieser strukturellen Vorgabe stattfindende Unterricht kann als Setting verstanden werden, d.h. als Gesamtheit von räumlichen, zeitlichen, sozialen, normativen und organisatorischen Elementen, die einander so zugeordnet sind, dass sie einen beabsichtigten Effekt produzieren. In diesem Gefüge treten Schülerinnen und Schüler in einer großen Altersspanne (im Gymnasium zwischen dem 11. und 19. Lebensjahr) als einzelne und in Gruppen auf. Sie stecken als Adoleszente in einer krisenhaften, sich nur mühsam stabilisierenden psychischen Verfassung, vor allem was ihre Körperlichkeit, ihr Verhältnis zu Eltern und anderen Autoritäten und damit auch was ihre Über-Ich-Abhängigkeit angeht. Die Labilität äußert sich in häufig untauglichen Kompensationsversuchen für innere Leere und Ich-Schwäche und in der Unfähigkeit, sich festzulegen. Die Unsicherheit bedingt Abwehr gegenüber Personen und Erwartungen in Form von behaupteten Eindeutigkeiten, Omnipotenzgebaren, Projektionen, Affektabspaltungen, Flucht in Somatisierungen usw. Mit den Adoleszenten tritt nun der Lehrer in eine Beziehung ein, die mehr ist als der »pädagogische Bezug« geisteswissenschaftlicher Provenienz, nämlich ein Übertragungskommunikat, in dem die hinter den Affekten verborgenen unbewussten Impulse erfahrbar und durch Transformation dem Denken zugänglich gemacht werden (Mentalisierung). Der Lehrer spielt in dieser Beziehung eine vielfache »Rolle«: als Container, der die diffusen Impulse der Schüler empathisch aufnimmt, zu verstehen sucht und zurückspiegelt; als Beziehungsanalytiker, der weiß, dass er an die Bindungserfahrungen der Schüler anknüpfen muss, wenn die Mentalisierungsprozesse gelingen sollen, der die beiderseitigen Übertragungen und Projektionen im Auge hat und zu deuten weiß und der die aktuellen Interaktionsinszenierungen der Schüler als unbewusste Neuauflage früh erworbener Interaktionsmuster verstehen kann (szenisches Verstehen). Schließlich ist der Lehrer der Dramaturg eines Unterrichts, in dessen didaktischem Zentrum die Symbolarbeit steht, also das Bemühen darum, emotionale Erfahrungen in symbolische zu überführen und damit bei den Schülern ein auf symbolische Repräsentanzen hin ausgerichtetes Verhältnis zur Welt zu entwickeln. Aus Platons Menon entnimmt Hirblinger die Kernstücke seiner Symbolisierungsdidaktik: 1. die Herstellung eines Settings, das Raum schafft für die Phantasien der Schüler; 2. die Herausarbeitung des Bedeutenden im Beziehungsprozess durch Hinweisen, Deuten und Mitgestalten — gestützt durch die Analyse der Gegenübertragung des Lehrers; 3. die Schaffung eines Rahmens, in dem die neugefundenen Symbole zur Wirkung kommen, die neuen Orientierungen sich an den früheren abklären können und ein Wissen bilden, das mit dem Selbst des Wissenden durch emotionale Erfahrungen verbunden bleibt. In diesem Ergebnis sieht der Autor das wichtigste Ziel einer psychoanalytischen Schulpädagogik.

Wer die hier hervorgehobenen Begriffe kennt, dem sind auch die wichtigsten theoretischen Anker des Autors bekannt: neben Sigmund Freud v.a. Wilfred R. Bion, Donald W. Winnicott, Peter Blos, Werner Bohleber, Peter Fonagy, Erving Goffman und Alfred Lorenzer. Wer zudem mit den bisherigen Schriften Hirblingers vertraut ist, der weiß, dass für ihn Theoriebildung nur im Zusammenspiel mit der eigenen Praxis erfolgt. Insofern lässt sich sein Opus auch als das Ergebnis einer jahrzehntelangen Handlungsforschung (der Autor gebraucht diesen Terminus nicht) lesen – mit dem Unterschied, dass sich die in vielen Forschungsdokumentationen v.a. der 1980er Jahre noch aufrecht erhaltene Subjekt-Objekt-Trennung bei ihm nicht mehr findet. Sie ist einer radikalen Beobachtung und Infragestellung der eigenen Wirkung im Forschungsfeld gewichen. Das ist vordergründig ein Erbe der Kritischen Theorie. Aber deren Protagonisten haben ja selbst aus den Quellen der Psychoanalyse geschöpft. Für Hirblinger ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er die Prozesse der Mentalisierung, die er bei den Adoleszenten anregt und begleitet, bei sich selbst überprüft. Es gibt für ihn keine Erziehung zur Selbstreflexion ohne eigene analytisch angeleitete Introspektion.

Ersetzt sie den Blick von außen? Zu Handlungsforschungsprozessen gehört(e) – Subjekt hin, Objekt her – stets eine Form kollektiver Evaluierung. Hier evaluiert der Forscher sich selbst. Das macht sein Unternehmen nicht von vorneherein suspekt. Aber möglicherweise hat der Autor es den Skeptikern durch seinen Verzicht auf kritische Begleitung zu leicht gemacht – umso mehr, als er sein Vorgehen nicht methodologisch legitimiert.

Hirblinger weiß, dass ein Unterricht, wie er ihn praktiziert hat und wie er ihn empfiehlt, ein neues Verständnis der Lehrerrolle erfordert. Er deutet es in vier »Dimensionen« an:

»(1) Unterricht ist ein empathischer Prozess – Unterrichtswirklichkeit entfaltet sich durchgängig in einem Kontext, der Bedingungen für Affektregulierung vorgibt, und oszilliert dabei zwischen den Polen Spaltung und Integration. (2) Die Erfahrung des Negativen ist der Testfall für Integration. – Unterrichtswirklichkeit kann dabei die Chance zur offenen Erfahrungsbildung verspielen. (3) Die pädagogische und didaktische Beziehung zwischen Lehrern und Schülern entwickelt sich auf der Grundlage eines intergenerationellen Vertrages. Die Unterrichtswirklichkeit ist, so gesehen, Beziehungswirklichkeit im Spannungsfeld zwischen Arbeitsbündnis und Übertragungsbeziehung. (4) Gestaltungsaufgaben im Unterricht müssen jeweils im Dienst der adoleszenten Strukturbildung stehen und der Entwicklung einer symbolischen Repräsentanzenwelt in dieser Entwicklungsphase dienen.« (I, S. 17)

An zahlreichen Schülertexten wird deutlich, welche Wirkung ein solcher Unterricht hat; dokumentierte Unterrichtsszenen verraten etwas von der Intensität und Schwierigkeit der dahinter liegenden Beziehungsarbeit. Das gilt auch für die Szenen, in denen Hirblinger »seine« Referendare in seine Sichtweisen einführt. Am Anfang aller »Dramaturgie« steht ein stupender Einfallsreichtum des Lehrers hinsichtlich thematischer und literarischer Ausgangssituationen. Was er – mit Bezug auf Herbart, aber psychoanalytisch aufgeladen – als pädagogischen Takt beschreibt, wird besonders dort spürbar, wo er die Schülerinnen und Schüler bei ihren beschwerlichen Versuchen, die ihnen entsprechenden Symbolisierungen zu finden, begleitet und ermutigt. Dass das Setting für diese Mentalisierungsarbeit nicht der Frontalunterricht sein kann, sondern die projektorientierte Lerngruppe sein muss, ist einleuchtend. Die traditionelle Lehrform hätte Hirblinger auch kaum als »Unterrichtskultur« bezeichnet.

Auf ein paar praktische Fragen, die sich mir bei der Lektüre gestellt haben, habe ich keine Antwort gefunden: Wie vereinbart ein Lehrer wie Heiner Hirblinger die Rolle des »Geburtshelfers« mit der des Beurteilenden, und wie kann er seinen Schülern begreiflich machen, dass das »gute Objekt« ihre Symbolisierungsschritte formal bewertet? Bleibt die Förderung von Mentalisierungsprozessen auf bestimmte Unterrichtsfächer beschränkt, vornehmlich auf solche, deren Inhalte für Affekte und Symbolisierung anschlussfähig sind, wie z.B. der Deutschunterricht? Was für ein Verhältnis hat ein Lehrer, dessen Didaktik besondere Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern erzeugt, zu seinen Kolleginnen und Kollegen, die von bildungspolitisch eher geschützten Vorstellungen hinsichtlich Entwicklung und Leistung ausgehen? Wie stellt sich die Schulhierarchie zu einem Lehrer, der von einer »Überich-Fixierung« auf der Seite der Unterrichtenden wie der Unterrichteten spricht und der von der Wissensvermittlung in der Schule sagt, dass »ragout-förmige Wissensbestände der Lehrer (…) durch eine ›Denkgewalt‹ durchgesetzt (werden), mit der sich jedes lebendige geistige Interesse verflüchtigen muss […]« (II, S. 430)? Wie hat schließlich eine Professionalisierung auszusehen, die Lehrer für die Ich-Entwicklung der Adoleszenten sensibilisiert, empathische Haltungen weckt, ihre Containing-Funktionen aushaltbar macht und ihnen beibringt, wie sie ihre eigenen Übertragungen erkennen und modulieren können?

Die beiden Bände können, müssen aber nicht von vorne bis hinten gelesen werden. Wer sich für ersteres entschließt, wird, falls ihm das theoretische Strickmuster unvertraut ist, nicht um das fast hundertseitige »Glossar« herumkommen, das der Autor dem 2. Band angefügt hat — wohl ahnend, dass sich die Terminologie für manche als sperrig erweisen könnte. (Es kann aber auch sein, dass der Leser dort vor neuen theoretischen Hürden landet.) Für andere Rezipienten mag es hilfreich sein, bei einem der zahlreichen Unterrichtsprotokolle zu beginnen und, auf die »Machart« neugierig geworden, nach theoretischen Begründungen dafür zu suchen. Das unterrichts- und schultheoretische Umfeld, von dem ich eingangs gesprochen habe, wird durch Hirblingers Opus nicht so schnell verwandelt werden, die Praxis erst recht nicht. Dafür ist es theoretisch zu komplex. Aber vielleicht genügt es fürs erste, dass Leserinnen und Leser sagen: »Ach, so geht es auch!« und nach Alternativen für ihre gewohnten Denk- und Handlungsweisen zu suchen beginnen.

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