Rezension zu Das Rätsel des Sündenbocks
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Rezension von Laslo Scholtze
»Das Rätsel des Sündenbocks«
Der Psychoanalytiker Dr. Eberhard Th. Haas im Interview über die
Theorie des Religiösen bei Freud und Girard
Was ist die zentrale Einsicht, die Sie als Psychoanalytiker aus
René Girards »Theorie des religiösen Opfers« gewinnen?
Girards Theorie baut auf Sigmund Freuds Kulturlehre auf, also auf
dem was Freud beginnend mit »Totem und Tabu« bis hin zu seinem
Spätwerk, dem »Mann Moses« geschrieben hat. Diese Ansichten werden
innerhalb wie außerhalb der Psychoanalyse kaum noch ernsthaft
diskutiert. Umso bedeutsamer ist, dass ein Wissenschaftler vom Rang
Girards diese Überlegungen zum Ausgangspunkt seiner Hypothese über
die Hominisation nimmt. Dabei geht es um keine geringere Frage als
die, wie Menschen sich entwickelt haben könnten.
Eng damit verknüpft ist das Problem, woher unsere seelischen
Erkrankungen kommen. Diese Frage bleibt heute in den
Humanwissenschaften ausgeklammert, gilt sogar als wissenschaftlich
unkorrekt. Für Freud wie für Girard verweisen unsere heutigen
Psychopathologien auf frühere Lebensformen, auf opferreligiöse
Praktiken.
Sie schreiben, jede psychoanalytische Krankengeschichte
enthalte Hinweise auf den Opfer-Sündenbock-Mechanismus. Es handelt
sich hierbei ja ursprünglich um ein kollektives Ritual: Dem
Sündenbock werden alle Verwerfungen und negativen Energien der
Gemeinschaft aufgeladen, dann wird er verstoßen und das Kollektiv
dadurch entgiftet und befriedet – ein Mechanismus, der laut Girard
nur funktioniert, wenn an seine magische Wirkung auch geglaubt
wird. Welche Bedeutung haben der Sündenbock-Mechanismus
beziehungsweise Transformationen von Gewalt in der seelischen
Entwicklung des Einzelnen?
Wenn wir statt Opfer-Sündenbock-Mechanismus Ödipus-Komplex
sagen, von dem die Psychoanalyse mehrheitlich immer noch annimmt,
dass er den Kern der Neurosen ausmache, wird die Parallele
deutlich. Ödipus ist der Sage zufolge sein Leben lang mal auf der
Opferseite, mal auf der Täterseite. Er wird von den Eltern zur
Tötung ausgesetzt, er begeht Inzest und Vatermord, er wird für die
Pest in Theben verantwortlich gemacht und schließlich streiten sich
Athen und Theben um das Grab des gestorbenen Heros, weil sie sich
davon Schutz und Segen erhoffen. Wir haben alle etwas von Ödipus in
uns, sind Opfer und Täter. Gewaltsam ringen wir uns die Kräfte
unserer Eltern ab, ihr Sterben – symbolisch oder real – geht mit
einem Verinnerlichungs-Schub einher, der Errichtung des Über-Ich.
Es ist im Grunde dieselbe Dramaturgie wie im kollektiven Ritual.
Auch in jeder guten psychoanalytischen Behandlung finden sich
ähnliche Szenen, Handlungsdialoge und Kämpfe.
Girard scheint bemüht, die Bedeutung der Psychoanalyse für sein
Werk möglichst marginal erscheinen zu lassen. Sie sehen dagegen
eine enge Beziehung zwischen Girard und Freud. Wie sollte man
Girards Freud-Rezeption einordnen? Und wo liegt aus
psychoanalytischer Sicht die Grenze einer konstruktiven Aneignung
der »mimetischen Theorie«?
Girard steht gewissermaßen auf Freuds Schultern und kann
dort systematisieren und vereinfachen, wo jener sich mühsam
vorantasten musste. Er übernimmt von Freud, dass Kultur auf realen
Gewaltverhängnissen gründet. Girards Gründungsgewalt ist weitgehend
identisch mit dem, was Freud Urtragödie, Urverbrechen oder
Urvatermord nannte. Er hatte aber Angst, von der Psychoanalyse
vereinnahmt zu werden, weswegen er meinte, sich scharf abgrenzen zu
müssen. Seine mimetische Theorie ist im Grunde eine
Verallgemeinerung von Freuds triangulärem ödipalem Begehren. Freud,
von der Arbeit mit Patienten herkommend, fand in den Neurosen
fossile Reste früherer Befindlichkeiten, etwa wenn er von der
Ähnlichkeit zwischen Zwangshandlungen und Religionsübungen oder
kindlichem Totemismus sprach.
Der gesamte Bereich des Intrapsychischen sowie die Traumdeutung
sind für Girard eine Black Box. Seine mimetische Theorie ist
interpersonell und massenpsychologisch ausgerichtet. Die
Unterschiede sind jedoch nicht unüberbrückbar. Eine Annäherung wäre
ein großer Schritt in Richtung auf eine kohärente
Kulturtheorie.
Freuds Kulturtheorie wurde in psychoanalytischen Kreisen lange
Zeit stiefmütterlich behandelt, galt gar als widerlegt. Welche
Gründe wurden dafür angeführt – und wie beurteilen Sie diese?
Freuds Kulturtheorie ist die Suche nach etwas so
Grundlegendem, wie es sich in der Biologie mit dem Namen Charles
Darwin verbindet. Als Freud »Totem und Tabu« schrieb, begannen die
Humanwissenschaften sich zu unterschiedlichen Professionen
zusammenzuschließen und eifersüchtig über die je eigene
Professional Correctness zu wachen. Aus dieser Sicht erscheint
»Totem und Tabu« als methodisch unordentlich und ethnologisch
widerlegt. Zudem wurde das Religiöse aus allen ernsthaften
wissenschaftlichen Überlegungen als nicht brauchbar ausgeschieden.
Damit erklärte man gerade das Entscheidende, das im
Tier-Mensch-Übergangsfeld die instinkthafte Triebregulierung
ersetzen sollte, als wertlos. Unbeachtet blieb nebenbei gesagt,
dass der Ethnologe Alfred Kroeber, auf den das Urteil ›ethnologisch
widerlegt‹ zurückgeht, seinen heftigen Angriff, der so etwas wie
ein Modell aller späteren Angriffe wurde, rund 20 Jahre danach
erheblich abmilderte. 1939 räumte er ein, dass Freuds Hypothese es
längst verdient hätte, ihre Produktivität für den Bereich
kulturellen Verstehens zu erweisen, statt pauschal abgelehnt zu
werden. Schließlich kommt noch hinzu, dass Freud das Wertvollste
und Höchste auf das Niedrigste, nämlich auf einen Mord,
zurückführt.
Maßgebliche Größen der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert wie
Melanie Klein, Donald W. Winnicott und Wilfried Bion hätten, so
schreiben Sie, indirekt an Freuds Kulturtheorie weitergearbeitet –
können Sie das erläutern?
Bion spricht von der Behälter-Funktion der Eltern und der
Analyse in Worten, die genau so auf das religiöse Ritual zutreffen.
Bei Winnicott gibt es in der kindlichen Entwicklung eine »kreative
Zerstörung«, die seelische Strukturen schafft. Es findet sich hier
beinahe wörtlich die gleiche Paradoxie wie in der Opfersituation:
Das Böse, in einen Sündenbock evakuiert, der als Behälter dient und
entgiftend-reinigend wirkt, vermag zu etwas Gutem transformiert zu
werden. Dieser basale Mechanismus findet sich bei verschiedenen
psychoanalytischen Autoren. Das ist gemeint, wenn ich sage, dass
Freuds Kulturlehre wie absichtslos weiter geschrieben wurde.
Überall ergeben sich Anknüpfungspunkte, auch in der Theorie der
Trauer, wie ich sie verstehe.
Sie scheinen optimistisch in Hinblick auf eine »kohärente
psychoanalytische Kulturtheorie«, die das »Stimmengewirr der
Lehrmeinungen« vereinheitlichen könnte. Woher diese Zuversicht?
Inzwischen hat auch die Psychoanalyse eine babylonische
Sprachverwirrung der Lehrmeinungen und Schulen. Wenn es gelänge,
die verschiedenen Konzepte trotz unterschiedlicher Benennung
miteinander zu verbinden, wäre ein großer Schritt in Richtung auf
eine kohärente Kulturtheorie gemacht. Die modernen Wissenschaften
sind zentrifugal, tragen selbst zur Hyperkomplexität unserer
Weltsicht bei. Religion befriedigt dagegen die Sehnsucht nach
Einfachheit, was sie verdächtig macht. Interessant ist aber, dass
eine Theorie des Religiösen, die quasi exkommuniziert wurde, das
Potential hat, Verbindungen aufzuzeigen, die anderen Wissenschaften
entgehen.
Diese »Theorie des Religiösen« würde auch die psychoanalytische
Theorie mit der irritierenden Janusköpfigkeit des Heiligen
konfrontieren, die in Begriffen wie »tabu« oder »sacer« das
Göttlich-Erhabene mit dem Schändlichen verbindet.
Statt des expressiven Begriffs des janusköpfigen Heiligen oder
»sacer« verwendet die Psychoanalyse »Ambivalenz«. Diese Benennung
ist aber letztlich zu schwach, um solche kulturschaffenden
Transformationen zu beschreiben. Für Freud stand noch fest, wie er
in einem Brief Carl Gustav Jung am 1. September 1911, also zu
Beginn seiner Arbeit an »Totem und Tabu« schrieb, dass der
Ödipuskomplex die Wurzel der religiösen Gefühle enthält. Wenn
manche psychoanalytischen Begriffe in Gefahr sind, über die
Generationen hinweg blutleer zu werden, ist es eine heilsame Übung,
sie mit frühen rituellen Vorstellungen und Handlungen in Verbindung
zu bringen.
Mit Freud wird gemeinhin eine kritische bis abwertende Haltung
gegenüber Religion assoziiert. Sie führen in Ihrem Buch etliche
Passagen aus Freuds Werk auf, die ein anderes Bild vermitteln. Ist
die Psychoanalyse gar nicht so atheistisch wie ihr Ruf?
Dem sich selbst als gottlos bezeichnenden Juden Freud
gelang es, den verschütteten Kern alles Religiösen freizulegen: den
Opfer-Sündenbock-Mechanismus. Damit wird die heilige Gewalt
delegitimiert und das einem allmächtigen Gott dargebrachte
Opferwesen angeprangert. Etwas anderes ist es mit Freuds Kritik an
der real praktizierten Frömmigkeit, wie er sie in »Die Zukunft
einer Illusion« formuliert hat. Diese Religionskritik kann auch
eine läuternde Kraft bedeuten, weswegen Hans Küng diese Schrift als
pastoralen Glücksfall bezeichnete.
Girard zufolge wird in der Passion Jesu das Sündenbockgeschehen
transparent und damit eine geradezu aufklärerische Zeitenwende
eingeläutet. Ist es plausibel, die Berichte des Neuen Testaments
als »entmythologisiert« zu bezeichnen?
Man kann Texte wie die von der Geburt Jesu theopoetisch
lesen und muss sie nicht bezüglich ihrer materiellen Wahrheit
hinterfragen, wie das manche historisch und naturalistisch
arbeitenden Theologen machen, die dann rasch von
Geschichtsfälschung sprechen. Statt naturwissenschaftlicher
Wahrheit enthält die Auferstehung Christi zweifelsfrei eine
psychologische Wahrheit: In jeder Trauer aufersteht der Verstorbene
in verinnerlichter Form in den Hinterbliebenen und vermag diese im
günstigen Fall als haltgebendes inneres Objekt zu bereichern.
Das ist der günstige Fall – wie steht es mit dem
Pathologischen: Wie erklären sich die in psychiatrischen Stationen
vielfach anzutreffenden Teufel- und Christuscharaktere?
In meinem Buch gibt es die Krankengeschichte einer
psychotischen Patientin. Hier ringen in der Tat Gott und Teufel
miteinander, und es war eine sehr lange Analyse notwendig, um diese
mythologischen und archaischen Bilder und Vorstellungen in unsere
heutige Realität zu transformieren. In solchen schizophrenen
Archaismen öffnet sich eine Tür zur kulturellen Frühzeit, in der
es, wie die Völkerkunde belegt, sehr viel psychotischer zuging.
Solche Psychopathologien – der Fall Schreber ist das bekannteste
Beispiel – sind Relikte, die auf eine Zeit verweisen, in der
tatsächlich Götter und Dämonen als Stimmgeber und Lenker auf die
Menschen einwirkten. Der amerikanische Psychologe Julian Jaynes hat
darüber ein bemerkenswertes Buch geschrieben.
Sie schreiben in Ihrem Buch, der Atheismus moderner
Religionskritik gründe auf Halbwahrheiten. Welche Hälfte der
Wahrheit bleibt außen vor?
Wenn Jürgen Habermas recht hat, dass wir in einer
nachmetaphysischen Zeit leben, so ist ebenso richtig, dass der
Wahrheitsgehalt der Religion in eine säkulare Sprache übersetzt
werden muss, um nicht verarmten Sprachspielen – etwa der
Neurophysiologie mit ihrer Naturalisierung des Geistes – das Feld
zu überlassen.
Sie sprechen von einer psychologischen Beziehung zwischen
»Gottesglauben und Kraft oder umgekehrt zwischen Atheismus und
depressiver Schwäche«. Wie ist das zu verstehen?
William James hat vor mehr als einhundert Jahren auf die
belebenden und begeisternden Kräfte religiöser Erfahrung aufmerksam
gemacht. Unsere entzauberten säkularen Zivilisationen sind in ihrer
Vitalität so herabgekühlt, dass Depressionen und Süchte zu den
wichtigsten Volkskrankheiten zählen. Die Emanzipation von
religiösen Normen oder einem moralischen Gesetz, hat nicht die
erwartete Freiheit mit sich gebracht, sondern Selbsterschöpfung,
wie der französische Soziologe Alain Ehrenberg diagnostiziert hat.
Menschen leben heute in der Illusion, dass ihnen prinzipiell alles
möglich ist und gerade an dieser Überforderung scheitern sie
zumeist. Wenn es keine Transzendenz mehr gibt, müssen sich alle
Sehnsüchte und Wünsche gegenwärtig und im Diesseits erfüllen. Doch
gerade damit wird seelisches Wachstum verhindert.
Warum sollte eine medial überreizte, enthemmte, an Gewalt und
Tabubrüche gewöhnte Gesellschaft die Sündenbock-These, dass
menschliche Kultur in der Gewalt ihren Ursprung hat, als zu
anstößig empfinden?
Eine Gesellschaft mit medial inszenierten karnevalesken
Zügen ist nicht unbedingt an der Erhellung des
Sündenbockmechanismus interessiert. Die auf allen Sendern
angebotenen Mordgeschichten zeigen zwar die Präsenz dieses Themas,
nicht aber die Fähigkeit, es auch gedanklich zu durchdringen. Die
Tatsache, dass Gewalt, wie etwa auch Sexualität, inflationär
thematisiert und ökonomisch beziehungsweise als Spektakel
ausgebeutet wird, bedeutet nicht, die eigene Gewalt oder die der
eigenen Gruppe besser zu verstehen.
Die jüdisch-christliche Tradition besitzt allerdings so etwas wie
eine selbstexplorierende Kraft. Was sich dort, etwa in den Psalmen
und insbesondere in der Passion, als den Sündenbock erhellend
zeigt, hat Freud als erster aus der Sprache der Religion in die der
Wissenschaft übersetzt. Es tut weh, wenn die Gewalt vom Göttlichen
abgelöst zum Menschen zurückkehrt, aber es kann auch ernüchternd
und heilsam sein.
Girards Überzeugung, die Einsicht in die Mechanismen der
mimetischen Gewalt und die Gewaltlosigkeit der Bergpredigt seien
der Schlüssel zur Überwindung des »Menschenverhängnisses«, wirkt
zunächst wie der sprichwörtliche fromme Wunsch. Wie beurteilen Sie
das?
Girards mimetische Theorie knüpft dort an, wo Freud mit
seiner Kulturtheorie aufgehört hat. Wir leben in einer Welt, in der
kaum jemand den Versuch macht, auf Gegengewalt zu verzichten. Das
»Auge um Auge« ist vorherrschend. Das Gebot der Feindesliebe
scheint eine Zumutung, aber so wie die Dinge in einer mit
Vernichtungswaffen hochgerüsteten Welt stehen, plagt es uns mit
seiner Unerfüllbarkeit ebenso wie mit seiner Dringlichkeit.
Bei »literaturkritik.de« dreht sich alles um Bücher – welche
fünf Titel können Sie uns zum Thema besonders empfehlen?
James, William (1901-02): Die Vielfalt religiöser
Erfahrung.
Burkert, Walter (1972): Homo Necans. Interpretation altgriechischer
Opferriten und Mythen.
Jaynes, Julian (1976): Der Ursprung des Bewußtseins durch den
Zusammenbruch der bikameralen Psyche.
Ehrenberg, Alain (1998): Das erschöpfte Selbst. Depression und
Gesellschaft in der Gegenwart.
Bolz, Norbert (2008): Das Wissen der Religion.
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