Rezension zu Familiendynamik bei spätadoptierten Kindern
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Rezension von Ursula Walter
Celina Rodriguez Drescher legt mit dieser Untersuchung eine
wesentliche und unkonventielle Perspektive vor. Einerseits hat die
promovierte Diplom-Psychologin viel Literatur und Wissen aus der
Forschung zur Adoption, zu Entwicklungsverläufen adoptierter Kinder
und deren Familien zusammengetragen. Andererseits hat sich die
Autorin ganz persönlich und ausführlich in Einzelfallstudien in
konkrete Lebensgeschichten hineinbegeben und lässt die LeserInnen
teilhaben an diesen Begegnungen mit den je eigenen Geschichten aus
den unterschiedlichen Perspektiven der Adoptierten, der
Adoptionseltern und der Untersucherin. Daraus werden die konkreten
Gefühlsqualitäten der Beteiligten vermittelt. Diese wiederum werden
in die begleitend vorgestellte Literatur mit allgemeineren
Forschungsresultaten eingeordnet.
Dieses Oszillieren von generellen Aussagen und konkretem Erleben
ist sehr anregend und ermöglicht einen eigenen Lernprozess bei der
Lektüre.
Die doppelte Perspektive findet sich auch bei den inhaltlichen
Aussagen der Studie.
Da gibt es einerseits den gezielt gerichteten Blick auf die
Situation der Adoption. Was bedeutet das für die Adoptiveltern und
deren Verständnis von sich selbst? Welche Rolle spielt die innere
und z.T. äussere Realität einer ersten, leiblichen Mutter ,
biologischem Vater in der aktuellen sozialen Familie? Welchen
Selbst- und Stellenwert geben die Adoptierten ihrer
Familienerfahrung und sich selbst in dieser Dynamik?
Da gibt es aber andererseits – und das war für mich das Spannendste
an diesem Buch – auch die Geschichte von Erfahrungen überhaupt,
die, unabhängig von der Adoption«, die in einer Familie gemacht
werden – durch die Heranwachsenden, die Eltern, allfällige
Geschwister. Diese können fördernd, bestätigend, verunsichernd und
erschwerend sein. Durchgehend sind im Text Familien« die sozialen
Familien, in denen die Kinder / Jugendlichen aufgenommen wurden und
aufgewachsen sind.
Der empirischen Studie zur Spätadoption« liegt ein Ansatz des
Jugendamtes Frankfurt zu Grunde, das 1979-1985 gezielt langjährige
Heimkinder in Adoptivfamilien vermittelte. Die Untersuchung erfasst
junge Erwachsenen, die zum Zeitpunkt der Untersuchung 19 – 24 Jahre
alt waren und deren Familien.
Das Buch ist aufgebaut in einen Teil Literaturübersicht und
allgemeine Grundlagen, dann wird die Studie methodisch vorgestellt,
es folgen 5 Einzelfallstudien, dann Auswertung und Diskussion der
Ergebnisse mit vielen spezifischen Themen und zum Schluss ein
Praxisbezug mit Schlussfolgerungen für die
Vermittlungstätigkeit.
Dem ganzen Duktus spürt man an, dass Celina Rodriguez Drescher in
ihrer Tätigkeit in Coaching, Führungsentwicklung, Lehrtätigkeit an
Fachhochschulen und Universitäten, sowie in der Beratung für
soziale Institutionen, Adoptionsbewerber und Adoptiveltern immer im
Gespräch ist. Im Gespräch zeigt sie sich als jemand, die gut zuhört
und beobachtet und aufnimmt, was vom andern kommt, die gleichzeitig
wach und aufmerksam ist für das, was das Gegenüber in ihr auslöst
und die das dann kombiniert mit dem profunden professionellen
Wissen auch wieder zur Verfügung stellt.
Dieses Gefühl stellt sich auch bei mir als Leserin ein und diese
wache Offenheit für das Gegenüber und das Eigene ist in gewissem
Sinn auch die Quintessenz dessen, was sie in den untersuchten
Familien als wichtigste Ressource herausschält: Das offene Gespräch
zwischen Eltern und Kindern, Akzeptanz der Geschichte beider
Seiten, so wie sie sind – und Zuversicht und Durchhalten auf gute
lebensfähige Entwicklungen hin. Das Buch vermittelt etwas
Emanzipatorisches, weg von den Clichés hin zur erlebten
Wirklichkeit und damit weg von idealisierenden Träumen hin zum
gestalteten Zusammenleben.
Es ist ein schweres Buch: keine Adoption kommt zustande ohne
vorausgegangenen, oft traumatischen Mangel. Es ist aber auch ein
stärkendes, zuversichtliches Buch: in der Adoption können neue Wege
gesucht und gefunden werden. Ich finde das Buch wirklich
ausserordentlich «lehrreich« für alles, was mit Adoption, aber auch
mit Familiendynamik überhaupt zu tun hat.
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