Rezension zu »Wie benimmt sich der Prof. Freud eigentlich?«
NU - Jüdisches Magazin für Politik und Kultur, Nr. 43, 1/2011
Rezension von Herbert Vogelmayr
Sigmund Freud über die Schulter schauen
Das Tagebuch der ehemaligen Patientin Anna G. gibt Einblicke in die
Behandlungsmethode des Vaters der Psychoanalyse.
1988 wurde bei einer Hausräumung in Zürich ein Tagebuch gefunden,
das in Psychoanalytikerkreisen für eine kleine Sensation sorgte. Es
stammt von der jungen Ärztin Anna G. aus Zürich, die von April bis
Juli 1921 nach Wien kam, um sich bei Sigmund Freud einer
psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen. Anlass dafür war eine
tiefe Beziehungskrise, weil sie vor der Hochzeit mit ihrem
langjährigen Verlobten stand, jedoch in Hinblick auf eine
gemeinsame Zukunft mit ihm immer mehr Zweifel bekam. Sie konnte
sich nicht entschließen, ihn zu heiraten, fand aber auch nicht die
Kraft, sich von ihm zu lösen. Um in dieser ausweglosen Situation
Klarheit zu finden, wandte sie sich an Freud und ersuchte ihn, sie
als Patientin anzunehmen. Seine Schriften kannte sie schon, da sie
seit 1920 am Züricher Burghölzli bei Eugen Bleuler in der
Psychiatrie arbeitete und dort ihre Dissertation verfasste.
In Form eines losen Tagebuchs, bestehend aus zwei Schulheften,
protokollierte sie, was sie in der Analyse bewegte. In ihren Worten
wird Freuds Arbeitsweise sichtbar, kann man ihn beim Deuten
beobachten, erlebt ihr Unbehagen und ihre Widerstände und erahnt
ihr Unbewusstes, verpackt in ihre Träume. Dabei blitzen zwischen
den Zeilen auch immer wieder Witz und Selbstironie auf. Einmal
weist Freud mit der Bemerkung: »Sie streifen so nah am Geheimnis
des untersten Stockes, dass ich es Ihnen verraten kann« darauf hin,
dass das starke Zögern bezüglich einer Heirat mit ungelösten
familiären Beziehungen zusammenhängen könnte. Damit eröffnet er
einen Weg der Entwicklung, der am Ende im Leben von Anna G. und
ihrer Umgebung große Veränderungen auslösen wird.
Anna Koellreuter, die Enkelin von Anna G. und selbst
Psychoanalytikerin, zögerte lange, das Tagebuch ihrer Großmutter zu
veröffentlichen, weil es sich dabei um ein intimes persönliches
Dokument handelt. Außerdem war sie sehr aufgewühlt von dem Fund,
der eine Art Familiengeheimnis lüftete. Es war zwar allen
Familienmitgliedern bekannt, dass die Großmutter bei Freud in
Analyse war, deren Mitteilungen darüber waren aber äußerst
spärlich. Als Studentin hatte Anna Koellreuter einige Jahre bei
ihrer Großmutter gewohnt, die großes Interesse an der Ausbildung
der Enkelin zur Psychoanalytikerin zeigte, aber nie über ihre
Analyse bei Freud sprach.
Da das Tagebuch auch von wissenschaftlichem Interesse ist, gab sie
es Fachleuten zur Beurteilung. 2007 hielt sie darüber in Tübingen
einen Vortrag vor psychoanalytischem Fachpublikum und löste damit
eine enorme Resonanz aus. Es kam anhand des Tagebuchs eine
Diskussion über Freuds Arbeitsweise in Gang, die dann 2009 zur
Publikation führte. Der Titel »Wie benimmt sich der Prof. Freud
eigentlich?« stammt übrigens aus einem Brief des Vaters, der sich
zunehmend Sorgen um seine in Wien weilende Tochter machte, die mit
fortschreitender Analyse immer weniger von sich hören ließ. Das
Buch enthält neben dem Tagebuch noch eine Reihe psychoanalytischer
und historischer Kommentare und ist für psychoanalytische Laien
ebenso interessant wie für Fachleute, weil es einerseits anhand des
Tagebuchs ermöglicht, Freud bei der Arbeit quasi über die Schulter
zu schauen und andererseits anhand der Kommentare einen guten
Überblick gibt über die Weiterentwicklungen der Psychoanalyse
seither und wie sich die heutige Praxis von der klassischen
Arbeitsweise Freuds unterscheidet.