Rezension zu Kinderheim Baumgarten
Luzifer-Amor, Heft 48, Oktober 2011, Brandes&Apsel
Rezension von Karl Fallend
Im Chaos, das nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches in Wien
herrschte, wurde vieles möglich, was zuvor kaum denkbar schien.
Auch der 27-jährige Siegfried Bernfeld sah die Chance gekommen,
viele der hoffnungsvoll diskutierten Konzepte aus der radikalen
Wiener Jugendbewegung der Vorkriegszeit in die Tat umzusetzen. Der
autoritäre Wertekanon von einst sollte gestürzt, die Pädagogik der
Unterdrückung überwunden werden. Von Oktober 1919 bis April 1920
existierte unter Bernfelds Leitung das Kinderheim Baumgarten, in
dem über 300 verwahrloste jüdische Kinder und Jugendliche mit
unterschiedlich traumatischen Erfahrungen betreut wurden. Bereits
im Juli 1920 schrieb er seine Erfahrungen mit dem Projekt
nieder.
Diese Schrift ist nun Gegenstand einer Doktorarbeit geworden.
Daniel Barth, Dozent an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich,
hat sie aus verschiedensten Blickwinkeln gelesen und dabei neue
Sichtweisen eröffnet. Er interpretiert tiefenhermeneutisch,
orientiert sich an der operativen Gruppentheorie, versucht
Bernfelds Beobachtungen sprachanalytisch zu verstehen, folgt einem
Modell des gesellschaftlichen und familialen Wandels genauso wie
Habermas/' Theorie des kommunikativen Handelns und meint: »Der
Gewinn an analytischer Schärfe bei der Rekonstruktion überwiegt m.
E. den Verlust an historischer Genauigkeit« (S. 117) – was zu
diskutieren wäre.
Barths Gedankengängen zu folgen, die neue Lesarten der Schrift
anbieten, ist abwechslungsreich. Besonders spannend liest sich die
Rekonstruktion des »realen Konzepts« des Baumgarten-Experiments und
die Untersuchung der Frage: Wer waren die Baumgarten-Kinder? Durch
das ganze Buch hin verfolgt man den Autor, wie er sich an Bernfeld
abarbeitet und wie seine anfängliche Faszination durch dessen
kritischanalytische Schärfe und utopischen Schwung allmählich
Vorwürfen Platz macht: dass Bernfeld »verharmlost«, »zensuriert«,
»geschickt retouchiert«, »verschweigt«, »ablenkt«, »suggeriert«,
»sich in Ausflüchten windet« und »manipulativ verwischt«. Manche
subjektiven, nicht historisch kontextualisierten Einschätzungen und
Interpretationen irritieren. Wenn man z. B. liest (S. 88): »Obschon
Bernfeld als Sohn aus bürgerlichem Hause Massen gegenüber
Vorbehalte hatte«, fragt man sich: Woher weiß der Autor das? Die in
der Fußnote dazu angebotene Analogie mit Bob Dylan, »der sich als
Bürgerlicher inmitten der massenhaften Bürgerrechtsbewegung um
Luther King ziemlich verloren vorkommt«, mutet weit hergeholt an.
Befremdlich ist auch die Selbstgewissheit, mit der Barth nach über
90 Jahren Bernfeld nachruft: »Die anomische Situation hätte einzig
durch eine Institutionalisierung der strukturellen Zweigleisigkeit
der Schule entschärft werden können. Indem man innerhalb
der Schule, d. h. während der offiziellen Schulzeiten, einen
›sozialen Ort‹ schafft, wo die das Bildungssystem auszeichnende
Statuslinie der ›Lernleistung‹ und deren basale Voraussetzung
›Wohlverhalten‹ suspendiert sind, wären die Fußball spielenden
Schulschwänzerlnnen integrierbar gewesen. [...] Für Bernfeld
spricht, dass er bewusst reflektiert, in diesem Bereich
›gedankenlos nachahmend anstatt schöpferisch‹ und innovativ gewesen
zu sein« (S. 344 f.).
Ganz auf Abwege kommt der Autor, wenn er versucht, mit seinem
theoretischen Arsenal zu erklären, warum Bernfeld zu Ende des
Sozialprojekts erkrankte – was angesichts des Mangels an Essen und
Heizmaterial, schlechter Bezahlung, schlechten hygienischen
Verhältnissen, ständigem Zwist mit der Verwaltung, der
Verantwortung für die Kinder und für sein junges Team etc.
eigentlich wenig erstaunlich ist. Auch mehrere Mitarbeiterinnen
erkrankten unter diesen Arbeitsbedingungen. Welchen Erkenntniswert
hier die vom Autor herangezogene »Spannungstheorie« von Peter
Heintz bereithält, bleibt unklar: »Anomietheoretisch entspricht
Bernfelds Verhalten dem Anpassungstyp ›Rückzug‹« (S. 299).
Entbehrlich erscheint auch der Kommentar, der Bernfelds
Unversöhnlichkeit gegenüber der Verwaltung mit der Staatstheorie
von Poulantzas beleuchtet und schließt: »Dass Bernfeld in diesem
Kampf entscheidenden Moment nicht versucht, die Verwaltung zu
unterwerfen, und stattdessen krank wird, hat wahrscheinlich auch
mit seinen jüdischen Wurzeln zu tun. Leidend auszuharren und die
Erlösung von außen zu erhoffen, hat hier lange Tradition« (S. 306
f.).
Irritationen dieser Art beeinträchtigen in der Summe die große
Arbeit, die neuen Einsichten, die vielen Einzelheiten und
Hintergrundinformationen, die in Daniel Barths Untersuchungen
stecken. Bei seinem Versuch, »den praktischen Erzieher Bernfeld vor
dem ideologischen Bernfeld zu retten« (S. 44), gewinnt man
letztlich den Eindruck, weniger wäre mehr gewesen.