Rezension zu Die Entstehung des Seelischen
Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, Heft 151/Jg. 3/2011 Brandes & Apsel Verlag
Rezension von Anna Gätjen-Rund
Mit einer Kaskade von elementaren Fragen beginnt die Einführung in
diesen Band. Fragen, die verdichtet Annahmen zur
Entstehungsgeschichte des Seelischen diskutieren. »Die Entstehung
des Seelischen ist naturgemäß eines der schwierigsten und
dunkelsten Probleme innerhalb der Psychoanalyse«, so der
Herausgeber Bernd Nissen. In diesem Sammelband gehen acht
Psychoanalytikerinnen und acht Psychoanalytiker dem ewigen Thema
aller philosphischen Schulen nach, der Frage, wie entsteht die
Psyche, wie ist das Leib-Seele Verhältnis zu denken? Was ist am
Seelischen real und was ist imaginär? Mit diesen unabschließbaren
Fragen taucht der Leser in sehr unterschiedliche Welten
psychoanalytischer Forschung ein.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, in Teil I sind Arbeiten mit
theoretisch-konzeptuellen Schwerpunkten zu finden. Der Teil II wird
kinderanalytischen Arbeiten mit klinischen Schwerpunkten gewidmet.
In Teil III sind dann psychoanalytische Beiträge aus Kinder-und
Erwachsenenbehandlungen mit unterschiedlichen klinischen Bildern
versammelt.
Den Auftakt der Suche nach Antworten übernehmen Heinz Weiß und
Gerda Pagel mit ihrem Aufsatz: »Zur Entstehung des Psychischen: Ein
Vergleich der Theorien J. Lacans und W. R. Bions«. Dieser auch
philosophische Streifzug eröffnet das Feld und sucht nach
Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Autoren. Einen zweiten
Versuch unternimmt Philipp Soldt mit: »Affektsymbole als früheste
Strukturen des Psychischen«. Ihm geht es um die Herausarbeitung
geeigneter Begriffe, eben dem Konzept der Affektsymbole, um der
Frage der Entstehung des Seelischen nachzugehen. Dieser Aufsatz
fällt durch sein anderes Bezugsystem, dem der Affektforschung, aus
dem Kontinuum der anderen Aufsätze heraus. Mit Antonino Ferro wird
das fast allen Artikeln zugrundeliegende Denken Bions wieder
aufgenommen und mit »Ferro verfeinert«, der sich deshalb in die
Position eines »idiotischen Wiederkäuers« von Bion versetzt, um zu
sehen, »welche der heutigen Untersuchungsinstrumente für die
Erweiterung des psychoanalytischen Denkens nützlich sind.«
Psychoanalytisches Denken ist für Ferro aus der Begegnung der Ideen
von Freud, Klein und Bion geboren. Teil II ist sicher für die
kinderanalytisch arbeitenden Kollegen herausragend, er fokussiert
»hautnah« praktisch-klinische Fragen kinderanalytischer Arbeit.
Allen klinischen Aufsätzen ist die Bezugnahme auf Bion und vor
allem F. Tustin gemeinsam. F. Tustin (1986) macht uns deutlich,
dass das autistische Kind den eigenen Körper so empfindet, als
ginge er nahtlos in den der Mutter über. Diese Vorstellung Tustins
durchzieht die Themen aller kinderanalytischen Arbeiten. Chiara
Cattelan beschreibt auf ergreifende Weise die dreistündige
Behandlung des dreijährigen Luigi, eines autistischen Jungen. »Ich
wiederhole, also bin ich.« Das Ausmaß notwendiger Geduld in einer
solchen Behandlung wird nachfühlbar. Ganz konkret kann man die
Arbeit mit Luigi verfolgen: die Bedeutung von Nachahmung,
körperlichen Kontakt, sprechenden Handlungen und dem Blick, als
Zentrum der Kontaktaufnahme. Theorie und Praxis wird von Cattelan
hierbei mühelos verzahnt.
Maria Rhode erzählt von Roland, einem Kind mit einem angeborenen
Defekt eines Magenventils und einer schweren Herpeserkrankung.
Luisa C. Busch de Ahumada & Jorge L. Ahumada berichten unter der
Überschrift: »Autistische Mimesis im Medienzeitalter« von Juan,
3;10 Jahre alt. Beeindruckend ist die detaillierte Beschreibung der
Behandlung von Juan, der, aufgrund der arbeitsbedingten
zwölfstündigen Abwesenheit der Eltern, die meiste Zeit vor dem
Fernseher verbrachte, und im »Fernseh-Spanisch« spricht und zu
seiner »Fernseh-Mama« möchte. Der nebenbei formulierte Anspruch,
einen Beitrag zu den psychischen Folgen der Medienherrschaft zu
liefern, wirkt allerdings etwas überspannt.
Im dritten Teil: »Psychoanalytische Beiträge mit unterschiedlichen
klinischen Bildern« reihen sich nun ganz verschiedene Aufsätze, mit
ausgesprochen packenden Fallgeschichten aneinander. Jeder eine
Entität für sich und mit unterschiedlichen Theorien operierend.
Der Aufsatz von Angelika Staehle würde mit ihrer kinderanalytischen
Fallgeschichte eher gut in den zweiten Teil hineinpassen. In der
anrührenden Beschreibung der viereinhalbjährigen stummen Anna
operiert die Autorin mit den klinischen Arbeiten von Esther Bick
und Donald Meitzer, die Fragen vorsprachlicher Kommunikation
fokussieren. Didier Houzel, Bernd Nissen, Gerhard Schneider, Judith
L. Mitrani, Theodore Mitrani und Laura Viviana Strauss verfolgen
die Spur des seelischen Ursprungs in ihren anregend geschriebenen
Fallgeschichten auf je sehr eigene Art und Weise. Alle sind
anschaulich zu lesen, manche nicht nur für Fachkollegen. Sie
vermitteln ein buntes erkenntnisreiches Bild von vielfältigen
klinischen Phänomenen: wie mutistischer Rückzug, autistische
Einkapselung, autistoide Empfindungen, schwere Formen der
Hypochondrie, psychosomatische Symptome, persistierende
Schmerzpathologien, depersonale oder Als-ob-Zustände und
selbstverletzende Attacken.
Am Ende steht ein Aufsatz von Christa Maria Burr über
hypochondrische Körperstörungen, der sich einer anderen
Betrachtungsweise bedient, nämlich der franco-ibero-argentinischen
Psychoanalyse. Die Fallgeschichte eines dreißigjährigen
hypochondrischen Mannes, wie die kleine Einführung in die in
unserem Sprachraum immer noch eher fremden Ideen der
Psychoanalytiker Rodulfo-Aulagnier-Sami-Ali, ist ein gelungenens
i-Tüpfelchen dieser heterogenen Zusammenstellung. Doch vielleicht
ist es gerade diese Heterogenität, die der diffizilen
Forschungslage dieses undurchdringlichen Feldes »früher
Pathologien« am ehesten gerecht wird.
Mit der doppelten Perspektive eines Blickes in das
kinderanalytische und das erwachsenenanalytische Behandlungszimmer
unternimmt dieser Band ein viel zu selten gewagtes und sehr
gelungenes Unterfangen.