Rezension zu Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung
www.medizin-im-text.de
Rezension von Dunja Voos
Die »Collected Papers on Schizophrenia and Related Subjects« des
Psychoanalytikers Harold F. Searles wurden erstmals im Jahr 1965
veröffentlicht. 2008 legte sie der Psychosozial-Verlag neu auf: Das
Buch »Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung« ist
275 Seiten stark, eng bedruckt und herrlich gemütlich. Es wurde mit
großer Sorgfalt aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die
Sprache stammt ungewohnterweise aus der Zeit vor dem Internet. Man
kann schmunzeln, wenn man Formulierungen wie diese liest: »so aber
dünkt es mir völlig natürlich …« (S. 84). Erholsamerweise gibt es
keine Info-, Merkkästen oder sonstige Marginalien. In aller
Seelenruhe und höchst präzise beschreibt Searles seine Arbeit mit
schizophrenen Patienten. Gänzlich unaufgeregt, sehr nüchtern und
logisch erklärt er, wie das »Verrücktsein« entstehen und wie die
psychoanalytische Behandlung helfen kann.
»Das Bestreben, die andere Person zum Wahnsinn zu treiben – ein
Bestandteil der Ätiologie und Psychotherapie von Schizophrenie
(1959)«
Ein Blog-Leser empfahl mir in seinem Kommentar dieses Kapitel. Es
ist unglaublich interessant – für angehende Psychotherapeuten
ebenso wie für Menschen, die sich für das Funktionieren der Psyche
interessieren. Den anderen verrückt zu machen, ist manchmal ein
reizvoller Gedanke. Schon Kinder spielen Spiele, in denen sie
andere Kinder ängstlich oder »verrückt« machen wollen. Searles
schreibt, dass er glaubt, dass Menschen einen dem »Todestrieb«
vergleichbaren »Psychosetrieb« in sich haben. Wenn wir damit
beschäftigt sind, einen anderen verrückt zu machen, dann können wir
von unserer eigenen »Verrücktheit« ablenken, so erklärt er es.
Solche Vorgänge können bewusst ablaufen, aber auch unbewusst. Wenn
wir solche Gedanken und Wünsche in uns entdecken, schieben wir sie
gerne von uns.
Wenn Psychotherapeuten ihre Patienten »verrückt« machen wollen
Sehr interessant wird es an dem Punkt, an dem Psychotherapeuten und
Psychoanalytiker diese allzu menschlichen Vorgänge verdrängen.
Searles vergleicht den Psychoanalytiker mit einem Chirurgen: Wer
Chirurg ist, der heilt seine Patienten nicht nur, sondern er
verletzt und »verstümmelt« sie auch. Den Gedanken, andere verletzen
zu wollen, hat jeder mehr oder weniger dann und wann. Bewusst oder
unbewusst. Chirurgen verdrängen natürlich gerne eben diesen
Gedanken, denn sie wurden ja Chirurg, um anderen zu »helfen«.
Ebenso ist es, so Searles, mit Psychotherapeuten: Wer
Psychotherapeut wird, möchte psychisch kranken Menschen helfen.
Aber der Berufswunsch »Psychotherapeut« kann auch eine Reaktion auf
eigene unbewusste Wünsche sein, andere verrückt zu machen, so
Searles. Auch Psychotherapeuten binden sich gefühlsmäßig an ihre
Patienten. Auch sie haben manchmal die bewusste oder unbewusste
Sorge, der Patient könnte gesund werden und ihn verlassen. Solche
unbewussten Vorgänge können dazu beitragen, dass ein
Psychotherapeut streckenweise dem Patienten eben nicht hilft und
unbewusst sein Fortkommen verhindert. Solche Mechanismen können in
der Lehranalyse während der Ausbildung zum Psychoanalytiker
aufgedeckt werden. An diesen Beispielen zeigt Searles, dass es
unerlässlich ist, dass sich der Therapeut so gut wie möglich kennt,
bevor er anderen helfen kann. Denn sind die Vorgänge bewusst,
können sie gesteuert werden und man kann damit »arbeiten«. Und so
machen viele von Searles Sätzen Hoffnung:
»Es gibt so viele unter uns, die allzu gern bereit sind, diese oder
jene psychiatrische Krankheit oder diesen oder jenen Patienten
trotz einer Fülle an überzeugendem, gegenteiligem klinischem
Material als »unheilbar« zu etikettieren; diese Bereitschaft lässt
vermuten, dass wir es hier letztlich mit einer
unwissenschaftlich-hoffnungslosen Einstellung zu tun haben, hinter
der sich der unbewusste Wunsch verbirgt, diese Patienten in ihrer
Krankheit festzuhalten.« …
»Durch meine Arbeit mit chronisch psychotischen oder neurotischen
Patienten, durch meine Tätigkeit als Kontrollanalytiker bei fast
zwanzig anderen Therapeuten in Chestnut Lodge … habe ich immer
wieder bemerkt, wie gern wir im Verlauf unserer Arbeit mit einem
Patienten eine hoffnungslose Haltung entwickeln, damit wir
unbewusst der zwar verleugneten, aber desungeachtet starken
Befriedigung teilhaftig werden, die uns ein symbiotischer Modus der
Patient-Therapeut-Beziehung liefert. In dieser Phase wehren wir
uns, sei es auch noch so unbewusst, … gegen die Einsicht, dass der
Patient wesentliche Fortschritte machen könnte – Fortschritte, die
sich, das sagt uns eine innere Stimme, in Bälde einstellen dürften.
Immer wieder geht einem entscheidenden Fortschritt der Therapie
solch eine Phase der Hoffnungslosigkeit von Patient und Therapeut
voraus, eine Hoffnungslosigkeit, die sich später rückblickend
darauf zurückführen lässt, dass sich beide Partizipanten an ihre
wechselseitige symbiotische Beziehung geklammert haben.« (S.
91)
Fazit: Das Buch ist eine Wohltat und lädt dazu ein, es in Ruhe zu
lesen. Lässt sich der Leser auf Searles’ Ausführlichkeit ein, kann
er sich wunderbar in dieses Buch vertiefen. Searles erklärt jede
seiner Beobachtungen logisch, so dass er den Leser selten mit
offenen Fragen zurücklässt. Es ist so ganz anders als all die
modernen Leitlinien, die von Zeitnot, »Strategien«, »Zielen« und
dem Druck der »Wirtschaftlichkeit« geprägt sind. Es ist nicht
zerstückelt von Pharmakotherapie, Neuroanatomie oder bildgebenden
Verfahren. Es konzentriert sich alleine auf das Befinden und die
Bedürfnisse des Patienten und Therapeuten. Beim Lesen kann da
leicht ein wehmütiges Gefühl aufkommen: das Gefühl, dass man in
Searles’ 50iger Jahren in gewisser Hinsicht »weiter«, oder besser
gesagt: ungestörter, war als heute, was die Psychotherapie von
Psychotikern betrifft.
www.medizin-im-text.de