Rezension zu Kleist - Die Entdeckung der narzisstischen Wunde
www.literaturkritik.de Nr. 11, November 2011
Rezension von Christine Kanz
Auf den Spuren eines Gefühlsterroristen
Heinrich von Kleist schrieb viele Briefe. »Viele von ihnen
verwandelten sich in Literatur« – so eine der zahlreichen
Bemerkungen, die in dem empfehlenswerten Doku-Spielfilm »Die Akte
Kleist« gleich zu Anfang fällt. Aus Versatzstücken seiner Briefe
und Texte, Zitaten aus Dokumentationen sowie Interviews über Kleist
mit bekannten Experten haben Torsten Striegnitz, Simone Dobmeier
und Hedwig Schmutte eine Spur ausgelegt, der man folgen kann, wenn
man die letzten Briefe Kleists anlässlich seines 200. Todestags am
21. November 2011 liest. Die Neu-Herausgabe dieser Briefe in der
Brandenburger Historisch-Kritischen Edition bildet dabei eine kaum
zu überbietende Materialvorlage. Während der Lektüre in diesem
schönen Band ergeben sich weitere Montagen und Bilderfolgen im
Kopf, und neue Spuren tauchen auf – ein never ending Zitate- und
Verwirrspiel, das wahrscheinlich auch bis zum 300. Todestag Kleists
Tausende von Kleist-Fans unterhalten wird. »Kleist rockt!«, wie ein
Motto auf dem Heinrich-von-Kleist-Portal lautet.
Es fällt auf, dass fast jeder der Briefe Kleists über Jahre hinweg
von einem anderen Ort aus versendet wurde. Ist das wirklich wieder
nur ein Symptom der ihm so gerne zugewiesenen Ruhelosigkeit, eines
ewigen Getriebenseins? Oder bildet es nicht eher ein weiteres Indiz
in der Beweiskette für ein Doppelleben als Spion? Spione müssen
schließlich immer auf der Flucht sein, sie müssen permanent lügen
und sich stets eine andere Identität zulegen – immer in der Angst,
doch einmal enttarnt zu werden. Die Konsequenz einer Entlarvung als
Spion wäre zu Kleists Zeiten die Todesstrafe gewesen.
Die häufigen Ortwechsel können aber auch der Tatsache geschuldet
sein, dass Kleist in einer furchterregenden Zeit lebte: Nach der
Französischen Revolution herrschte erstmal Chaos im preußischen
Deutschland. Unsicherheit, Angst und Verwirrung beherrschten die
Menschen; und viele Briefe Kleists sprechen genau diese Sprache der
Verunsicherung und der damit zusammenhängenden Gefühle.
Dass er sich in all dem Gefühlswirrwarr doch auf irgendeine Weise
auf seine aufklärerische Erziehung besann, sich vielleicht sogar an
sie wie an einen Strohhalm klammerte, wird vor allem in Kleists
sogenannten »Brautbriefen« von 1800 deutlich. Kleist erweist sich
in diesen Briefen an seine Verlobte tatsächlich, wie Ulrike
Landfester unlängst (in dem erwähnten Doku-Spielfilm) festgestellt
hat, als ein echter Romantiker – ganz im Sinne des Mottos »Dichter
heißen so gerne Schöpfer« (Jürgen Fohrmann). Belehrend statt liebe-
und respektvoll sind seine Briefe an das Wesen, das einmal seine
zukünftige Gattin sein oder präziser: werden soll. Erst gebildet
und im Sinne Kleists geformt und also geworden – so lässt sich
hieraus erahnen – könnte aus dieser ›Eliza Doolittle‹, die im
wahren Leben Wilhelmine Zenge heißt, Frau von Kleist werden.
Wir wissen heute, und zwar nicht zuletzt aufgrund der Briefe
Kleists, dass es dazu nie kam. Wie Prof. Higgins in »My Fair Lady«
blieb er Zeit seines kurzen Lebens Junggeselle. War Kleist ein
Narziss, oder litt er zumindest an einer »narzisstischen Wunde«,
wie uns Wolfgang Schmidbauer in seinem unlängst erschienenen
Kleist-Buch Glauben machen will?
Da wir Kleist nicht persönlich vorladen können, steht es uns nicht
zu, dies abschließend zu beurteilen. Halten wir uns also weiter an
seine Briefe. Als einen »Gefühlsterroristen«, als den ihn Claus
Peymann im Film bezeichnet wissen will, darf man ihn sich wohl
schon eher vorstellen, zumal wenn man Zeilen liest wie die
folgenden aus einem Brief an Marie von Kleist vom 10. November
1811: »Deine Briefe haben mir das Herz zerspalten, meine theuerste
Marie, und wen [sic!] es in meiner Macht gewesen wäre, so versichre
ich Dich, ich würde den Entschluß zu sterben, den ich gefaßt habe
wieder aufgegeben haben. Aber ich schwöre Dir, es ist mir ganz
unmöglich länger zu leben, meine Seele ist so wund, daß mir, ich
mögte fast sagen, wen [sic!] ich die Nase aus dem Fenster stecke,
das Tageslicht wehe thut, das mir darauf schimmert. Das wird
mancher für Krankheit und überspant [sic!] halten; nicht aber Du,
die fähig ist die Welt auch aus andern Standpuncten zu betrachten
als aus dem Deinigen.« Von welchen Affektattacken wurde seine
Cousine wohl überfallen, als sie diese Zeilen lesen musste?
Kleists Texten ist das offenbar reichhaltig vorhandene
›Gefühlswissen‹ deutlich zugute gekommen. Gibt es eine
überzeugendere Beschreibung des Gefühlschaos aus Angst, Hass, Rache
und Liebe, als wir es in einem seiner schönsten Texte, in »Der
Findling« vorfinden? Ja, vielleicht noch im »Käthchen«, im »Prinz
von Homburg« oder in der »Penthesilea«; und später dann, im 20.
Jahrhundert, bei Schriftstellern wie Franz Kafka, Thomas Bernhard
oder Ingeborg Bachmann. »Rasende Gedichte« (Peymann), unzählige
rasante Sätze hat dieser dreimal als Spion verhaftete
»Gefühlsterrorist« geschrieben. Wie eine »Rakete« soll er laut
Peymann in die Ordnungspolitik Goethes hinein »geknallt« sein. Man
kann solche treffenden Worte kontextualisieren und weiterspinnen:
Für den Schriftsteller Rainald Goetz ist der Knall das
Ur-Kennzeichen von Pop-Literatur. Wäre Kleist dementsprechend nicht
länger nur als der Vorläufer der literarischen Moderne, sondern
viel treffender als ein Pop-Literat zu bezeichnen, ein Autor des
Jetzt? Es finden sich viele solche Einordnungen Kleists, an dem
sich die Literaturkritiker und Regisseure nun schon so lange die
Zähne ausbeißen.
Zu Lebzeiten wurde dem begabten Störenfried mit dem kindlichen
Gesicht statt Anerkennung jedoch vor allem Zensur zuteil. Dabei
soll er sein Schreiben tatsächlich als eine Art Wort-Verdienst für
das Vaterland aufgefasst haben. Das Leiden an den »Schwierigkeiten
bei der Censur« und die Verbitterung darüber, keine adäquate
Würdigung als Schriftsteller zu erfahren, sind seinen letzten
Briefen immer deutlicher anzumerken. Sie berichten nicht nur von
der »Zugrundrichtung des Abendblatts«, sondern auch von
»Verachtung« und »Unwillen über die unglaubliche und
unverantwortliche Behandlung«, die ihm »widerfahren« sei (so etwa
im Brief vom ersten Januar 1811 an den Schriftstellerkollegen und
Regierungsrat Friedrich Schulz und im Brief vom 21. Februar 1811 an
den Historiker und Regierungsrat Friedrich von Raumer).
Die im dritten Band der historisch-kritischen Edition enthaltenen
Briefe Kleists schließen die Brandenburger Kleist-Ausgabe ab. Damit
liegt die erhaltene Korrespondenz endlich vollständig vor. Der Band
umfasst mehr als 120 Schreiben von Kleist sowie einige an ihn
gerichtete Briefe. Sie stammen alle aus der Zeit, als sich Kleist
als Schriftsteller in Dresden einen Namen machte und reichen bis
zum Freitod am Kleinen Wannsee in Berlin. Die ersten Briefe ab
September 1907 sind alle nur aus Dresden abgeschickt worden. Der
Anschein, dass hier eine neue Ruhe eintritt, täuscht aber. Bereits
ab Mai 1809 fallen erneut ständige Ortswechsel auf: Töplitz,
Stockerau, Prag, Frankfurt an der Oder, Frankfurt am Main und
Gotha. Hing Kleists hohe Produktivität und Kreativität mit seiner
auffälligen äußeren Mobilität zusammen?
Ab März 1810 schließlich wird doch Berlin der neue Aufenthaltsort.
Ein Ruheort kann er insofern nicht gewesen sein, als Bittbriefe an
Verlage um Geld, Ablehnung, Zurückweisung und Geldnot weiterhin den
Alltag Kleists bestimmten. Doch Berlin wird zumindest der Ort der
letzten Ruhe sein.
Alles oder Nichts – nur im Tod, und zwar im gleichzeitigen Sterben
mit einer geschätzten Person, so glaubte Kleist offenbar, gibt es
nächste Nähe, tiefstes Vertrauen und – endlich! – Anerkennung.
Zweimal, dreimal soll der junge Dichter ihm Nahestehende darum
gebeten haben, sich gemeinsam mit ihm in die ewige Freiheit zu
begeben, seine arme Cousine Marie von Kleist zum Beispiel. Alle
lehnten ab.
Allein sein »guter Vogel«, seine »liebe vergötterte Freundin«, die
krebskranke Mutter eines Sohnes und verheiratete Frau Henriette
Vogel, fand sich ein. Über sie wird er noch einige Tage vor seinem
Tod an Marie von Kleist schreiben, dass er »eine Freundin gefunden
habe, deren Seele wie ein junger Adler fliegt, wie ich noch in
meinem Leben nichts ähnliches gefunden habe; die meine Traurigkeit
als eine höhere, festgewurzelte und unheilbare begreift, und
deshalb, obschon sie Mittel genug in Händen hätte mich hier zu
beglücken mit mir sterben will.« Vater, Mann und Kind verlässt sie
für ihn und mit ihm – eine »unerhörte Lust gewährt« ihm dies.
Liebte sie ihn wirklich? Oder war sie ›nur‹ lebensmüde, weil sie
sich unheilbar krank wähnte? Und: War es wirklich ein frei
gewählter Tod? Oder war es nicht doch Mord? Der ansonsten so
überzeugende Doku-Spielfilm »Die Akte Kleist« lanciert diese
Verschwörungstheorie, die umso absurder scheint, je genauer man die
letzten Briefe Kleists studiert: Alles ist dezidiert vorbereitet,
bis ins kleinste Detail geplant – akribisch, kühl und rational: So
setzt er den Freund Peguillhin als Testamentvollstecker ein, den er
an seinem letzten Tag neben anderen Anweisungen noch darum bittet,
auch seinen »Barbier für den laufenden Monat zu bezahlen, und
bitte, ihm 1 Thl à 1/3 C zu geben, die Sie eingewickelt in den
Kästen der Mad: Vogel finden werden.«
In einem der Abschiedsbriefe an Marie von Kleist heißt es: »Lebe
wohl! Du bist die Allereinzige auf Erden, die ich jenseits wieder
zu sehen wünsche«. Über die Zeit seines Lebens so eng verbundene
Schwester, mit der es am Ende Unstimmigkeiten, aber schließlich
auch wieder eine Versöhnung gab, schreibt Kleist in den nächsten
Zeilen: »Etwa Ulriken? – ja, nein, nein, ja: es soll von ihrem
eignen Gefühl abhangen. Sie hat, dünkt mich, die Kunst nicht
verstanden sich aufzuopfern, ganz für das, was man liebt, in Grund
und Boden zu gehn: das Seligste, was sich auf Erden erdencken
lässt, ja worin der Himmel bestehen muß, wen [sic!] es wahr ist,
daß man darin vergnügt und glücklich ist. Adieu!« (Brief vom 9.
November 1811)
Eine dezidiert ›romantische‹ Todesart wäre es wohl gewesen, den
gemeinsamen Liebestod im Wasser zu vollziehen. Konnte Kleist
schwimmen? Und warum versetzte sich der militärisch erzogene
Dichter mit militärischen Mitteln – einer Pistole – den letzten
Todesstoß? War das wirklich Teil einer wohl kalkulierten
Inszenierung? Und weshalb diese geschlechtsspezifischen zielgenauen
Schuss-Ziele? Der Frau: ins Herz, dem Mann: in den Kopf. Täter: der
Mann, Opfer und schöne Leiche: die Frau. Kleist, der rationale
Mann, entscheidet über Leben und Tod. Der Frau, ganz Herz und
Gefühl, wird ins Herz geschossen. Und warum all das an genau dem
Weg, wo der König regelmäßig vorbeikam? So eine präzise
Regieführung des eigenen Todes kann nicht einfach Zufall sein.
Militär, Regierung, die Öffentlichkeit sind ganz klar die Empfänger
dieser Botschaft. Doch auch nach eingehender Brieflektüre bleiben
viele Fragen offen. Nur Eines ist ganz sicher: Ein »Romantiker« war
Kleist nun wirklich nicht.
Worin liegt nun der Gewinn der historisch-kritischen Neuausgabe der
Briefe Kleists gegenüber etwa der Hanser-Ausgabe, zumal sie
schwerer und teurer ist? Zumindest für
Literaturwissenschaftler/innen sind es folgende Gründe, künftige
Belege aus Kleists Briefen nur noch auf diese Ausgabe zu stützen:
Der in blaues Leinen eingebundene Band im Schuber überzeugt nicht
nur durch die äußere wunderschöne Gestaltung, sondern er zeugt auch
von philologisch zuverlässiger und hochreflektierter Gewissens-,
Hand- und Kleinarbeit. Der Band ist vor allem deshalb so voluminös,
weil die abgedruckten Briefe nochmal jeweils auf der Seite daneben
in der originalen bzw. in zeitgenössischen Kopien erhaltenen
Handschrift nachzulesen sind. Jedem Brief geht dabei eine genaue
Beschreibung des Textzeugen voraus, die unter anderem auch die
Überlieferungsstationen dokumentiert. Der Band wird mit einem
Personen-, Werk- und Ortsregister abgeschlossen.
Das dazu gelieferte rote Bändchen der Brandenburger Kleist-Blätter
(BKB) 20 enthält zu Kleists Biografie ab September 1807 eine
detaillierte Chronik sowie ein Verzeichnis der überlieferten und
erschlossenen Korrespondenz; außerdem Interpretationen und
neuaufgefundene Dokumente. Die im Untertitel als
»Unwissenschaftliche Nachschrift« betitelte, zusammenfassende und
äußerst kritische Dokumentation »Zum Abschluß der Brandenburger
Kleist-Ausgabe« von Roland Reuß wirft einen Rückblick auf die
besonders anfänglich, aber auch später noch unter schwierigen
Bedingungen stattfindende editorische Arbeit an dem Mammutwerk. Sie
spricht vom Widerstand von Kollegen der Germanistik und einer
problematischen Förderpolitik in Deutschland. Das Nachwort ist
persönlich und zugleich bildungspolitisch engagiert. Es wird jeden
vernünftigen (im Sinne von Reuß: »nicht-suizidalen«)
Nachwuchsgermanisten künftig davon abhalten, ein ähnliches
Unterfangen zu beginnen. Roland Reuß hat es offensichtlich
durchgestanden. Vom Ergebnis dürfte die Forschung noch
jahrhundertelang profitieren.
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