Rezension zu Von allen guten Geistern verlassen?

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Rezension von Dipl.-Soz.Päd. Dagmar Fiebiger

Thema
Ein generell in der Entwicklung des Menschen angelegtes, erhöhtes Maß an Aggression in der Adoleszenz, wird als Grundannahme in der vorliegenden Arbeit vorausgesetzt. Autoren/innen aus dem französischen und dem deutschen Sprachraum, die meisten mit psychoanalytischem Hintergrund, analysieren Ausdruckformen adoleszenter Aggressivität. Sie setzen sich dabei mit Fragen der Auswirkung des gesellschaftlichen Wandels, besonders soziokultureller Transformationsprozesse, auch medialer Einflüsse auf den inneren Kern der adoleszenten Entwicklung auseinander.

Herausgeber / Autoren
Prof. Dr. phil. habil., Dipl. Psych. Bernd Ahrbeck, einer der drei Herausgeber, ist Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker. Er lehrt am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörtenpädagogik. Das Vorwort und der in das Thema leitende erste Beitrag, sind von ihm verfasst.

Die anderen fünf deutschen Autoren/rinnen sind an verschiedenen deutschen Hochschulen in den Fachgebieten Psychologie, Sozialpädagogik, Soziologie, Erziehungswissenschaften und mit eigenen Praxen in der Psychotherapeutischen Arbeit tätig.

Die sechs französischen Autoren/rinnen, allesamt, Psychiater, Psychologen, Psychoanalytiker, gehören dem College International de l`Adolescence (CILA), Paris, an. Das College wurde 1995 mit dem Ziel gegründet, die psychoanalytische Erforschung der Adoleszenz anzuregen, weiterzuentwickeln und international zu vernetzen.

Zielgruppe
Die Zielgruppe dieses Buches ist sicherlich in erster Linie die »psychoanalytische Community«. Es soll die Forschungslust der Psychoanalytiker für diese Altersgruppe der Adoleszenten anregen. Für die meisten Beiträge ist ein Grundverständnis der psychoanalytischen Lehre notwendig.

Aufbau und Inhalt
In zwölf getrennten Beiträgen suchen die Autoren/rinnen nach Erklärungen für das Aufkommen besonderer Aggressivität bei Adoleszenten. Sie gehen davon aus, dass eine solche zu jeder Zeit bestanden hat.

Die Art und Weise, wie die Aggressivität ausgelebt wird und warum sie in bestimmten Gesellschaftsformen besonders ausgeprägt ist, nicht zuletzt, wie man die, ihr innewohnende, starke Energie gesellschaftlich sinnvoll und aufbauend integrieren könnte, wird überdacht.

Alle Beiträge schließen mit umfassenden Literaturhinweisen.

Sämtliche Übersetzungen aus dem Französischen verfasste Dr. Vincent von Wroblewsky

Bernd Ahrbeck ist der Meinung, dass sich die psychoanalytische Fachwelt in Deutschland kaum um die Erforschung der Adoleszenz bemüht. Sie setze sich ungern mit zugespitzten Affekten, dem unintegrierten Triebhaften und der aufgeladenen Dynamik der Adoleszenten auseinander. Sie beschäftige sich mit Entwicklungsbeeinträchtigungen der frühsten Kindheit und ihrer Wirkung auf die psychische Situation Erwachsener. Geringschätzung des ödipalen Komplexes und das Verschwinden der Sexualität aus der Psychoanalyse wiesen ebenfalls auf diese Entwicklung hin. Im Anschluss stellt er drei Zugänge einer neuen Theorie der psychoanalytischen Gewaltforschung durch Bohleber (2006) vor.

Florian Houssier zeigt, mittels einer Fallvorstellung, dass die psychoanalytische Arbeit mit Adoleszenten völlig anders verläuft, als mit Erwachsenen. Warum es wichtig ist, dass der Therapeut sich persönlich einlässt und wahrhaftig reagiert um Wirksamkeit zu entfalten.

Annette Streeck-Fischer stellt aus ihrer Erfahrung drei verschiedene Tätertypen dar, den der Borderline-, die narzistischen und die antisozialen Persönlichkeitsstörungen, denen verschiedene strukturelle Entwicklungsstörungen zugeschrieben werden.

Francois Marty nimmt Angst als Aggression auslösender Grund an. Die Angst vor innerem Ausgeliefert sein, wird von der Angst vor äußerer Manipulation verstärkt. Verschiedene Störungen, die aus verschiedenen Ängsten entstehen, werden beschrieben.

Vera King betrachtet die Aspekte vornehmlich männlichen Verhaltens als Milieu – typische Funktionen von Angst, die Dynamik zwischen Täter und Opfer im Risikohandeln, psychosoziale Bedeutungen von Peergroups in der männlichen Adoleszenz und das „Risiko des Begehrens“

Olivier Ouvry bearbeitet das Thema Aggression der Adoleszenz in einer historischen Analyse. Die Besonderheit der Adoleszenzphase als jene Phase, die während de persönlichen Analyse den stärksten Widerstand bietet, wird herausgearbeitet.

Didier Laru fragt nach dem Sinn des Hassens. Er leitet die Funktion des Hassens (innere Abgrenzung) in der Persönlichkeitsentwicklung als Voraussetzung für die Entstehung von Liebesfähigkeit des Adoleszenten her.

Anne Tassel betrachtet, was Gewalt für Psychoanalytiker ist und wie sie mit den Werkzeugen der Psychoanalyse positiv integrierbar ist.

Wolfgang Bergmann diskutiert Bindungsstörungen in Verbindung mit der Darstellung eines medialen Narzissmus. Er zeigt das Drama des fehlenden Gegenübers bei der Identitätsfindung pubertärer und adoleszenter männlicher Individuen.

Martin Feuling zeigt mit einer Falldarstellung wie wichtig Idole und Ideale in der adoleszenten Identitätsfindung sind.

Faroudja Hocini betrachtet Adoleszenz, Gewalt und außergewöhnliche Paranoia. Anhand eines klinischen Falles wird diese Aussage diskutiert.

Achim Perner schließlich, zeigt mit einer Fallgeschichte zu Angst und Aggression in der Adoleszenz, ihre Ausbeutung durch die Kulturindustrie. „Hoffnung wird zur Ware“.
Diskussion und Fazit

In den genannten Beiträgen wird von verschiedenen praktischen und theoretischen Hintergründen aus, zumeist auf psychoanalytischer Basis, der Stellenwert der Aggression in der Adoleszenz diskutiert. Es wird festgestellt, dass dieser Lebensphase ohnehin, sozusagen naturgemäß, Unsicherheiten auf vielen Ebenen inne wohnen. Heute ist die solchermaßen gebeutelte Persönlichkeit zusätzlich damit konfrontiert, dass haltende und sichernde familiäre, wie außerfamiliäre Bezugssysteme, kulturelle Container, wie sie von Ahrbeck genannt werden, nicht hinreichend zur Verfügung stehen.

Die allgemeine Beschleunigung der Lebensverhältnisse durch das gesteigerte Tempo der medialen Kommunikation, die ständige Sinnesreizung durch Medienkonsum, die damit verbundene Oberflächlichkeit der Sinneswahrnehmungen, sowie die Beliebigkeit der als wichtig und bedeutsam empfundenen Erlebnisse, das alles hinterlässt dauerhafte innere Spuren. Der fehlende kulturelle Container, lässt das Individuum mit der Verarbeitung dieser Eindrücke, allein. Dabei gilt es, diese Altersgruppe zu beruhigen und zu leiten.

»Struktur durch soziale Kontrolle zu schaffen um regressive Gruppenphänomene zu verhindern und aufzulösen« ist nach Kernberg ein Weg, zu unterstützen. Die psychoanalytische Fachwelt ist aufgerufen, über Lösungswege aus ihrer Ressource, zu diesem Thema zu forschen, meint Ahrbeck.

Eine Balance herbeizuführen zwischen einer Struktur bildenden psychischen Wachstumsförderung und gleichzeitiger Konfliktbearbeitung, wäre die wünschenswerte Vorgehensweise, die die Methode bieten könnte.

Das ist ein besonders wichtiger Auftrag, in einer Zeit, in der das Potential dieser männlichen Altersgruppe nicht mehr für das Sichern gesellschaftlichen und sozial-moralischen Fortschritts eingesetzt wird. Unsere Gesellschaft verarmt auch, über die Nichtwertschätzung der Ausbildung dieser Ressource männlicher Kraft.

Eine spannende und anregende Sammlung von Gedanken zum Thema, für Psychoanalytiker und andere, mit dieser Altersgruppe Arbeitenden.

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