Rezension zu Zeichen und Gesten - Heilpädagogik als Kulturthema
VHN. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. 1/2006
Rezension von Markus Dederich
Zeichen, Gesten, Kultur – diese drei Begriffe markieren treffend
das weit gefasste Feld, dem sich dieser Band widmet. Gesten wurzeln
in einem vorsprachlichen, leiblich-sinnlichen Beziehungs- und
Bedeutungsraum und sind an den Nahbereich zwischenmenschlicher
Kommunikation gebunden. Der Begriff des Zeichens verweist auf
vielfältige Formen kodierter Bedeutung, die nicht an konkrete
Situationen gebunden ist, auf Medien unterschiedlichster Art, die
trotz ihrer historischen Variabilität unerlässlich sind bei der
Hervorbringung, Interpretation und Veränderung einer gemeinsamen
Welt. Kultur schließlich meint nicht nur die Künste, etwa die
Malerei und die Literatur, sondern ist erheblich weiter gefasst:
Der Kulturbegriff schließt Normen und Werte, Symbolsysteme und
Sprache, Traditionen und Wissen, Institutionen und soziale
Praktiken und anderes mehr ein.
Wie die Herausgeber einleitend andeuten, verstehen sie »Kultur« als
Oberbegriff, der in seiner weiten Fassung die beiden anderen
einschließt. Die drei oben beschriebenen Ebenen oder Dimensionen
sollen auf die Heilpädagogik bezogen werden, und zwar unter
Einbezug der Begriffe Semiotik und Mikrologie, die quasi eine
methodische Klammer der vorgelegten Beiträge bilden sollen. Damit
ist ein zugleich sehr weites, vielfältige Zugänge und
Fragestellungen zulassendes thematisches Feld eröffnet. Dieses soll
für die Heilpädagogik fruchtbar gemacht werden.
Die einzelnen Beiträge nähern sich auf sehr unterschiedliche Weise
der Thematik des Bandes. Es findet sich ein Versuch, die Theorie
des Sprachraumes und dessen Bedeutung für die Modellierung der
Menschenwelt ethisch zu wenden. Zwei Texte skizzieren Überlegungen
zu einer heilpädagogischethischen Mikrologie, die für eine
Anerkennung von Differenz eintritt und als Plädoyer für ein
nichtinstrumentelles Handeln in einem heilpädagogischen Raum der
Begegnung und des Dialogs zu verstehen ist. Zu den weiteren Themen
des Bandes gehören u. a. eine semiotische Analyse zum Wandel des
Gebrauchs spezifischer Begriffe in der Heilpädagogik, ein Konzept
zur konsultativen Kommunikation angesichts von
Kommunikationsstörungen und Sprachlosigkeit bei Menschen mit
Behinderungen, eine Analyse der Mimik und Gestik von Menschen mit
autistischen Behinderungen und deren Auswirkung auf die
Kommunikation, eine Reflexion zum Verhältnis von Behinderung und
Leiden in der westlichen Kultur und Zivilisation, eine an der
historisch-kulturellen Konstruktion des Körpers ansetzende
dekonstruktive Kritik des Behinderungsbegriffs sowie eine
Betrachtung zur Kultur der Behinderung im Gedicht.
Aufgrund der weit gefassten und auch in der Einleitung nicht ganz
eindeutig spezifizierten Thematik hat das Buch an einigen Stellen
eher den Charakter einer locker zusammengefügten Textsammlung. So
schleicht sich gelegentlich bei den Texten, die sich nicht oder
kaum in den allgemeinen Bezugsrahmen des Buchs einfügen, das Gefühl
einer gewissen Beliebigkeit als Kehrseite der Reichhaltigkeit der
hier versammelten Zugänge ein. Trotz dieser kritischen Anmerkung
ist es dem Herausgebergespann gelungen, ein bisher theoretisch
wenig gewürdigtes, äußerst weit gefächertes, spannendes und für die
Heilpädagogik ergiebiges Themenfeld zu erkunden. Die größtenteils
lesenswerten, interessanten, theoretisch anspruchsvollen und
engagierten Texte eröffnen eine vielfältige und fruchtbare
Theorieperspektive und leisten einen gelungenen Beitrag zu einer –
noch in den Kinderschuhen steckenden – kulturwissenschaftlichen
Perspektive in der Heilpädagogik.
Prof. Dr. Markus Dederich. D 44221 Dortmund