Rezension zu Tinnitus
Top Magazin Bremen 4/2011
Wenn es im Ohr pfeift, zischt und brummt
Volksleiden Tinnitus
Beschrieben wird er manches Mal als ein ungebetener Gast, der
einfach kommt, ohne Vorwarnung, und sich einnistet. Bei vielen
bleibt er nur für kurze Zeit. Oder es vergehen Minuten, Stunden,
Tage. Bleibt er Wochen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er ein
dauerhafter Begleiter wird. Schwere Formen des Tinnitus lassen
Gequälte mitunter verzweifeln. Der Bremer Psychoanalytiker Dr.
Michael Tillmann spricht von sieben Millionen Betroffenen. Einen
Schalter zum Abstellen der nervigen Töne im Ohr hat die Medizin
noch nicht gefunden.
Das am häufigsten vorkommende Geräusch ist nach Angaben der
Deutschen Tinnitus-Liga (DU) ein hoher Pfeifton. Andere hören ein
unangenehmes Zischen. Rauschen, Pochen oder Summen oder einen
vorbeifahrenden Zug. Doch eines haben die Ohrengeräusche gemein:
Sie lassen viele Tinnitus-Patienten einfach nicht mehr zur Ruhe
kommen.
Als Ursachen kommen nach Angaben der DTL beispielsweise
Hörbeeinträchtigungen durch einen Schaden in den Hörbahnen,
Lärmschäden und Drehschwindel in Betracht. Auch der Hörsturz ist
oft von einem Tinnitus begleitet. Die Halswirbelsäule oder der
Zahn-Kiefer-Bereich stehen außerdem in Verdacht, auslösende oder
verstärkende Ursachen zu sein. Daneben gilt vor allem Stress als
Auslöser. Jeder Vierte, so die DTL, hat dieses Ohrgeräusch oder
Ohrensausen schon einmal wahrgenommen. Dabei kann es jeden treffen,
unabhängig von Alter. Beruf und Geschlecht.
Akuter Tinnitus
Tritt ein Ohrgeräusch auf und verschwindet nicht nach kurzer Zeit
wieder, sollte ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt aufgesucht werden. Wer im
Akutfall schnell zum Arzt geht, erhöht seine Heilungschance
deutlich. »Bei rund 70 Prozent der Betroffenen wird der akute
Tinnitus vollständig beseitigt«, so die DTL.
Doch auch wenn der Ungebetene zum Dauergast wird – es lässt sich
mit ihm gut leben lernen. Betroffene, die weniger oder gar nicht
(mehr) leiden, gelingt es, ihre Aufmerksamkeit auf andere
Sinneseindrücke zu lenken. Rat erhalten Betroffene bei der DTL.
Symptom oder Erkrankung?
Während die Deutsche Tinnitus-Liga von einem Symptom spricht, ist
der subjektive Tinnitus für den Bremer Psychoanalytiker Dr. Michael
Tillmann eine Globalisierungserkrankung, im ambulanten Bereich
fehle es an Möglichkeiten zur Behandlung, auch, weil der Tinnitus
in der Psychotherapeutenszene als hartnäckig und resistent gelte,
so Tillmann, der sich seit rund 20 Jahren mit dem »Tinnitus aurium«
beschäftigt.
Viele Betroffene empfinden die Geräusche im Ohr als so bedrohlich,
dass sie nicht mehr wissen, wohin sie sieh wenden sollen. Einige
wollen ihrem Leben ein Ende setzen. »Zur Behandlung wird häufig die
gesamte Bandbreite der Medizin angewendet, von Antiepileptika,
Psychopharmaka, Schmerztabletten bis zu Psychiatrieaufenthalten«,
so Tillmann. Er geht dem Phänomen wissenschaftlich auf den Grund.
In seiner Dissertation »Tinnitus. Gesellschaftliche Dimension.
Psychodynamik. Behandlungskonzepte« im Fachbereich Human- und
Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen verknüpft Tillmann
psychoanalytische Theorie und klinisch-empirische Erfahrungen mit
gesellschafts- und kulturtheoretischen Erkenntnissen. Er stellt die
individuelle Bedeutung des Symptoms sowie ein durch den
Globalisierungsprozess verursachtes gesellschaftliches
Ohnmachtsgefühl in einen neuen Zusammenhang und macht
Entfremdungsprozesse auf zwei Ebenen aus.
Folge der Entsinnlichung
Tillmann zufolge leiden Tinnitus-Patienten in doppelter Hinsicht.
Ein Modernitäts- und Kultursprung sei auf der gesellschaftlichen
Ebene als Auslöser zu sehen: »Globalisierung heißt Entgrenzung und
Entsinnlichung.« Die technologische Revolution mit all seinen
Möglichkeiten bedeute zwar eine weltumspannende, ökonomische
Freiheit. Damit einher gehe aber auch der Verlust an Geborgenheit.
»Tinnitus ist der Ausdruck von Verunsicherung und unbewussten
Ängsten aufgrund des Geborgenheitsverlustes durch Globalisierung.
Uns geht Sinnlichkeit verloren, weil wir mit den Technologien keine
sinnliche Beziehung herstellen können.« Das führe zu Symptomen, die
sich am Ohr manifestieren.
Für die Betroffenen sei ein Tinnitus persönlich Ausdruck eines
inneren Konfliktes, einer seelischen Not, die sich körperlich
vermittelt ausdrückt – eine Botschaft, die zur Kommunikation
auffordere. »Wer nicht fühlen will, muss hören«, habe ein Patient
einmal gesagt. Der Tinnitus ist kein Feind, sondern als kreative
Brücke zu verborgenen Gefühlen zu sehen.
Seit über 200 Jahren konzentriere man sich auf einen
medizinisch-organischen Zugang, so der Wissenschaftler und
Psychologe. Die Erklärung der Ohrgeräusche, verursacht durch
Durchblutungsstörungen sei zwar theoretisch widerlegt, trotzdem
würden Behandlungen darauf ausgerichtet. Die zweite These
konzentriert sich auf einen »Hirndefekt«, so Tillmanns
Formulierung, eine lnformationsübermittlungsstörung im Gehirn.
Mittels Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) bei der mit Hilfe von
Geräten von außen ein Gegenton installiert wird, soll vom
ursprünglichen Geräusch abgelenkt werden. Diese Ansätze sind seiner
Meinung nach falsch. Tillmanns These: Ein Tinnitus habe nichts mit
dem Ohr oder dem Gehirn, sondern mit dem Hören zu tun. »Es ist
etwas unerhört in den Menschen, zu dem man aber einen Zugang finden
kann.«
Weitere Informationen
Hinweise für Betroffene und Interessierte
www tinnitus-liga.de
www psysom.de
Literatur
Tillmann, Michael (2009): Ich, das Geräusch. Ein psychoanalytischer
Ratgeber für Tinnitus-Betroffene. Psychosozial-Verlag. Gießen Circa
12,90 Euro
Gernard Hesse, Helmut Schaaf (2010): Tinnitus: Leiden und Chance.
Profil Verlag. 3. Auflage. Circa 19 Euro.
Tillmann, Michael (2010): Tinnitus – Gesellschaftliche Dimension,
Psychodynamik, Behandlungskonzepte. Psychosozial-Verlag. Gießen
Circa 24,90 Euro