Rezension zu In Anerkennung der Differenz

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Rezension von Silke Birgitta Gahleitner, Anke Sülzer

Thema
Die Frauenbewegung und die mit ihr verbundene Frauengesundheitsbewegung hat mit ihren kritischen Fragen nicht nur wichtige Diskurse in Gang gesetzt, sie hat auch eine eigenständige Kultur in der Therapie- und Beratungslandschaft entwickelt, so wie sie auch zunehmend die bestehenden Ansätze durchdringt und erweitert. Die Forderung nach genderdifferenzierenden Ursachenmodellen, genderfreundlichen Behandlungssettings und gendersensiblen Behandlungsansätzen bei psychischen Störungen und lebensweltbedingten Problemlagen hat in der Qualität der Versorgungslandschaft für Frauen und Mädchen neue Fakten geschaffen (Vogt & Sonntag, 2007). Wie fortgeschritten der Diskurs und wie aktuell die zugehörigen Themen sind, zeigt der Band »In Anerkennung der Differenz«, ein Sammelband zu feministischer Psychotherapie und geschlechtersensibler Beratung.

Aufbau und Inhalt
Das Buch zeichnet sich durchgängig durch eine breite Blickrichtung aus. Den Einstieg gestaltet ein Interview mit den »Pionierinnen« Sabine Scheffler und Christina Thürmer-Rohr (geführt und niedergeschrieben von Scherl & Fritz), das ebenso informativ wie kurzweilig in den historischen Kontext der »zweiten Frauenbewegung« und deren Auswirkungen auf die Beratungs- und Therapielandschaft einführt. Schon hier wird Kaschaks (1992) »environment model of psychology for women« eingeführt, ein »kontextuelles Modell psychischen Funktionierens« (S. 31). Diese dringend notwendige Perspektive der Rekontextualisierung im Verstehen und Behandeln psychischer Prozesse setzt sich in der nun folgenden Landschaft der vielfältigen Beiträge fort. Die Frauenbewegung wird als Motor für die Professionalisierung von Beratung gewürdigt. »Gender Mainstreaming« nimmt dabei jedoch eine ambivalente Stellung ein: »Dieses entsetzliche Wort ›Mainstreaming‹. Es ist so missverständlich! Es wirkt auf viele so, als müssen wir alle in der Mitte des Stroms mitschwimmen. Also das Gegenteil von dem, was der Feminismus am Anfang gewollt hat. Eben gerade nicht mit dem Strom und in der Mitte des Stroms erst recht nicht, sondern eine Störung zu sein, eine Irritation zu sein, etwas, was Sand ins Getriebe wirft.« (Scherl & Fritz im einführenden Interview, S. 38)

Die zentrale Gliederung besteht in den Themenschwerpunkten »feministische Beratung« vs. »Psychotherapie«. Der Artikel von Scheffler und Großmaß führt ein Verständnis von Beratung nicht etwa als der »kleinen Schwester« der Psychotherapie, sondern als eigenständiges Verfahren ein, das auf »reale« und »gegenwärtige« soziale Problemlagen antwortet. Beratung kann hier einen – im Gegensatz zur üblichen therapeutischen Auffassung vermehrt konkret verstandenen – »Übergangsraum« zwischen Öffentlichkeit und Privatheit darstellen. Dieser kann verständnis-, entwicklungs- und heilungsfördernd für die einzelnen Klientinnen wirken, zugleich aber eben auch politisch und gesellschaftsverändernd verstanden werden. Im therapeutischen Bereich wird demgegenüber insbesondere die »gängige Praxis« kritisch reflektiert und um feministische Perspektiven und Gedankenanstöße bereichert: Von blinden Flecken und Unterschlagungen, machtkonstruierenden und -erhaltenden Zuschreibungen und Wahrnehmungsverzerrungen.

Auch in den folgenden Beiträgen zum Thema Gewalt (Büchele), Frauengesundheit (Groth & Gallé) und Trennung und Scheidung (Zehetner) ist das Buch durchzogen von einer machtkritischen Perspektive und dem Anspruch, neben individuellen Bedingungen auch gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Selbstbestimmung wird als »politischer Anspruch« verstanden, der allem psychosozialen Handeln zugrunde zu liegen hat. Im Gesundheits- und Sozialbereich wird daneben jedoch immer deutlicher, dass gendersensibles Arbeiten auch zu mehr Effizienz und Effektivität in Prävention, Behandlung und Rehabilitation von psychischen Krankheiten und umfassenden Problemlagen geführt hat. Eine systematische Verarbeitung der Ergebnisse der Genderforschung in institutionellen, hierarchischen und ökonomischen Systemen steht jedoch noch weitgehend aus, so Scheffler in ihrem Beitrag.

Die Breite der Ausführungen setzt sich fort bei den therapieorientierten Kapiteln, in denen verschiedenste methodische Grundorientierungen zu Wort kommen. Neben der Psychoanalyse (Koellreuter), dem systemischen Ansatz (Kirschenhofer) – der in der therapeutischen Landschaft »von Hause aus« am weitesten geht im grundsätzlichen Einbezug von realen Kontexten der KlientInnen – und der personzentrierten Therapie (Winkler) kommen auch in Deutschland weniger vertretene Traditionen wie die KIP (Ebermann) und die Integrative Gestalttherapie (Schigl) mit ihren zentralen Elementen – dialogische Begegnung und Solidaritätserfahrung – zu Wort.

Das Element solidarischer Begegnungen spielt auch eine große Rolle in den beiden Kapiteln, die sich mit der Dimension feministischer Gruppenarbeit (Pechriggl, Trotz) beschäftigen. In der Vielfalt methodischer Herangehensweisen sind auch hoch aktuelle Konzepte wie feministische Onlineberatung (Zehetner) und strategisch orientierte Vernetzungsarbeit (Breiter) vertreten, ebenso wie experimentelle (Zehetner) und kreative (Macke) Herangehensweisen. »Mit Standbeinen, aber ohne Spielbein(e) zu sein, heißt/hieße aber auch unbeweglich zu sein, keinen Spielraum zu haben, nicht verspielt/spielerisch experimentieren, keine Spielmöglichkeiten entwickeln, nicht vorwärts kommen zu können.« (ebd., S. 231)

Durchdrungen wird das Buch von literarischen Beiträgen von Elfriede Gerstl. Eine abschließende Rahmung findet das Buch in den »Innen-Sichten« der Herausgeberinnen. Diese bieten ähnlich wie der Einstieg einen aufmerksamen Blick auf Frauengeschichte (Ebermann), Frauengenerationen (Fritz) und politisches Geschehen (Streeruwitz).

Diskussion
Der Auftakt mit dem Gespräch, das trotz aller bekannten Inhalte Neues – nämlich aus der Dynamik zwischen den beiden Pionierinnen – zu bieten hat, stellt einen lebendigen und spannenden Einstieg dar. Die Zusammenstellung der Kapitel fühlt sich trotz großer Vielfalt und recht verschiedenen Graden der Abstraktion organisch (oder eben: rhythmisch – verstärkt durch das regelmäßige Aufbrechen des Sachlichen mit den Gedichten Gerstls) an. Die Beiträge bauen teilweise sinnvoll auf dem Vorwissen auf, das durch Vorangegangenes vermittelt wurde, und ergänzen einander gelungen. Ausnehmen möchten wir die beiden analytischen Beiträge (Koellreuter, Pechriggl), die durch bewährt analytische und somit sehr alltagsferne Terminologie leider erneut Ausschlüsse produzieren. Es ist fraglich, ob die komplexen und durchaus spannenden Inhalte in anderer Aufbereitung nicht einer breiteren LeserInnenschaft vermittelbar gewesen wären. Insgesamt befinden sich die Beiträge des Buches auf einem anspruchsvollen, aber gut verstehbaren Niveau. Das Lesen ist sowohl aus der Perspektive von Beraterinnen mit breiter angelegtem Fundament als auch aus einer stärker auf Innenperspektive fokussierten therapeutischen Perspektive ausgesprochen anregend und profitabel. Die literarischen Einflechtungen zwischen den sachlichen Beiträgen zeigen, dass Fachliches und Politisches auch literarisch ausgedrückt werden kann, ohne hierdurch zu verflachen.

In der Breite und Vielfalt der Ansätze und Herangehensweisen wirkt das Buch insgesamt wie etwas lange Gewachsenes und Gereiftes, eine Vielheit, die Zusammengehörigkeit durchschimmern lässt und die nicht nur für diesen Band unter einem Dach zusammengefunden hat. Die einzelnen Ansätze erscheinen nicht isoliert voneinander oder zueinander konkurrent; sie stehen auf Augenhöhe nebeneinander, als Anregungen, so oder eben auch anders zu arbeiten und auf jeden Fall als Einladung an die LeserIn, mitzudenken und auch die eigenen Ansätze weiter zu entwickeln. »In Anerkennung der Differenz« meint hier eben nicht, wie befürchtet werden könnte, einen Verweis auf den differenzfeministischen Standpunkt, dass »Frauen eben anders als Männer sind«, sondern ermutigt zu einem konstruktiven Sich-Unterscheiden auch zwischen Frauen. »Erst wenn der Fokus von der Fantasie einer allgemeingültigen und die ganze Wahrheit umfassen wollenden Norm zu der im Hier und Jetzt möglichen Vereinbarung gerichtet wird, kann Kooperation gelingen«, bringt Trotz (S. 217f.) es auf den Punkt. Diesen Eindruck von gegenseitigem Respekt spiegelt ebenfalls die Forderung: »Punktuell wird das, was dialogisch im Kopf, als Denken, ist, dann in die Realität umgesetzt, auch auf der Ebene der Beziehung … so, dass sich dann für Momente das Gefälle verändert und es tatsächlich zu einer menschlichen Begegnung werden kann« (Scherl & Fritz, S. 36).

Die abschließenden »Innen-Sichten« bieten zudem einen überraschenden Blick hinter die Kulissen: Offen bilanzieren die Autorinnen auf je persönliche Weise die gemeinsame Arbeit, präsentieren ihre Gedanken und Gefühle in einer authentischen und transparenten Sprachform, die das persönliche Ringen einer jeden Einzelnen mit dem Thema wie auch mit sich selbst wiederzugeben vermag.

Fazit
Wer in der beratenden oder therapeutischen Arbeit Sehnsucht nach (oder gar Notwendigkeit von) sinnhafter Rekontextualisierung verspürt; wer gesellschaftliche Verdeckungszusammenhänge (Scheffler, 2009) verstehen und einer privilegiensichernden Individualisierungstendenz des behauptet »Gestörten« entgegentreten möchte; wer sich in anregender Form feministische Perspektiven und relevantes Wissen aneignen möchte; wer sich fragt, wie sich ein politisches Verständnis der eigenen beraterischen oder therapeutischen Praxis mit der guten Absicht von Abstinenz und Wertefreiheit verbinden lässt; und wer sich mit der Frage beschäftigt, eher entlang der eigenen Utopien und Zukunftsvisionen oder entlang der aktuellen Gegebenheiten zu intervenieren: Der- und diejenige wird in diesem Buch gute Anregungen zum Weiterdenken und Mitgestalten finden.

Literatur

Kaschak, E. (1992). Engendered lives: A new psychology of women/'s experience. New York: Basic Books.
Scheffler, S. (2009). Patientenverhalten von Frau und Mann als soziales Konstrukt, Strukturmerkmal und Verhaltensset – Ergebnisse der Geschlechterforschung und ihre Bedeutung für beraterische Interventionssysteme. Integrative Therapie, 35(1), 37-49.
Vogt, I. & Sonntag, U. (2007). Die Dimension Geschlecht im psychosozialen Behandlungsdiskurs in den letzten 30 Jahren. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 39(1), 25-42.

Rezensentin
Prof. Dr. Silke Birgitta Gahleitner
Homepage www.gahleitner.net

Rezensentin
Dipl.-Psych. Anke Sülzer

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