Rezension zu Knastmauke (PDF-E-Book)
Bayernkurier, Nr. 38, 24. Sept. 2011
Rezension von Andreas v. Delhaes-Cuenther
»Mein Leben ist Keller, Untergeschoss«
Zwei aktuelle Studien beleuchten die wirtschaftlichen und
gesundheitlichen Schäden der ehemaligen politischen Häftlinge der
DDR-Diktatur. Die Ergebnisse sollten uns alle beschämen.
Sie leiden fast alle an Platzangst, Depressionen, Albträumen und
körperlichen Beschwerden. Sie haben Suizidgedanken. Sie können
nicht schlafen, sind aggressiv, antriebslos, dauernd nervös. Sie
meiden Menschenansammlungen, haben Angst, allein zu sein und
misstrauen ihren Mitmenschen. Sie gehen nicht mehr in öffentliche
Bäder, weil sie sich nicht mehr vor anderen entblößen können. Sie
können nicht mehr allein in den Keller gehen, weil sie die
Dunkelheit panisch fürchten. Sie schlafen manchmal im Stehen. Sie
sind die Überlebenden von bis zu 250.000 politischen Häftlingen der
DDR.
20 Jahre zu spät sollen 47 ehemalige Stasi-Mitarbeiter aus der
Stasiunterlagenbehörde entfernt werden – dank dem neuen Chef Roland
Jahn. Linke Politiker wie Wolfgang Thierse, Dieter Wiefelspütz oder
Luc Jochimsen erdreisten sich, das zu kritisieren. SZ-Chefredakteur
Heribert Prantl nennt Jahn sogar »Behördenchef Gnadenlos«. Gewiss,
bei ehemaligen Nazischergen hätten sie unbarmherzig deren
Entfernung aus dem Dienst verlangt. Gewiss auch, dass westdeutsche
Linksgläubige ein grundsätzliches Problem mit den zahllosen
Verbrechen der DDR haben, war diese doch für sie das
»sozialistische Paradies« – eine Illusion.
Es geht aber nicht nur um die Glaubwürdigkeit dieser speziellen
Behörde. Die, die sich so um das Schicksal der »armen« 47
Mitarbeiter sorgen, missachten tausende Opfer der DDR. Es ist ein
Schlag ins Gesicht derer, die in schweren Zeiten aufrecht gingen,
wenn sie ausgerechnet in der Jahn-Behörde denen begegnen, die das
Haupt beugten. Die Opfer der Kommunisten leiden auch heute noch,
das beleuchten zwei aktuelle Gießener Studien. Eine ist von Andreas
Maerker von der Universität Zürich, als Arzt ausgebildet in der
DDR, und eine von der ehemaligen Vorwärts-Redakteurin
Sibylle Plogstedt, vorgelegt im Buch »Knastmauke« – mit
erschütternden Einzelfällen. Maerker befragte 146, Plogstedt 602
ehemalige Häftlinge. Die meisten von ihnen leiden bis heute unter
körperlichen und seelischen Traumata. Sozial und wirtschaftlich,
besonders bei der Rente, sind Ex-Häftlinge benachteiligt. Fast alle
früheren Täter durften ihre DDR-Luxusrenten ohne Einschränkung
behalten. 46,3 Prozent ihrer Opfer wurden nach 1989 erstmal
arbeitslos, nur 13,4 Prozent schafften eine berufliche Karriere.
Knapp die Hälfte verdienen heute unter 1.000 Euro.
2000 und 2004 beantragte die Union eine »Ehrenpension«, Rot-Grün
lehnte ab. Erst ab 2007 bekamen Opfer der DDR-Diktatur 250 Euro
»Opferrente« – aber nur bei mindestens sechs Monaten Haft und
finanzieller Bedürftigkeit. Die Häftlinge sprechen lieber von
»Ehrenrente«, im Baltikum heißt sie »Heldenrente«.
Ohne Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihres vom DDR-Unrechtsregime
gewährten Anspruches als »Opfer des Faschismus« erhalten diese 750
Euro Ehrenrente. Wer dagegen als DDR-Häftling Opferrente haben
will, wird bis aufs Kleinste überprüft. Bei NS-Opfern musste zudem
die Behörde beweisen, dass deren Krankheiten nicht Folge der Haft
waren. DDR-Opfer haben selber Beweispflicht. Die deutsche
Linksblindheit ist für viele ein Problem. »Wenn alle nur gegen die
Rechten vorgehen und zu den linken Tätern nichts sagen, fühlen sich
die Häftlinge der DDR als Opfer zweiter Klasse«, so Annegret
Stephan, Leiterin der ersten Stasi-Gedenkstätte in Magdeburg.
Es brauchte nicht viel, um in der DDR in politische Haft zu kommen:
Ausreiseanträge, Fluchtversuche (26,5 Prozent aller Häftlinge),
Kritik an Arbeitsbedingungen, Proteste oder Witze über die SED.
Aber auch die Liebe zu Westdeutschen (in der DDR: Prostitution),
Arbeitslosigkeit oder Religionsausübung konnte DDR-Bürger
monatelang ins Gefängnis bringen. Hinter Stacheldraht fanden sich
im Arbeiter- und Bauernparadies oft einfache Arbeiter und
Handwerker. Selbst vor Minderjährigen machten die Kommunisten nicht
halt: 1951 wurden 19 Werdauer Oberschüler zu insgesamt 130 Jahren
Zuchthaus verurteilt, weil sie nach dem Vorbild der »Weißen Rose«
SED-kritische Flugblätter verteilten. Oder Angelika Hartmann, die
1965 mit 15 Jahren in die BRD floh, um ein Rolling
Stones-Konzert zu sehen. Sie kehrte zurück und wurde trotz
vorher ausgehandelter Amnestie zu 17 Monaten Haft verurteilt.
Widerspenstige Jugendliche wie Marion H. kamen meist als »Asoziale«
in den Jugendwerkhof, ein Gefängnis, hinter dessen Mauern Willkür
und Brutalität vermeintlicher Erzieher herrschte. Ein Onkel aus dem
Westen wollte sie adoptieren, vergeblich. Ging doch in der roten
Diktatur Staats- vor Kindeswohl. Haft war in der DDR ein Makel, den
man nie mehr los wurde: Marion H. bekam später einen Sohn, der mit
Erkältung ins Krankenhaus kam und dann angeblich verstarb. Die
Leiche wurde ihr nicht gezeigt. Sie vermutet, dass das Kind wie
vermutlich tausende andere zur Adoption an »gute Sozialisten«
freigegeben wurde. Einen Ausreiseantrag später kam sie ins
Gefängnis. In ihre Kaderakte trug die Stasi ein: »Zu keiner
Erwachsenenbildung zugelassen. Nur unten halten.« Heute ist sie
krank, allein, vertraut niemandem, hat einen Suizidversuch
überlebt, bezieht Hartz IV und sagt bitter: »Mein Leben ist Keller,
Untergeschoss.«
Am Anfang war Workuta. Noch vor Gründung der DDR 1949 bis etwa 1953
werden neben Kriegsgefangenen auch Unliebsame wie Horst Hennig in
die Eishölle im äußersten Norden Russlands geschickt. Mit
eingeschränkter Armfunktion musste er am Nordpol bei minus, 50 Grad
Schnee schaufeln, Kohle fördern, tiefe Löcher in den
Permafrostboden hacken oder eine Bahnlinie bauen. »Unter jeder
Schwelle liegt ein toter Häftling«, hieß es. Täglich gab es Grütze,
elendes Brot und Wassersuppe. Aber auch über 200.000 Zivilisten
werden in die Kälte verschleppt, um die Schäden des deutschen
Angriffskrieges »wieder gut zu machen«. Viele von ihnen waren
Frauen und Kinder, von denen mehr als ein Drittel starb.
Überlebende haben heute keine Entschädigungsansprüche und können
sich nur an die Häftlingshilfestiftung wenden.
In der DDR ging es in berüchtigten Gefängnissen wie Bautzen
(»Gelbes Elend«), Hohenschönhausen, Halle (»Roter Ochse«) oder
Hoheneck weiter. Körperliche Folter gab es etwa bis zum Bau der
Mauer 1961, danach setzte man mehr auf psychische Marter. Häftlinge
wurden gedemütigt, tagelang verhört, von Mitinsassen bespitzelt
(65,7 Prozent), mit Desinformationen über Angehörige verunsichert
und mit Kindesentzug oder anderen Repressionen gegen die Familie
bedroht (19,3 Prozent). Rauchen oder Besuche (bei 72,1 Prozent)
wurden verboten, Schlafentzug war an der Tagesordnung. Am
schlimmsten war Isolationshaft, die fast zwei Drittel mitmachen
mussten, oft verschärft in Dunkel- (19,4 Prozent) oder Stehzellen
oder engen Kammern mit eiskaltem Wasser bis zur Hüfte und Ratten
darin (6,6 Prozent). Nierenschäden haben heute 37 Prozent der
Häftlinge. Wärter schikanierten zusätzlich aus eigenem Antrieb,
schlugen, störten nachts, leerten Pakete der Angehörigen – dies
erlebten 60,7 Prozent. Manchmal, wie bei Thomas Reschke, öffneten
sie die Zelle. für andere Häftlinge, für Vergewaltiger. Sexuelle
Übergriffe bis bin zur Vergewaltigung erlebten 6,5 Prozent der
Männer und 16,8 Prozent der Frauen. Reschke wurde mit Familie beim
Fluchtversuch ertappt. Der vierjährige Sohn schrie wie am Spieß,
als die Eltern fortgebracht wurden. An den Haaren wird er
weggeschleift. »Das vergesse ich denen nie, mein Leben lang nicht«,
sagt Reschke.
Auch Jahrzehnte nach dem erlittenen Unrecht ist die Dunkelheit
gegenwärtig. »Vielen drängen sich die Bilder der Folter wieder auf;
der Geruch des Gefängnisses ist da und sie hören Befehle von einst.
Manche haben regelrechte Flashbacks, die sie etwa im eigenen Keller
wieder in die Vergangenheit versetzen«, so Maerker. Zwei Drittel
der Studienteilnehmer haben mit seelischen, körperlichen oder
psychosozialen Folgen der Haft zu kämpfen, Plogstedt zufolge sogar
83 Prozent. 72,4 Prozent waren und sind in ärztlicher Behandlung,
fast ebenso viele nehmen regelmäßig Medikamente. »Wenn die
Schlüssel in den Schlössern knacken, dieses Rumschließen höre ich
noch heute«, so Ex-Häftling Eleonore Prudenz. Sie wird beim
Fluchtversuch erwischt, darf sich nicht einmal von ihrem Sohn
verabschieden. Der Zehnjährige verkraftete das nie, bis heute hat
er deshalb Probleme. »Statt Gerechtigkeit bekamen wir den
Rechtsstaat«, sagen viele Opfer bitter. Nur bei 26,6 Prozent der
Häftlinge wurde ein Haftschaden anerkannt, viele kämpfen immer noch
vor Gericht. Eine Haftentschädigung erhielten immerhin 94,1
Prozent. Für die unschuldig Inhaftierten war das ebenso wie eine
juristische Rehabilitierung »wie ein Stück Himmel«, so Plogstedt.
Es bewies nicht nur das erlittene Unrecht und die eigene Unschuld,
an die viele Freunde und Verwandte nicht glauben wollten. »Ich gehe
mit erhobenem Kopf durch die Straße, es macht einen ein Stück
größer«, so DDR-Häftling Elke Herden. Nachteile sind aber schwer zu
beweisen, wie bei konstruierten »Straftaten«, erzwungenen
Geständnissen oder frisierten Akten. Viele Dokumente sind
verschwunden, selbst Beweise gesammelt hat kein Opfer.
Bei vielen wird der Wunsch nach Rache und Gerechtigkeit übergroß.
Verbittert greifen viele frühere Häftlinge zum Alkohol. Jeder
Dritte leidet an posttraumatischen Belastungsstörungen. Noch hat
kein Opfer Selbstjustiz verübt – eigentlich ein Wunder. Ein
weiteres Problem: Westliche Therapeuten wissen oft nichts von
Stasi-Gefängnissen, den östlichen misstrauen die Opfer. Das gilt
auch für Rechtsanwälte oder gerichtlich bestellte Gutachter, die
über Versorgungsansprüche entscheiden. Zudem erinnert eine
Therapiesitzung SED-Opfer schnell an frühere Verhöre.
Auch die Angehörigen der Häftlinge litten, sofern nicht selbst in
Haft (33,3 Prozent der Ehepartner), nicht nur unter dem Verlust des
Elternteils oder Partners. Sie wurden verhört (39,3 Prozent),
bespitzelt und unter Druck gesetzt, sich scheiden zu lassen. Nur
ein Viertel der Ehen überdauerte die Haftzeit. Lohn wurde gekürzt,
sie bekamen keinen Studienplatz, mussten die Ausbildung beenden
(9,3 Prozent), sie durften ihren Beruf nicht ausüben (21,4
Prozent). Sie bekamen Krippenplätze für ihre Kinder in weit
entfernten Orten, auch wenn sie kein Auto hatten, und im
schlimmsten Fall wurden ihnen die Kinder entzogen. Alleinstehende
Frauen waren »Freiwild« für Vorgesetzte. Schließlich mussten sie
viel Geld und Zeit für die Inhaftierten aufwenden. Nach der Haft
stand ihnen meist ein völlig veränderter Mensch gegenüber, aber
niemand durfte über die Haftzeit sprechen. Auch Angehörige haben
keine eigenen Ansprüche, sie bekommen erst Witwen- und Waisenrente,
wenn »ihr« Häftling stirbt.
39 Prozent der Häftlinge gaben an, auch nach 1989 von roten
Seilschaften behindert worden zu sein. Kein Wunder: Kamen doch von
91.000 hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern gerade zwei ins Gefängnis,
von über 600.000 Spitzeln nur ein einziger. Von den kommunistischen
Richtern und Staatsanwälten erwischte es einen, von zahllosen üblen
Wärtern zwei. Die roten Verbrecher von einst sitzen heute oft
unbehelligt in Parlamenten, Rathäusern, Polizei, Justiz und
Behörden.