Rezension zu Neue Grundlagen für die Psychoanalyse
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Rezension von Sebastian Schreull
Notwendige Über-Setzungen
Über Jean Laplanches »Neue Grundlagen der Psychoanalyse«
Erscheint das Werk eines der wohl bedeutendsten, noch lebenden
Psychoanalytiker mit einer Verzögerung von 23 Jahren, so liegt eine
altbewährte Rhetorik der Einleitung zu seiner Rezension, vielleicht
auch des schlechten Stils, nahe: das Lamento. Im Zentrum dessen
müssten die Marginalisierung der Psychoanalyse, daneben die
Anerkennung und das Lob des verlegerischen Wagnisses stehen. Ist
letzteres auch zutreffend, so hat das Lamento eine Schwäche, die
als Stärke daherkommt: Ein Äußerliches, etwa gesellschaftliche
Kräfteverhältnisse oder das Abschweifen von der ›wahren Lehre‹, sei
für den Verfall der Bedeutung der Psychoanalyse verantwortlich.
Oder ein Äußerliches wird im Lamento eingefordert, um einem
Veralten vorzubeugen: Nur das Einlassen auf die ›naturalistische
Verführung‹, das heißt die Ausrichtung auf die entsprechende
›exakte‹ Leitdisziplin (heute etwa die Neurologie), könne hier
helfen. In solchen Versuchen der ›Grundlegung‹ bleibt das Neue der
Psychoanalyse selbst irgendwie fremd, eben äußerlich. Jean
Laplanches Werk stünde eine solche Argumentation denkbar schlecht.
Ihm geht es um eine andere Verführung – um ihr Begrifflich-Werden.
Der Autor von »Das Vokabular der Psychoanalyse« begibt sich in
einen anrüchigen Bereich: in die Methodologie, in eine ›immanente‹
Kritik der Psychoanalyse.
Solche Immanenz bedeutet meist eines: wieder und wieder Sigmund
Freud. Dies zugestanden, nur ist Laplanche nicht an einer weiteren,
kohärenten Interpretation Freuds interessiert. Ganz im Gegenteil:
Er will die Widersprüche, die Aporien in diesem Œuvre suchen, um in
ihnen nicht nur etwas über die »Wissenschaft vom Anderen«, sondern
auch etwas über den Gegenstand der Psychoanalyse selbst zu
erfahren. Denn die schlechte Abstraktion, die die Theorie zum
bloßen Beiwerk oder Werkzeugkasten der Praxis reduziert, teilt
Laplanche nicht. Schließlich bedürfe selbst die klinische Erfahrung
der theoretischen Explikation und vollziehe sich nur mittels
bestimmter theoretischer Setzungen, auch wenn sie bloß implizit die
Handlungen leiteten. Selbst die Klinik sei also auch Moment der
Theorie, die eben »Ort und Gegenstand der Erfahrung ist«. Denn erst
in einer theoretischen Praxis könne das Verhältnis von Theorie und
Praxis bestimmt werden. Und an ihren Widersprüchen zeige sich das
Wesentliche von Erfahrung: »nämlich eine Bewegung in Berührung mit
dem Objekt, in Berührung mit der Bewegung des Objekts«. Und ist die
Psychoanalyse eine Wissenschaft, dann eine solche, die eben keinen
exakt bestimmten Gegenstandsbereich ausweist – sie ist also auch
etwas Anderes, was aus ihrem Gegenstand resultiert: den Individuen.
Sie sollte jenseits der Starrheit einer Methode offen für diese
Bewegung sein.
Die Qualität, die Andersheit ›ihres‹ Gegenstandes herauszuarbeiten,
dies ist Zielsetzung des Gesamtwerkes dieses Autors hin zur
›allgemeinen Verführungstheorie‹. Die »Neue[n] Grundlagen« stammen
aus der Mitte seines Schaffens, sind also noch auf dem Weg im
besten Sinne. Sie stellen in seinem Korpus nicht nur eine besondere
Synopse der psychoanalytischen Begrifflichkeiten und ihrer
Fährnisse dar. Sie liefern das Anfangen einer Kritik, deren
wesentlicher Zug bereits im luziden Vorwort von Udo Hock und
Jean-Daniel Sauvant herausgearbeitet wird: Das Unbewusste entstehe
im Verhältnis von Kind und Erwachsenem. Der »Kern« unseres Wesens
müsse uns also fremd bleiben, da er ja beim Anderen, dessen
Unbewussten, der Verführung seinen Anfang nehme.
Dies ist freilich keine einfache Grundlage, keine fixe Definition,
sondern sie definiert das menschliche Wesen als Verhältnis zwischen
Menschen. Und das Wissen um die Historizität, der Veränderung
dieser Verhältnisse verlange freilich auch die beständige
Aktualisierung der theoretischen Praxis: »Wer würde auf das
Fortbestehen des Ödipuskomplexes wetten, auf den Freud sich
gründet?« Laplanche will sich also auf keiner ewiggültigen
Anthropologie ausruhen, vielmehr wird die stets proklamierte
Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse endlich einmal
methodologisch reflektiert. Laplanches hier geleistete
Differenzbestimmung von Psychologie und Psychoanalyse bringt es
überhaupt erst aufs Tableau: Nicht der allgemeine Mensch, die
Gattung und eben ihre Exemplare oder Typen, sei Gegenstand der
Psychoanalyse. Es sei der Andere, das Individuum in seiner
Besonderheit, welches spricht, sich selbst erzählt, »in eine Form
bringt«.
Und jene Aporien im Freud’schen Werk, denen Laplanche auf der Spur
ist, sind genau solche, in denen die Andersheit verdrängt,
reifiziert wird. Es sind solche Momente, in denen das Besondere
nicht länger mit den (notwendig) allgemeinen Konstruktionen
konfrontiert wird, sondern Erkenntnisse gewisser
Einzelwissenschaften einfach in einen Bereich übertragen werden,
der andere Geltungsbedingungen aufweist. Es ist ein
»Herunterbrechen« der Komplexität, mit welcher der
psychoanalytische Dialog, die Kur nun einmal konfrontiert ist. Ob
es nun die trennscharfe Sortierung der Stadien der Entwicklung, das
Konstrukt des Autoerotismus oder die Vorstellung des Es als des
Ursprünglichen, Archaischen – so vieles, was immer wieder als
Grundlagen der Psychoanalyse behauptet wird, stößt hier auf Kritik.
Bedenkt man die Stellungskriege und Grabenkämpfe der
psychoanalytischen Schulen, so hat diese aber etwas sehr
Erfrischendes.
Freilich unterzieht er Wilfried Bion, Melanie Klein, Jacques Lacan
und all die anderen einer kritischen Lektüre, aber dies geschieht
in einer Offenheit, dass selbst flapsige, kleine Polemiken nicht
abgeschlossen wirken. So unabgeschlossen, wie er mit seinem eigenen
Denken verfährt: Wann begegnet man schon einmal einem Theoretiker,
der solche Impulse der theoretischen Entwicklung der Psychoanalyse
gab, wie die »Urphantasie« oder die »Anlehnung«, und sie dennoch
als Sackgassen ausweist? Und dies ist das Ungeheure dieses Werkes:
Hier kann jemand bei der Selbstreflexion zugeschaut werden, hier
stellt jemand sich selbst in Frage – eine ›der‹ Gesten der
Psychoanalyse. Eine Geste, die auch vom Lesenden gefordert wird.
Dieses Werk ist reich an Anspielungen, unausgewiesenen Referenzen,
abbrechenden Gedanken, offenen Enden, die auch vom Leser das
einfordern, was im Buch geleistet wird: die Anstrengung des eigenen
Denkens. Und vieles wird dadurch erschwert, dass die
Selbstreferenzen Laplanches, die Andeutungen, dass manches schon an
anderer Stelle geleistet sei, nicht wirklich verfolgt werden
können. Sein Œuvre harrt noch der Übersetzung. Und Laplanche legt
Reflexionssplitter in den Text, deren Kanten einfach noch nicht
abgeschliffen sind, vermutlich auch nicht sein sollen. Sie sind
übersetzt mit Bedeutungen.
Laplanches Werk ist eine Arbeit am Widerstand der Psychoanalyse
gegen sich selbst. Denn den Zumutungen ihrer Erkenntnisse wurde
immer wieder der Stachel abgebrochen, nicht zuletzt dadurch, dass
ihre Erkenntnisse als Gewissheiten archiviert wurden, anstatt sie
einer theoretischen Praxis auszusetzen. Und inwieweit dies
notwendig ist, um wirklich die Unendlichkeit der Analyse zu
garantieren, das hat die Psychoanalyse schon in viele Sprachen
übersetzt, nur nicht so wirklich in ihre eigene. »Neue Grundlagen
der Psychoanalyse« sind ein Anfangen gegen die großen Erzählungen
vom Verfall. Sie zeigen, was die Stärke der Analyse war und ist:
eine theoretische und praktische Verführung zur
Selbstreflexion.
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