Rezension zu Älterwerden - Eine Entdeckungsreise
Fokus Beratung. Informationen der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V. November 2011
Rezension von Ingeborg Roessler
Wie kann man vom Altern sprechen, ohne den anderen in die Flucht zu
schlagen, fragt Danielle Quinodoz, denn der Begriff des Alterns ist
gesättigt von pejorativen Bedeutungen, die Angst machen. Quinodoz
ist Psychoanalytikerin der IPV in freier Praxis in Genf,
Lehranalytikerin der Schweizerischen Gesellschaft für
Psychoanalyse, und sie verfügt über langjährige Beratungs und
Supervisionserfahrung am Geriatrischen Krankenhaus in Genf. Sie hat
abgewartet, bis sie selber ein älterer Mensch geworden ist, um aus
eigener Erfahrung und Kenntnis über die Entdeckung des Altwerdens
zu schreiben.
Entstanden ist ein weit gefächerter, nachdenklicher,
erfahrungsbasierter Bericht über die Fülle der Herausforderungen,
denen der alternde Mensch begegnet. Quinodoz beschreibt die
Möglichkeiten und Fähigkeiten, die eigene innere Geschichte zu
rekonstruieren; sie setzt sich auseinander mit den vielfältigen
Vorstellungen von der vergehenden Zeit, in die sich die Ewigkeit
einzeichnet; sie erörtert die Bedeutung der Erinnerung, die es zu
integrieren gilt, und die Spur der Lebensalter, die der Mensch
durchlebt hat; sie markiert die bewusste und unbewusste Angst vor
dem Tod und beschreibt die innere und äußere psychische Verarmung,
zu der sie auch die Demenz rechnet; sie entwickelt die Vorstellung,
angesichts unterschiedlicher Gegebenheiten durch die Entdeckung der
Gegenwart kreativ den Sinn von Vergangenheit und Zukunft zu
verändern; sie beschreibt die Verengungen, die dazu führen, dass
der Strom des Lebens zu fließen aufhört, ehe er durch die »enge
Pforte«, das ganz individuelle Passepartout, wieder seinen Weg
finden kann; und sie weiß, dass das psychotherapeutische Gespräch
oder die Psychoanalyse beitragen kann, sich diesen besonderen
Herausforderungen zu stellen.
Was ich in dieser atemlosen Aufzählung wiedergebe, sind die in
vierzehn Kapiteln mit jeweils fünf bis zehn Unterabschnitten
gegliederten Überlegungen, veranschaulicht durch viele
Fallvignetten, in denen Quinodoz ihre Überzeugung mitteilt, dass
psychotherapeutische Arbeit mit älteren Menschen Sinn macht. Sie
widerspricht dem unglücklichen, jedoch wirksamen Vorurteil Freuds,
der als 48 jähriger Mann meinte, »Personen nahe an oder über
fünfzig Jahre« eigneten sich nicht, in Psychoanalyse genommen zu
werden, da bei ihnen »die Plastizität der seelischen Vorgänge zu
fehlen pflegt, auf welche die Therapie rechnet ... und das
Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins
Unabsehbare verlängert«. Freud strafte mit seiner eigenen bis ins
hohe Alter währenden Kreativität diese Annahme Lügen. Quinodoz
verdeutlicht, dass wir es weniger mit der Quantität der Erinnerung
zu tun haben als mit der Fähigkeit, diese zu integrieren. Dabei ist
sie überzeugt, dass die Psychoanalyse eines älteren Menschen sich
nicht grundsätzlich von der eines jüngeren Erwachsenen
unterscheidet, und möchte Professionelle ermutigen, sich dieser
Aufgabe zu stellen.
Wer in dieser Arbeit eine Beschreibung spezifischer Altersprobleme
sucht, wird nicht schnell fündig. Demenz mit all ihren
Schattierungen und Vorahnungen, der Verlust der sozialen Rolle, die
Ungleichheit der Alterungsprozesse in Paarbeziehungen, die Zunahme
der Gebrechlichkeit und Abhängigkeit mit Kränkung und Beschämung –
diese uns vertrauten exemplarischen Themen streift sie nur, wenn
sie die Grundhaltungen des analytischen Verstehens und der
aufmerksamen Präsenz beschreibt, mit denen sie auf die
Problemsituationen ihrer Patientinnen eingeht. Man mag in dem Buch
eine gewisse Systematik vermissen, es ist assoziativ und poetisch
geschrieben. Quinodoz legt gleichsam ein Kompendium angewandter
Psychoanalyse in altersweisen Reflexionen vor. Das Buch kann
eklektisch gelesen werden, jedes einzelne Kapitel regt zum
Nachdenken an.
Es gelingt Quinodoz, den Reichtum des Alterns, die
Herausforderungen, denen sich der alternde Mensch stellen kann, als
lohnende, lebenslange, kreative »Arbeit« zu beschreiben. So
ermutigt sie Professionelle und Betroffene gleichermaßen, sich auf
das Abenteuer der Entdeckungsreise zu begeben