Rezension zu Familiendynamik bei spätadoptierten Kindern

Pfad, Heft 4/2011

Rezension von Helmut Dahmer

Diese höchst interessante Studie macht mit den Problemen vertraut, die »Spätadoptionen« – die vermittelten Kinder sind ca. vier bis zwölf Jahre alt für die Adoptierten und ihre neuen Eltern mit sich bringen. Nachdem 1977 das Adoptionsrecht reformiert wurde, startete das Jugendamt Frankfurt am Main ein Experiment mit der gezielten Vermittlung von (deutschen) Kindern aus Heimen oder Pflegefamilien an adoptionswillige Ehepaare. Die Autorin hat das Projekt retrospektiv evaluiert. Im Zentrum der Veröffentlichung stehen – eingerahmt von einer Literaturübersicht, einer systematischen Auswertung und Ratschlägen für die Praxis – fünf, auf der Grundlage von »narrativen Interviews« und ergänzenden Fragebogen konzipierte Fallgeschichten. Fokussiert werden die langwierigen Anpassungsprozesse, wie sie sich zwischen »weggegebenen« Kindern, die wiederholte Trennungserfahrungen hinter sich haben, und Eltern abspielen, die keine leiblichen Kinder zeugen können oder wollen und deshalb ein »fremdes« Kind annehmen möchten, das ihren Wunsch nach einer »richtigen« Familie befriedigt. Auszüge aus den Interviews werden von der Autorin durch behutsam eingesetzte psychoanalytische Deutungen illuminiert.


Uns erscheint die bekannte Form der Kleinfamilie heutzutage als eine schlichtweg »natürliche«. Jede Abweichung von diesem Modell (in Gestalt der »Ersetzung« leiblicher Kinder durch adoptierte oder in Gestalt der Ersetzung heterosexueller Eltern durch gleichgeschlechtliche) gilt als ein »Fehler«. An der Kluft, die sich für die Beteiligten und ihr soziales Umfeld zwischen einer »echten« und einer »simulierten« Familie auftut, laborieren Adoptivkinder und Adoptiveltern. Im Fall gar der Spätadoption wird jede Unstimmigkeit, jede Enttäuschung der differenten genetischen Ausstattung des neuen Familienmitglieds seiner Herkunft zugeschrieben. Adoption bedeutet in den meisten Fällen für das Kind ein soziales »Upgrading«. Die leibliche Abkunft von sozial »auffälligen« Eltern, Leuten, die ihre Kinder »weggeben« (müssen), ist ein Makel, von dem sich die Adoptierten nur mühsam befreien können.

Adoptieren aber heißt, die Grenze von »eigen« und »fremd« zu durchbrechen oder zu ignorieren. Wer ein »fremdes« Kind adoptiert, setzt auf »Nurture« (Erziehung, Sozialisation) statt auf »Nature«. Will er vergangene Beschädigungen des von ihm »erwählten« Kindes wettmachen, braucht er viel Frustrationstoleranz, er muss der Illusion entsagen, den »Makel« der »fehlenden« leiblichen Abkunft des Kindes simulatorisch (durch Verleugnung) wettmachen zu können. Er muss sich vom Bann des Modells der »richtigen« Familie befreien und der »konstruierten« Patchwork Familie vertrauen. Das ist möglich, weil die Bildung von »Familienbanden« weder eine biologische noch eine rechtliche Basis braucht. Die familiale Vergemeinschaftung ist stets eine Konstruktion, eine Stiftung der Beteiligten.


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