Rezension zu Abenteuer in anderen Welten
Kinder- und Jugendliteraturforschung 2010/2011
Rezension von Anita Schlicher
Fantasy-Rollenspiele gehören – definiert man den Bereich eng –
nicht zu den klassischen Kinder- und Jugendmedien. Nur die
Wenigsten haben eine genaue Vorstellung davon, was unter einem
Tischrollenspiel, einem Liverollenspiel oder einem MUD
(MultiUserDungeon) im Netz genau zu verstehen ist. Nicht selten
werden die genannten Spiele mit Argwohn betrachtet, scheinen sie
doch das »Abgleiten« von Jugendlichen in eine obskure Sekundarwelt
zu initiieren. Das vorliegende Buch möchte hier Aufklärungsarbeit
leisten und eröffnet unterschiedliche Zugriffe und Perspektiven auf
die Welt der Rollenspiele. Die Artikel unterscheiden sich dabei in
ihrem Anspruch und ihrer Intention ganz erheblich. Individuelle
Erfahrungsberichte stehen neben wissenschaftlich ambitionierteren
Artikeln, die Erklärungsmuster für die Faszination des Rollenspiels
liefern, andere wiederum sind deskriptiv und geben einen Überblick
über den Rollenspielmarkt. Wem es aber primär darum geht, sich
einen Überblick über das Phänomen, »Fantasy-Rollenspiel« zu
verschaffen, wird dies nicht weiter stören, ergeben doch alle
Artikel zusammen eine recht genaue Vorstellung vom dargestellten
Gegenstand. Wer jedoch eine fundierte wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem Phänomen erwartet, für den dürfte der
Sammelband enttäuschend sein. Zwar liefern einige Artikel
wissenschaftliche Zugänge – vornehmlich psychologischer und
therapeutischer Art – , von einer konsistenten Methodik der Analyse
im Sinne einer Medienanalyse kann jedoch nicht gesprochen werden,
ebenso wenig von einer Aufarbeitung des Forschungsstandes zur
Fantasy-Rezeption im Allgemeinen. Im Rahmen der Kinder- und
Jugendliteraturforschung stellt die Auseinandersetzung mit
Fantasy-Rollenspielen jedoch sicher ein lohnendes Feld dar, lassen
sich doch zwischen dem Fantasy-Boom in Literatur und Film und dem
Entstehen von Fantasy-Rollenspielen enge Bezüge herstellen.
Der Band gliedert sich in vier Teile: I. Einführung und Geschichte;
II. Umfeld, Einflüsse und Inspirationsquellen; III.
Liverollenspiele; IV. Rollenspiele in der Gesellschaft und
psychologische Hintergründe. Ein großer Teil der Artikel wurde von
den Herausgebern des Buches – offenbar Vater und Sohn – verfasst,
bei den anderen Beiträgern handelt es sich ganz offensichtlich um
Spieler und Kenner der Szene.
Der erste Teil des Buches widmet sich der Entstehung und
Entwicklung des Genres seit den 70er Jahren. Wenngleich
amerikanische Entwicklungen thematisiert werden, liegt der Fokus
auf der Rezeption und Entwicklung der Rollenspiele in Deutschland.
Die Artikel geben detailliert Auskunft über die einzelnen Spiele,
über Grundstrukturen und Spielsysteme. Ein besonderes Augenmerk
liegt im Artikel von Rainer Nagel auf den Regelsystemen, die sich
im Laufe der letzten 40 Jahre immer wieder verändert haben, sodass
von verschiedenen »Generationen« von Rollenspielen gesprochen
werden kann. Die Artikel von Ulrich Janus geben durch ihre
ausführlichen Zitate bzw. »Mitschnitte« aus Rollenspielen einen
recht genauen Einblick in den Anlauf eines Rollenspiels.
Im zweiten Kapitel geht es um die Wechselwirkungen von
Fantasy-Rollenspielen und Fantasy- und Science-Fiction-Romanen.
Dabei werden auch phantastische Filme und Online-Rollenspiele
fokussiert und Schnittmengen thematisiert. Als geistiger Vater des
Genres steht dabei zunächst Tolkien im Fokus. Dabei wird weniger
auf seine literaturgeschichtliche Bedeutung und seine vielfaltigen
intertextuellen Bezüge zur Sagenwelt eingegangen als vielmehr sein
Werk vor dem Hintergrund seiner Biografie und einer
psychoanalytischen Zugangsweise interpretiert. Prototypische
Aussagen, die das gesamte Buch durchziehen, lauten dabei etwa:
»Auch hier kann man wieder die einzelnen Personen als Selbstaspekte
des Autors sehen, in denen er seine innere Entwicklung entfaltet
und diese gewissermaßen mit dem Leser zusammen in dem projektiven
Geschehen des Romans entdeckt« (115). Solche Aussagen bleiben
letztlich Spekulation und reduzieren den komplexen Roman auf eine
Verarbeitung psychischer Strukturen. Diese einseitige Zugangsweise
spiegelt sich im äußerst reduzierten Literaturverzeichnis. Für
Außenstehende interessant ist der Einblick in Online-Rollenspiele,
die in der gesellschaftlichen Debatte den größten Raum einnehmen
und zu Diskussionen um »Spielsucht« geführt haben. Gerade neuere
Spiele wie »World of Warcraft« oder »Second life« haben dabei
allgemeine Bekanntheit erlangt. Irma Leyde betont die positiven
Aspekte solcher Rollenspiele (»Soziallabor«, »soziale Werkzeuge«,
»virtuelle Gemeinschaft«), ohne auf das Suchtpotential der Spiele
einzugehen. Im Bericht eines Selbstversuchs von Aarni Kuoppamäki
klingt diese Gefahr durchaus an, insgesamt bleibt der Artikel aber
auf die inhaltliche Ebene konzentriert. Aus Sicht der Kinder- und
Jugendliteratur-Forschung und der Didaktik interessant ist ein
Artikel über das Rollenspiel als interaktive Kunstform, die dem
Jugendlichen die Beteiligung an der Schaffung virtueller Welten
eröffnet und ihn dabei in die Rolle des Autors versetzt.
Der dritte Teil des Buches widmet sich den Liverollenspielen.
Plastisch erschließt sich dem Leser hier die Faszination der
Liverollenspiele durch detaillierte Beschreibungen des Ablaufs und
der Settings, in denen diese stattfinden. Auch die logistische
Arbeit, die hinter den Liverollenspielen stattfindet, erschließt
sich dem Leser. In einem Erfahrungsbericht erhält man ebenso
Einblick in den Ablauf aus der Spielerperspektive. Eva Stürmer
berichtet über ihre erste Teilnahme an einem Liverollenspiel und
die darin ablaufenden Rituale und Begegnungen. Lidia Buonflno
stellt die Systematik und die Spielidee von Vampir-Rollenspielen
dar.
Im vierten Teil wird versucht, die kulturellen und psychologischen
Hintergründe und Motive der Rollenspiele zu ergründen. Die
einzelnen Kapitel zeigen hier, wie durch das Rollenspiel
individuelle Entwicklungsaufgaben auf einer symbolischen Ebene
spielend gelöst werden können. Dabei wird auf die Kompetenzen
hingewiesen, die die Rollenspieler im Rahmen ihrer Spiele erlangen:
Kreativität, Kommunikationsfähigkeit und Bewältigungsstrategien, um
seelische und gesellschaftliche Konflikte zu bearbeiten. Die
dargestellten Motive und Beweggründe sind nachvollziehbar und
einleuchtend, sollten jedoch nicht nur aus einer »Innenperspektive«
beschrieben werden, sondern einer externen Beobachtung zugänglich
sein. Diese Perspektive fehlt dem Buch. Einzig in der
Auseinandersetzung mit dem Vorwurf einer dubiosen Religiosität, die
im Rahmen der Spiele praktiziert werden soll, widmet sich ein
Artikel dezidiert der Außensicht und versucht die Wahrnehmung der
Kirchen etc. zu entkräften.
Insgesamt führt das Buch »Nicht-Kenner« in die Welt der
Fantasy-Rollenspiele ein und eröffnet vielfältige Einblicke. Nach
der Lektüre hat der Leser eine recht genaue Vorstellung von der
Szene der Rollenspieler und der Faszination, die diese ausüben
können. Was das Buch nicht leistet, ist eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem Phänomen »Rollenspiel«. Hierfür wäre
eine dezidierte Außenperspektive erforderlich. Die Autoren des
Bandes stammen jedoch – soweit erkennbar – aus der
Rollenspielszene, ein kritischer Blick auf das Phänomen fehlt
deshalb weitestgehend. Die Überprüfung der dargestellten Thesen
wäre sicherlich lohnend, denn eine gewisse Plausibilität kann den
Argumenten in den einzelnen Artikeln nicht abgesprochen werden.