Rezension zu Nur das nackte Leben
Rheinischer Merkur, Nr. 36, 2.9.2004
Rezension von Robert Stockhammer
Ausschnitt aus einer Sammelrezension zu mehreren Büchern zum
Thema:
»Man braucht also Autoren wie den französischen Journalisten Jean
Hatzfeld, die mit Überlebenden sprechen und die Gespräche
aufzeichnen. Hatzfeld hat sich dafür entschieden, aus den
Interviews zusammenhängende Erzählungen zu destillieren, die nicht
von Fragen unterbrochen werden. Dies verleiht den individuellen
Stimmen ihr Recht und macht das Buch zu einer intensiven Lektüre.
Unnötig pittoresk wirken nur die Rahmentexte neben den Fotos,
Hatzfelds Beschreibungen der ruandischen Landschaft, die mit ihrem
gewählten botanischen und zoologischen Vokabular, dem ›Gesang von
Blaurückenturakos und lindgrünen Zügeltrogonen‹, in die Gattung
›afrikanische Impressionen‹ hinüberschielen.
Hatzfelds Gesprächspartner erinnern sich nicht nur an die
Ereignisse – hier vor allem daran, wie sie sich im Sumpf vor den
Mördern versteckten –, sondern sprechen fast ebenso viel von ihrem
Überleben seither, von den Bedingungen ihres eigenen Sprechens. Sie
thematisieren die unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen und allen,
die den Genozid nicht erleben mussten; sie registrieren, wie sich
der Völkermord auf ihre Sprache ausgewirkt hat. Drei Überlebende
halten fest, dass sich ihre Erinnerungen im Lauf der Zeit
verändern; eine betont ausdrücklich: ›Für mich liegt darin keine
Lüge.‹ Die Überlebenden in Ruanda brauchen nicht nur eine Wahrheit,
wie sie von Gerichten ermittelt werden muss, sondern sie brauchen
auch Erzählungen, auf die sie sich verständigen können.«