Rezension zu Heilpädagogik als Kulturwissenschaft

Sonderpädagogische Förderung heute: »Kommunikation fördern und unterstützen«, 55. Jahrgang, 4/10

Rezension von Sabine Meise

Das Buch trägt zur Diskussion um das Verhältnis von Pädagogik und Kulturwissenschaft bei (vgl. unter anderem Schubert, V. 2005: Pädagogik als Vergleichende Kulturwissenschaft), verbleibt jedoch – trotz Analyse vielfältiger Bereiche des Kulturellen – weitestgehend der deutschsprachigen Binnenperspektive verhaftet. Mit reichlich Foucault und etwas Marx im Gepäck behalten die Autoren jedoch Macht und Herrschaftsstrukturen – unter anderem bei individual-eugenischen Tendenzen – sowie aktuelle neoliberale Prozesse der »(Selbst-)Entwertung des Menschen« fest im Blick. Nach kurzer Klärung des Kulturbegriffs fokussiert die Arbeit auf die (nach Auffassung der männlichen Herausgeber) zwei der wichtigsten Säulen einer Kultur: I. Ökonomie und II. Medizin; Teil III. leuchtet die Heilpädagogik detaillierter als »kritische Kulturwissenschaft« aus.

Drei der achtzehn Beiträge, deren Perspektiv- und Stilvielfalt nicht zuletzt durch den bis zu 50-jährigen Erfahrungsunterschied der Autoren besticht, seien hier skizzenhaft nachgezeichnet:

Sabine Schäper, eine der beiden weiblichen Autoren, analysiert den »Mythos der Ökonomisierung« als Kulturphänomen, beschreibt dessen Funktionen und fordert auf, die eigenen Verstrickungen (Foucaults Begriffe »Komplizität« und »Governementalität«) bewusst zu halten, um Heilpädagogik als »kulturprägende Instanz« zu stärken.

Hans-Uwe Rösners Suche in Gerechtigkeitstheorien nach normativen Grundlagen einer Heilpädagogik als Kulturwissenschaft ist offen für die Normalität steter Abhängigkeiten, übersieht jedoch die Seltenheit von Beziehungssymmetrien – auch unter sogenannten Nichtbehinderten – und beschreibt eine spezifische Doppelrolle behinderter Menschen als ethische Person (appelliert an asymmetrische Verpflichtung des »nichtbehinderten« Menschen) und als moralische Person (verdient Respekt und Achtung wie jeder Mensch). Diese kulturgeprägte Sonderung behinderter Menschen bleibt Traditionen der heilpädagogischen Zunft verhaftet, die in diesem Artikel nur äußerst knapp hinterfragt werden. Jan Weisser reagiert darauf mit zukunftsweisenden Strategien transdisziplinärer Wissensbildung (Sonderpädagogik, lnterkulturelle Pädagogik, Geschlechterpädagogik und andere), hinterlässt den Leser allerdings mit der Frage nach Relationen zu Cultural und Disability Studies (z.B. zu dem durch Anne Waldschmidt ausgearbeiteten Kulturmodell von Behinderung) bei der Verortung der Heilpädagogik als Kulturwissenschaft. (Rösner skizziert kurz Gemeinsames und Trennendes zwischen Disability Studies und Heilpädagogik und vergisst – wie zufällig – die ausführliche Literaturangabe zu Waldschmidt.)

Auf die Zielformulierung der Herausgeber, für eine »Kultur (einzutreten), die durch ein inklusives Menschenbild geprägt ist und auch anspruchsvoll auf die Medizin und Ökonomie zurückwirkt«, lässt sich in Anlehnung an Marx und Jantzen antworten: Kultur ist noch verschiedener zu interpretieren und ... es kommt darauf an, sich zu verändern.

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