Rezension zu Wiener Jazztrio

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Rezension von Stefan Drees

Tomas Böhm: Wiener Jazztrio. Roman

Thema
Der zunächst in Wien angesiedelte Roman erzählt vor dem Hintergrund des aufkeimenden Nationalsozialismus während der 1920er und 1930er Jahre die Geschichte dreier jüdischer Musiker, die trotz völlig unterschiedlicher beruflicher Werdegänge aufgrund ihrer Liebe zum Jazz das Wiener Jazztrio gründen. Hauptperson ist der klassisch ausgebildete Konzertpianist Nathan Menzel, der seine künstlerische Bestimmung jenseits der Welt des akademischen geprägten Musizierens durch eine Psychoanalyse bei Sigmund Freud findet und zudem unter Pseudonym als Kolumnist einer sozialistischen Tageszeitung die Gefahr einer Ausbreitung des Faschismus anprangert, dadurch aber auch die Sicherheit seiner Familie aufs Spiel setzt. Der im ersten Teil des Buches dargestellte, immer größer werdende Spagat zwischen der grenzenlosen, extravagant anmutenden Welt der Jazzmusik und den zunehmenden Bedrohungen des Wiener Alltags gipfelt im sogenannten »Anschluss« Österreichs, der im zweiten Teil mit all seinen Konsequenzen wie Verfolgung, Verhör, Folter, Deportation und Flucht aus der Perspektive unterschiedlicher Personen geschildert wird. Im dritten Teil steht das Wiener Jazztrio während seiner Zeit im Londoner Exil im Mittelpunkt, der vierte schließlich befasst sich, vor allem in den USA angesiedelt, mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die von den Versuchen geprägt ist, den Verlust von Angehörigen zu bewältigen, aber auch das eigene Handeln zu rechtfertigen.

Der Autor
Tomas Böhm lebt in Stockholm, ist praktizierender Psychoanalytiker, Hobby-Jazzmusiker sowie Autor zahlreicher psychoanalytischer Fachbücher und Romane. In Schweden ist er zudem für seine Kolumnen über Beziehungsprobleme bekannt. Böhms ungarisch-österreichische Familie floh vor den Nationalsozialisten nach Schweden.

Inhalt
Warum Tomas Böhm die literarische Gestaltungsart eines Romans wählt, wird deutlich, wenn man sich die von ihm dargebotene Geschichte und ihre einzelnen Handlungsstränge sowie die Vielfalt der darin behandelten Themen genauer ansieht. Seine Erzählstrategie ermöglicht es ihm, anhand der Protagonisten und deren Freundes- wie Bekanntenkreis mehrere zentrale kulturgeschichtliche Stränge – die Rezeption des Jazz in den Zwischenkriegsjahren und seine spätere Entwicklung, die gesellschaftlichen Auswirkungen des psychoanalytischen Denkens, das Wirken der österreichischen sozialistischen Bewegung in ihren Aktionen gegen den Faschismus, das jüdische Alltagsleben in Wien sowie die Situation von Emigranten in der Situation des Exils – miteinander zu kombinieren. Auf diese Weise verwebt er Kunst und Kulturleben, geistesgeschichtliche Umbrüche, soziale Realität und politische Zeitgeschichte zu einem Geflecht aus miteinander in Beziehung stehenden und aufeinander wirkenden Faktoren, denen die Personen je nach Beruf oder gesellschaftlicher Stellung auf unterschiedliche Weise ausgesetzt sind. Dadurch erreicht er vor allem zweierlei:

1.) Anhand der Romanfiguren, die durch freundschaftliche oder verwandtschaftliche Bande verbunden sind, gelingt dem Autor die Darstellung unterschiedlicher Typologien menschlichen Verhaltens im Angesicht des Faschismus. Diese umfasst den gesellschaftlich Stellung beziehenden Künstler ebenso wie den zaudernden Zeitgenossen, der die politischen Entwicklungen erst einmal in Ruhe abwarten möchte, den Zionisten, der sein Heil darin sieht, nach Palästina auszuwandern, oder den Mitläufer und Denunzianten, der sich auf die Seite der Machthaber schlägt, um seinen Vorteil daraus zu ziehen. Böhm zeigt aber zudem im weiteren Verlauf des Romans auch, wie unterschiedlich die Protagonisten auf ihr Schicksal in der Emigration reagieren.
2.) Indem Böhm seine Hauptpersonen Hilfe und Rat in der Psychoanalyse suchen lässt und dazu Sitzungen bei Sigmund Freud und Wilhelm Reich skizziert, führt er den Leser in einige wichtige Facetten und Argumentationsmuster der psychoanalytischen Praxis ein. Als Motiv ist dies vor allem bedeutsam, weil es dem Protagonisten Nathan als Impuls für die Aufnahme seiner kreativen Aktivitäten als Jazzpianist und Kolumnist dient, ihm also den Weg zu einer erfüllten Kunstausübung bereitet; im weiteren Verlauf des Buches fungiert es aber auch als Hintergrund für die Fragen nach der Schuld des Individuums am Schicksal der Angehörigen und nach Rache an den Tätern.

Ein besonderer Kunstgriff Böhms liegt darin, dass er die gesamte Geschichte im Rückblick erzählen lässt und sie als Erinnerungen Nathan Menzels darstellt, der kurz vor seinem Tod einem jungen Journalisten von seinem Leben in Wien und im Exil berichtet. Dieses Verfahren schützt den Autor letzten Endes auch vor Kritik von wissenschaftlicher Seite, die sich gegebenenfalls an bestimmten Fakten entzünden könnte.

Diskussion
Die Lokalisierung der Handlung im Umfeld zahlreicher realer Persönlichkeiten verleiht dem Roman unbestreitbar eine gewisse Aura von Authentizität. Diese färbt auf die Romanfiguren ab, die durch ihr Zusammentreffen mit Psychoanalytikern wie Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Ernest Jones, vor allem aber auch durch ihre Interaktion mit bedeutenden Jazzmusikern wie dem Saxophonisten Coleman Hawkins oder dem Trompeter Dizzy Gillespie, an erzählerischem Profil gewinnen. Dass sich der Autor generell eines eher sachlichen, in berichtendem Tonfall gehaltenen und gelegentlich auch etwas trocken wirkenden Schreibstils bedient, mag darauf zurückzuführen sein, dass er trotz der fiktiven Ereignisse um Nathan Menzel und seine Freunde auch eine komprimierte Chronik der historischen Ereignisse vor und nach dem Zweiten Weltkrieg vermitteln möchte.

Das Aufbrechen dieses geradlinigen und schnörkellosen Erzählens zugunsten eines Mosaiks unterschiedlicher erzählerischer Perspektiven im Moment der Katastrophe beim Einmarsch der Nationalsozialisten in Wien wirkt in diesem Zusammenhang als Verdichtung und Höhepunkt des Buches. Im Gegensatz dazu verliert der Roman etwas an Überzeugungskraft, wenn es um die Wirren der Suche nach verschollenen Angehörigen sowie um die Überführung ehemaliger Täter geht. Dass zudem anlässlich einer Schwedenreise das skandinavische Land als Paradies dargestellt wird, das sich dem Nationalsozialismus tapfer widersetzt hat, stößt gerade angesichts jüngerer Forschungen – hier sei stellvertretend Bosse Schöns Buch über Hitlers schwedische Soldaten (»Hitlers svenska soldater«, 2004) genannt – etwas unangenehm auf.

Fachlich gesehen, erfährt der Leser über die historischen Zusammenhänge hinaus eine ganze Menge über die Psychoanalyse, aber auch über die Mechanismen des Musizierens beim Jazz. Problematisch ist allerdings die Sichtweise eines immer wieder in Diskussionen oder psychoanalytischen Sitzungen thematisierten sowie von den Protagonisten gelebten Ansatzes, demzufolge jegliche Kunstausübung als Ventil für Emotionen aufgefasst wird. Diese eingeschränkte Perspektive degradiert den intellektuellen Anteil des Kunsterlebens auf eine unwichtige Zutat und rückt dabei stellenweise so stark in den Vordergrund, dass die Motivation der Personen gelegentlich extrem konstruiert wirkt.

Fazit
Der große Vorteil des Romans ist, dass der Leser hier quasi im Vorübergehen sehr viele Einzelheiten über Jazz, Psychoanalyse und Zeitgeschichte erfährt, die er sich ansonsten mühsam in der Fachliteratur würde erschließen müssen. Insofern eignet sich der Band durchaus als Einstieg in die Beschäftigung mit Themen aus den Bereichen Exilforschung, Sozialgeschichte oder Kulturgeschichte, weil hier auf unterschiedliche Problemstellungen aufmerksam gemacht wird. Dass darüber hinaus die Darstellung von Einzelschicksalen großen Raum einnimmt und Tomas Böhm schließlich auch Elemente des Kriminalromans mit eingeflochten hat, macht die Lektüre insgesamt zu einer spannenden Angelegenheit.


Zitiervorschlag
Stefan Drees. Rezension vom 07.12.2011 zu: Tomas Böhm: Wiener Jazztrio. Roman. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2011. 376 Seiten. ISBN 978-3-8379-2112-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/12028.php, Datum des Zugriffs 07.12.2011.

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