Rezension zu Internationale Psychoanalyse Band 4-11

DGPT Newsletter (Nr. 86/August 2011)

Rezension von Michael B. Buchholz

Ich weiß, es gibt auch in deutschen psychoanalytischen Familienbanden die Fraktion der Londonfahrer, die von anderen wie Pilger des Mittelalters angesehen werden. Andere schwören auf die französische Lehre und auch aus Italien kommen sehr interessante Impulse. Verhalten wir uns also nicht mittelalterlich, indem wir Glaubenskriege im Namen der einzigen und wahren Wahrheit anzetteln. Eine solche Friedfertigkeit wird uns im englischen Fall seit einigen Jahren leichter gemacht, weil wichtige Beiträge aus dem International Journal of Pychoanalysis zunächst durch die Initiative von Gabriele Junkers auf Deutsch übersetzt und in drei handlichen Bänden der »edition diskord« thematisch gebündelt wurden. Diese Initiative hat Angela Maus-Hanke fortgesetzt – bislang ebenfalls drei Bände, nun im Pychosozial-Verlag. Wer etwas genauer wissen möchte, was da in den letzten Jahren in jenem ominösen London geschrieben und gedacht wird, dem möchte ich empfehlen, diese – insgesamt 6 – Bände in die Hand zu nehmen. Sie sind fast immer vorzüglich übersetzt, sorgfältig ediert und fassen Beiträge zu klinisch relevanten Themen auf eine Weise zusammen, so dass man zu sehen beginnt: so einheitlich ist selbst dieses »London« gar nicht. Aber, einer guten britischen Tradition folgend, sehr gesprächig, sehr diskursiv, sehr argumentativ, intellektuell mit britischem understatement und klinisch zugleich feinfühlig. Man merkt sogleich: zum Gefühl und der Gegenübertragung muss das Denken dazu kommen, wenn man ein guter Kliniker sein möchte. Kein Wunder in einer so von Bion beeinflussten Welt. Das Erfreuliche ist, ganz nebenbei auch, dass man auch hierzulande nicht bei den »Controversial Discussions« der vierziger Jahre hängen zu bleiben braucht, auch wenn die Beiträge öfter mal eine solche Wurzel erkennen lassen. Endlich kommt man über die Kontroversen der analytischen Großelterngeneration mal hinaus!

Das bekannte Buch von Charles Dickens kommt mir in den Sinn, der Titel »Große Erwartungen« klingt an, wenn man die Bände 4-6 dieser Serie, jetzt aus dem Psychosozial-Verlag, in die Hand nimmt. Sie werden, wie schon gesagt, von Angela Maus Hanke (2009-2011) herausgegeben. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt einen sofort erkennen, dass hier erhebliche thematische Erweiterungen anvisiert werden. Das schon angesprochene Buch von James Grotstein über Bion »A Beam of Intense Darkness« wird in einem ausführlichen Buchessay von Antonino Ferro besprochen, es gibt einen Beitrag über den »Körper in der analytischen Sitzung« oder über den Analytiker als »ausgeschlossenen Beobachter« – und schon ist man als Kliniker angesprochen. Denn diese Titel sind, mit Christopher Bollas so etwas wie »evokative Objekte«; sie rufen sofort Erinnerungspotentiale an analytische Sitzungen auf. Wie es aber so geht, kann man solche Texte kaum besprechen, ohne die jeweiligen illustrativen Fallgeschichten mit zunehmen - und dabei verkürzen sich bereits notwendigerweise verkürzte Darstellungen noch einmal. Ich empfehle unverdrossen die Selbstlektüre und wende mich jenen Aufsätzen in diesen Bänden zu, die neue Thematisierungen anbieten.

Lawrence S. Spurling etwa fragt: »Gibt es in der Psychoanalyse noch einen Platz für das Konzept der ›therapeutischen Regression‹?« Dieser Autor bekennt zunächst seine tiefe Ratlosigkeit hinsichtlich des Konzepts der Regression. Was eigentlich ist damit gemeint? Bollas etwa denkt an jene Phasen im analytischen Prozess, wo man seinem Patienten vermittelt, es sei nicht unbedingt erforderlich, dass er ständig von sich berichte oder sich gedanklich exploriere, sondern eher das Brachliegenlas sen sich gewähren könne. Diese Idee ist von Balint inspiriert, der die Grundstörung in Zuständen solcher benigner Regression ausheilen lassen wollte. Und zwar unter Verzicht auf therapeutische Intervention. Aber: »Das Problem war, dass meine Patienten einfach nicht so regredierten, wie es in der Literatur beschrieben wurde« (S. 114) ruft Spurling, beinah etwas verzweifelt, aus. Liegt es am Mangel eigener Erfahrung, an fehlendem Zutrauen, fragt er sich?

»Aber auch zunehmende klinische Erfahrung und Selbstverstrauen, besonders durch die Arbeit mit schwerer gestörten Patienten in intensiveren und längeren Behandlungen ... brachten nicht die erwartete Einsicht in das bis dahin unerkannte Bedürfnis der Patienten, in eine Regression zu fallen. Im Gegenteil bestätigte sich lediglich, dass die Idee, meine Patienten durchliefen eine therapeutische Regression, für mich anscheinend obsolet geworden war.« (5. 115)

Die erneute Wendung in die Literatur erbringt dem Autor eine weitere Entdeckung: Jetzt konnte er sie in der Literatur nicht mehr erkennen.

»Entweder das beschriebene Phänomen der Patient kommt mit körperlichen oder präsymbolischen Erfahrungen oder Gefühlen in Berührung, der Patient empfindet ein Bedürfnis nach Schweigen als dem Vorläufer von Denken oder Fühlen usw. - unterschied sich für mich nicht sonderlich von den normalen Dingen, die Patienten in der Behandlung tun, und schien den Gebrauch eines speziellen Begriffs nicht zu rechtfertigen. Oder der Autor beschrieb eine Verbindung zu seinem Patienten, die intensiver war als die sonst in einer Therapie oder Analyse auftretenden starken Übertragungsgefühle und behauptete damit, dem Patienten eine andere Ebene der Erfahrung zu eröffnen, die ihm nur zugänglich ist, weil er das Glück hat, mit einem Analytiker zu arbeiten, der an den Wert der therapeutischen Regression glaubt.« (S. 115).

Der stark von Winnicott beeinflusste Autor liest erneut die Literatur, auch Winnicott. Er findet, dass Regression in drei Bedeutungen verwendet wird: a) Als Evokation des Primitiven, b) als Forderung nach Verzicht auf Intervention, c) als Phase in einer Behandlung, die durch den Verzicht auf die analytische Standardtechnik gefördert werden soll. In einer Diskussion einiger Fälle von Hanna Segal, die auch bereits von anderen Autoren diskutiert wurden, erkennt er, dass sie - die relativ aktiv die Denkverweigerung bzw. den

»Hass auf das Denken« ihres Patienten deutete – , nicht etwa »falschq intervenierte, »sondern dass die Prämissen ihres klinischen Denkens sie daran hinderten, den regredierten Zustand ihres Patienten zu erkennen, und daher (unbeabsichtigt) eine Verletzung dessen darstellten, was Winnicott den Prozess des Patienten nannte, der /'bei jedem Patienten ein eigenes Tempo und einen eigenen Verlauf hat ... So betrachtet ist es manchmal das oberste Ziel der Analyse, den Prozess des Patienten vor Übergriffen zu schützen, besonders wenn der Patient in eine schwere Regression gerät.« (S. 121)

Hängt also die Idee der therapeutischen Regression, von der die Autoren ja annehmen, dass manche Patienten sie »brauchen«, eher damit zusammen, welche Prämissen des klinischen Denkens der Therapeut oder die Therapeutin selbst hat? Immerhin würde eine solche Annahme ja dann plausibel machen, dass manche Patienten »das Glück« hatten, von dem Spurling oben sprach – mitentscheidend ist offensichtlich, was der Analytiker denkt über das, was da in der Sitzung geschieht und das wiederum steuert, wie er die Dinge auffasst und was er sagt oder ob er schweigt. Spurling beschreibt genau die Fähigkeit Winnicotts, sich detailliert an die Bedürfnisse seiner Patienten anzupassen und er denkt an die »Katastrophen«, wenn diese Anpassung einmal versagt, weil der Analytiker erleichtert (im Geist, nicht in der Realität) »sozusagen in Urlaub« geht, wenn es dem Patienten besser zu gehen beginnt. Aber Spurling fragt mit großer Berechtigung, ob solche Anpassung an den Patienten nicht geradezu eine »Erwartungs- und Anspruchshaltung beim Patienten« wecke, »die die unumgängliche Enttäuschung um so bitterer und gehässiger macht.« (S. 127)

Man merkt den großen klinischen Ernst, der hier zum Tragen kommt, denn solche Erfahrungen bilden den klinischen Hintergrund dieser Diskussion. Die Annahme des Analytikers, er habe beinah die Totalverantwortung für seinen Patienten wird besonders bedrohlich, wenn eine Suiziddrohung im Raume steht - und gerade hier wird es entscheidend, als was der Analytiker das Geschehen auffasst: als schwere Regression? Oder als Phase der Niedergeschlagenheit, einer Kränkung, als manische Flucht oder enttäusche Omnipotenz. Spurling stellt nämlich in seiner Diskussion der Winnicott/'schen Fallbeispiele nüchtern fest, dass Winnicott kein Wort darüber verliert, was er eigentlich meint, was bei seiner Patientin los war – er hatte einfach zufällig ein paar Dinge im Behandlungszimmer, genauer auf seinem Schreibtisch, umgestellt und das Wüten der Patientin daraufhin, die das sofort registrierte, galt ihm als »Katastrophe«. Aber wieso eigentlich? Und gibt sich ein Analytiker mit einem solchen Konzept vielleicht allzu sehr in die Gefahr der Erpressbarkeiten? Oder macht stillschweigend Versprechungen der Bedürfnisbefriedung, des Nachheilens oder des besseren Objekts? Versprechungen, die er nicht halten kann und die der Patient dann als letztlich vielleicht sogar sado-masochistisches Arrangement verstehen könnte? Der Autor jedenfalls entschließt sich, auf das Konzept der Regression zu verzichten: »zu bedeutungsleer, um brauchbar zu sein«. Aber er anerkennt, dass manche Konzepte dennoch ihren Wert behalten, solange sie das Denken von Klinikern erweitern können. Nun, dieser Schluss ist nach meinem Geschmack nun doch etwas zu versöhnlich, denn seine Kritik ist wohl formuliert, deutlich und prägnant und hat das Potential, manches ins Wanken zu bringen, dem wir unsere Bereitschaft zu glauben dargebracht.

Robert D. Hinshelwood schließt mit einem Beitrag an, der »Verdrängung und Spaltung« einer vergleichenden Konzeptbetrachtung unterziehen will. Solche Vergleiche gehören ebenso zur Wissenschaft wie die Durchführung empirischer Untersuchungen, sie werden viel zu selten gemacht. »Kontroversen sind der Ausgangspunkt der Entwicklung«, so wird Bion von Hinshelwood gleich zweimal, gewissermaßen sicherheitshalber zitiert. Denn die Frage, ob Spaltung oder Verdrängung im Zentrum stehen, hat mit zu den historischen Kontroversen beigetragen. Hoffen wir also, dass sie wirklich zur Entwicklung beitragen; manchmal können einem ja Zweifel kommen, da diese alten Kontroversen immer noch flackern und das ungelöschte Potential zur Entzündung von alten Flammen haben. An solchen Entzündungen erkrankt manches.

»Historisch betrachtet tendierten die Vertreter der klassischen Psychoanalyse dazu, sich mehr auf den Begriff der ›Verdrängung‹ zu beziehen, wenn es um das Verständnis psychischer Abwehrmechanismen ging, während Kleinianer eher den Begriff ›Spaltung‹ anwandten« (S. 144)

Das ist das Hinweisschild auf das alte Minenfeld, das noch nicht ganz abgeräumt ist. Hinshelwood nimmt sich vor, die Begriffe zunächst semantisch und dann am klinischen Material zu klären. Zur Verdrängung bei Freud erinnert er daran, wie geradezu einfach und phänomenologisch genau Freud von Verdrängung als »Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten« sprach; erkennbar sei die Verdrängung, wie die Analyse der Fehlleistungen immer erneut zeigt, am Auftauchen von Ersatzvorstellungen. Dann aber schreibt Hinshelwood:

»Klein übernahm Freuds Auffassung, dass die Ersatzvorstellung die Grundlage der Verdrängung ist, verstand sie aber darüber hinaus als Grundlage der Sublimierung und der Symbolbildung...« (S. 146)

Schon ist man in der Küche des Teufels gelandet. Denn an diesem kleinen Satz stimmt gar nichts.
Hier lese ich das englische Original deshalb nach, es lautet so:

»Klein accepted Freud/'s view of substitution, as the basis for repression, but extended it as the basis of sublimation and symbol-formation« (Int. J. Psychoanal., June 2008,S.506)

Man sieht, es ist richtig übersetzt, aber der Inhalt ist fragwürdig. Im Englischen ist die Rede von Freuds Auffassung von den Ersatzvorstellung »as the basis for repression« – und das eben war nicht Freuds Auffassung! Die Ersatzvorstellung waren nicht »basis«, waren nicht »Grundlage« der Verdrängung, sondern deren – Folge! Die zeitliche Reihenfolge ist genau anders herum. Das ist kein geringfügiger Unterschied!

Klein konnte also nicht »übernehmen«, weil Freud die Ersatzvorstellung ja gerade nicht als »Grundlage«, sondern als Folge der Verdrängung beschrieb! Hier ist die Hinshelwoods semantische Analyse nicht genau genug, die Differenz zwischen Freud und Klein wird – in diesem Satz jedenfalls überspielt. Wer von beiden die Dinge richtig sah, ist damit ja noch überhaupt nicht angesprochen. Aber es geht um ganz unterschiedliche Konzepte.

Ähnliche Schwierigkeiten empfinde ich bei der Darstellung der Verleugnung, die sich zunächst gegen die äußere Realität gerichtet habe. Freuds Analyse des Fetischismus zeigte dann in der klassischen Auffassung, dass die Verleugnung sich gegen eine ganz bestimmte Realität richte, nämlich gegen den »Penismangel der Frau« (S. 148). Die »Ich-Spaltung im Abwehrvorgang«, wie Freud seinen späten Text betitelte, verhindere gerade eine Integration, die Hinshelwood so beschreibt:

»Zunehmende Reife bedeutet allerdings, die Realität schließlich doch zu akzeptieren, aber die Verdrängung ist bereits geschehen, und das Wissen um die Kastration wird unbewusst.«

Halt – möchte man ausrufen: Welches »Wissen«? Eine Frau ist doch gar nicht kastriert! Dass sie »kastriert« sei, ist doch eine unbewusste Phantasie (weshalb man die Formel von der »Kastration der Frau« beständig in Anführungszeichen schreiben muss). Hier müsste also dringend ein »Wissen« von einer »Phantasie« unterschieden werden. Die Nivellierung dieses Unterschieds hat nun weitreichende Folgen. Es geht dann so weiter: »Allerdings führt die verdrängte Akzeptanz dieses Wissens beim Fetischisten nicht zur Aufhebung der Verleugnung. Wegen einer ›Schwäche‹ des Ichs, dem die normale Integration fehlt, bestehen diese Abwehrprozesse nebeneinander fort. Mit dieser Art der Spaltung wird die normale Realitätswahrnehmung aufrechterhalten, die in einem anderen Ich-Anteil mit aller Kraft geleugnet wird. Dies lässt vermuten, dass es zunächst zur Verleugnung (Verneinung) der Realität des weiblichen Mangels kommt und das Ich sich erst danach spaltet, damit es zu einer reiferen Entwicklung der Verdrängung kommen kann, ohne die Verleugnung aufgeben zu müssen« (S. 148)

Man sieht, das Weglassen der Anführungszeichen hat nicht geringe Folgen. Da ist erneut die Rede von der »Realität des weiblichen Mangels« aber in welchem Sinne, in wessen Sinn ist das »Realität«? Der Fetischist hält mit einem Teil an der unbewussten Phantasie fest, während er sich mit einem anderen Teil seines Ich an die »normale Realitätswahrnehmung« anpasst. Die knifflige Frage ist, ob man in solcher Spaltung einen unbewussten Abwehrvorgang annehmen muss? Ist »Spaltung« dann eigentlich ein aktiver Abwehrmechanismus oder ist Spaltung nicht vielmehr die Folge von diesen Vorgängen? Obwohl Hinshelwood an dieser Stelle die Spaltung klar als eine Folge, also als einen Zustand des Ichs infolge von Verleugnung und Verdrängung beschreibt, nennt er kurz darauf die Spaltung als einen aktiven Abwehrmechanismus, der zu den beiden anderen hinzukomme und spricht von einer »komplexen Organisation von drei Abwehrformen: Verdrängung, Verleugnung und Spaltung« (S. 149)

Da wird, leider, in Hinshelwoods semantischer Analyse manches überhaupt nicht klar. Er zitiert andere Autoren wie Pruyser, die forderten, auf den Begriff der Spaltung überhaupt zu verzichten, eben weil daran überhaupt nichts klar sei: Spaltung werde im Sinne Freuds ebenso verwendet wie als Klein/'sche »Vernichtung«, aber auch als Analogon der Verdrängung und schließlich auch als gewöhnlicher Konflikt. Resignation klingt aus Hinshelwoods Satz: »Das Durcheinander so so groß, dass Pruyser recht haben könnte« (S. 153). Resignieren freilich will der Autor nicht. Seine klinische Analyse nun ringt mit ähnlichen Schwierigkeiten. Schon der Anspruch, dass nur aus der Erinnerung des Analytikers stammendes klinisches Material »bei der Beantwortung dieser Fragen eine entscheidende Rolle spielen und nicht nur zur Veranschaulichung dienen kann«, ist besonders hoch gehängt und muss zwangsläufig in große Schwierigkeiten einmünden, wenn es um einen selbst behandelten Fall geht. Ich rate einmal, sorgfältig zu lesen und sich dann die Frage vorzulegen, ob eine Patientin, die davon spricht, bestimmte Gedanken und Erfahrungen »klein gehackt« zu haben und sie durch den »Schredder« laufen zu lassen, nicht einen sehr bewusstseinsfähigen Akt beschreibt? Wieweit kann man von einem unbewussten Abwehrmanöver sprechen, wenn die Patientin in der Stunde so luzide diesen Vorgang beschreibt und das zumal in Reaktion auf manche therapeutische Äußerungen? Handelt es sich nicht auch um eine Redeweise, die für heutige Patienten geläufig ist, man kann solche Wendung in Songs hören, in Talkshows und ich habe die Wendung vom »Schredder« auch schon ein paarmal vernommen. Als moderne Metapher für – ja für was? Für Verdrängung oder eben für Spaltung? Nein, für einen bewussten Vorgang des sich nicht Beschäftigen-Wollens mit unangenehmen Dingen. Durch Kleinarbeiten. Dass dieser Vorgang selbst wiederum unbewusste Hintergründe hat, darf man annehmen. Aber kann man vom ,»Schredder« direkt auf Spaltung schließen??? Hinshelwood deutet diesen Vorgang freilich sehr viel tiefer und kennt seine Patientin natürlich, dennoch bleibt seine Folgerung, man könne an solchem Material ,»valide zwischen der Verdrängung eines Inhalts und dem Verlust einer Ich-Funktion unterscheiden« (5. 161) nicht überzeugend.

Aber darin besteht auch nicht Wert oder Unwert eines solchen Beitrags. Sondern in der hoffentlich lebhaften Reaktion darauf. Denn Kontroversen sind der Ausgangspunkt der Entwicklung. So ist es und das kann nicht ausbleiben. David Tuckett und Richard Taffier präsentieren ihre ausgefeilte psychoanalytische Sicht auf die Turbulenzen der Finanzmarkte. Ausgangspunkt ihres Versuchs, das klinische Wissen der Psychoanalyse zur Erklärung hier einzubringen ist die enorme Unsicherheit und Vieldeutigkeit, unter der die Akteure entscheiden. Das mobilisiert geradezu zwangsläufig erhebliche Phantasiebeziehungen zu den Finanzprodukten, deren Abstraktheit gleichsam auf dingliche Konkretion herunter gedrückt werden muss, um damit überhaupt hantieren zu können. Wahn und Sinn muss auch hier nebeneinander produziert werden – und manchmal kaum unterscheidbar. Die mit Akteuren geführten Interviews zeigen deutlich, dass die Unsicherheit sich nicht nur auf sachliche Entscheidungen erstreckt, sondern v.a. darauf, dass nie sicher ist, ob Gewinne eigentlich der Selbstwirksamkeit eines Akteurs, etwa eines Fondsmanagers, zugerechnet werden können oder eher zufällig eingetreten sind – und Verlust dann natürlich ebenso. Der amerikanische Großinvestor Warren Buffett hat es einmal so ausgedrückt, dass man im Fall von Investition von »keiner Korrelation zwischen Aktivität und Erfolg ausgehen« könne (FAZ vom 4. Juli 2011).

Diese Akteure sind in einem psychologischen Sinn waghalsige Agenten, die sich gewissermaßen oft genug brüsten müssen mit Erfolgen, von denen sie selbst am ehesten wissen, wie wenig davon tatsächlich ihrem eigenen Einflussnehmen zugerechnet werden kann. Denn es gibt »kaum Belege dafür, dass ein Fondsmanager oder ein beliebiger anderer Investor die Marktperformance systematisch und dauerhaft übertreffen kann, es sei denn, er hätte einfach Glück... Wenn Manager überleben, dann vielleicht nur, weil sie überdurchschnittliche Risiken eingehen und Glück haben; die anderen, die ebenso viel riskieren und weniger Glück haben, verlieren ihren Job. Unter diesen Bedingungen wird Abspalten belohnt.« (S. 258)

Spaltung wäre hier also nicht ein früher Abwehrmechanismus, sondern eine aktualisierte Tendenz zur Überlebens- und Illusionssicherung. Auch dies zeigt noch einmal einen weiteren Bedeutungsgebrauch des Spaltungsbegriffs.

Wie sehr sich die Psychoanalyse in einzelnen Ländern ihren weit diversifizierten Traditionen überlässt, kann auch der Beitrag von Evelyne Sechaud zeigen, der von der Handhabung der Übertragung in der französischen Psychoanalyse berichtet. Sie beginnt mit der Feststellung, dass die französische Psychoanalyse selbst »heute außerordentlich vielgestaltig« sei. Natürlich kommt diese Autorin auf Lacan zu sprechen, natürlich aber auch auf die ursprüngliche Auffassung Freuds von der Übertragung als einer Mesalliance. Die unbewusste Vorstellung nämlich, so wird Freud zitiert, sei überhaupt unfähig, ins Vorbewusste zu gelange und kann dort nur eine Wirkung erzielen, indem sie sich mit einer dem Vorbewussten bereits angehörigen Vorstellung liiert und sich »durch sie decken lässt«. Diese Kursivierung ist bereits in Freuds Original (hier S. 179). Die Übertragung kommt also mit solchen Worten, die »Mesalliance« deutet es ja an, durchaus aufs Wiener Parkett. Michel Neyraut hatte das in seiner unübertroffenen Studie von 1976 deutlich gemacht. Die behandlungstechnische Kniffligkeit entsteht nun daraus, dass die Übertragung zu hundert Prozent wirkt; das bedeutet, sie kann nicht einfach durch eine Deutung aufgelöst werden. Die Autorin zitiert Pontalis:

»Die Übertragung disqualifiziert eine Deutung als solche, indem sie sie als Suggestion, als Geschenk, als Ablehnung, als Angriff oder als Gegenangriff qualifiziert.« (hier S. 185)

Die Übertragung, so Pontalis weiter, könne deshalb nicht Gegenstand einer Deutung sein! Das ist ein gewaltiger Kontrapunkt zu dem, was die meisten hierzulande denken. Ich löse den Knoten hier nicht, weil ich ja möchte, dass diese Texte gelesen werden; Frankreich ist immer einen Krimi wert, denn just so spannend kann klinische Debatte sein.

Auch wenn der Band des Jahres 2009 noch weitere reiche Beiträge enthält, springe ich doch jetzt in den des Jahres 2010, weil hier ein Beitrag von Deborah Anna Luepnitz in gelungener Übersetzung erschienen ist, der vom »Denken im Raum zwischen Winnicott und Lacan« handelt. Diese beiden prominenten Analytiker haben sich gegenseitig mit persönlichem Respekt behandelt, aber ihre Anhänger haben sich geweigert zu lesen den je anderen. Das ist das, was Stepansky auch für das Verhängnis der amerikanischen Psychoanalyse angesehen hat. Es bildeten sich so lokale Gruppierungen, die untereinander nur oberflächlichen Kontakt halten und es sich erschweren, die konzeptuellen Auffassungen der je anderen wirklich tief zu verstehen. Die Folge ist, dass es nur sehr wenige Analytiker gibt, die mit den Besonderheiten von mehr als einer psychoanalytischen Auffassung gründlich vertraut sind. Luepnitz möchte zeigen, wie interessant demgegenüber die wechselseitige vertiefte Zurkenntnisnahme werden kann. Sie diskutiert Lacans Spiegelstadium im Vergleich mit den Auffassungen Winnicotts, untersucht, warum der eine vom »Selbst«, der andere vom »Subjekt« spricht, nimmt die Texte in den Blick, wo unterschiedliche Zielvorstellungen thematisch werden, bietet ein eigenes Fallfragment zur Diskussion unter beiden entwickelten Perspektiven an und schlägt schließlich vor, die Leere im Raum zwischen den Beiden durch Lehre zu ersetzen. Das ist reich an Einfällen, reich an Kenntnis beider Autoren und der jeweiligen regionalen Besonderheiten.

Erika Krejci trägt in großer Gelassenheit neue Aspekte ihrer Behandlungstechnik vor, die sie als »Vertiefung in die Oberfläche« bezeichnet. Das ist dem Maler Max Beckmann entlehnt, der Kunst just eben so, als »Vertiefung in die Oberfläche« gekennzeichnet hatte. Man könnte sogleich anfügen, dass Max Ernst einmal den Ausspruch getan hat, er sei froh, sich nicht gefunden zu haben was verblüfft, aber genau zu Krejcis Thema gehört.

Es gibt Patienten mit einer harten narzisstischen Abwehrschale, die über wenig Binnendifferenzierung verfügen, aber sich sachlich selbst bereits so analysieren, als wüssten sie schon alles; der Analytiker wird ein ausgeschlossener, bedeutungsloser Beobachter. Sie stehen neben sich, schauen sich zu, berichten detailliert, weil sie Berichterstatter sind, die nicht erleben können. Sie machen sich so unerreichbar, Deutungen ihres Selbst nehmen sie an, aber sie bleiben wirkungslos. Sie durchstehen die Analyse, weil sie an deren Ende »analysiert« sein möchten oder wie die Autorin schön schreibt, »in den Stand der Gnade« gelangen wollen, was ihre Verleugnungstendenzen beizubehalten erlauben würde. Allzu »großformatige« Deutungen lebensgeschichtlicher Erfahrungen nehmen sie gelangweilt zur Kenntnis, nie kommentieren sie von sich aus die Übertragung. Hier hilft die Beachtung der Oberfläche.

»Die genaue Beachtung der Äußerungen und Verhaltensweisen des Patienten innerhalb der analytischen Beziehung ist wie das Umkreisen eines zunächst amorphen Feldes, in dem im Laufe der Zeit durch die Benennung und Zuordnung einzelner, erkennbar gewordener Aspekte eine Transformation zu symbolisierten Partialobjekten, also zu bedeutungshaltigen Phänomenen erfolgt. Wie die Eisstücke im Märchen von der Schneekönigin ... fangen die Fragmente an, zu tanzen, und legen sich irgendwann zu einem sinnvollen Text« (S. 75)

Es geht also bei solchen Patienten, die den Analytiker als Konkurrenten empfinden, um die »Arbeit an der Oberfläche«. Denn nur so kann die Erfahrung sich einstellen, wahr genommen zu werden; indem etwas angesprochen wird, was und wie der Patient etwas sagt und das kann dann gemeinsam betrachtet werden.

»Wenn sie von ›man‹ sprechen statt von ›ich‹ oder sich in anderer Weise in Verallgemeinerungen zu verflüchtigen suchen, beschreibe ich das. Ich mache sie auch auf Verabsolutierungen wie ›Etwas ist immer so und so!‹ aufmerksam... Rhetorische Fragen, die gestellt werden, um eine von vornherein bekannte Antwort darauf zu geben, apodiktische Behauptungen, die keinen Platz für eine andere Sichtweise lassen, werden von mir in ihrer Funktion, eine in sich geschlossene Welt zu entwerfen, gekennzeichnet.« (S. 77)

Dafür hat die Autorin den hübschen Ausdruck »kleine Interventionen« (S. 79) parat. Sie verhüten, dass Patienten sich einer unbeabsichtigten Definitionsmacht des Analytikers meinen unterwerfen zu müssen, der große Zusammenhänge sieht, für die noch gar kein Raum ist. Vielmehr machen solche kleinen Interventionen auf eine freundliche Weise dem Patienten sichtbar, wie der Analytiker »beobachtet und denkt« (S. 79). Dazu nämlich können sie befugt Stellung nehmen, ohne sich seiner Definitionsmacht anheim geben zu müssen.

»Die Phänomene sind ihnen nahe genug, um sich dazu zu äußern, und sie haben das letzte Wort. Die Klärung und Exploration von Einzelphänomenen sowie die Beschränkung auf begrenzte Zusammenhänge ermutigen die Patienten, sich auf die Suche nach sich selbst zu machen. Wenn sie ihre Widersprüchlichkeit besser verstehen, erleben sie sich als einheitlicher und damit als stärker« (ebd.)

Das ist eine insgesamt anschauliche, theoretisch anspruchsvolle und ganz unprätentiös geschriebene Arbeit, die klinische Erfahrung aufbereitet so, dass am Ende auch der Weg zum Selbst nicht abgeschnitten werden muss. Davon kann man lernen. Ich frage mich einzig, warum die Eingrenzung auf eine bestimmte klinische Gruppe von Patienten? Könnte das nicht eine Arbeitsweise sein, die sich generell empfiehlt?

Generell betrachtet, kann ich nicht verhehlen, wie viel ich aus der Lektüre dieser 6 Bände gelernt habe und ich möchte anderen diese Erfahrung auch wünschen. Auch wenn es überall verschiedene Zentrierungen der theoretischen und behandlungstechnischen Auffassung gibt, so merkt man doch ein intensives Bemühen, die Brücken zu schlagen zwischen Paris und London, zwischen Italien und dem deutschsprachigen Raum. »Übersetzungen« sind demnach dann auch das Leitthema des Beitrags von Dana Birksted-Breen, die fragt, ob diese überhaupt möglich sind. Das Vorliegen so gelungener Bände lässt die Frage spontan positiv beantworten; man kann nicht anders, als den Beteiligten Bewunderung und Dank zu sagen für eine Menge Arbeit. Natürlich wird die Psychoanalyse insgesamt ihre marginalisierte Position dadurch nicht verlieren. Aber diese Bände machen einem vergnüglich klar, wie man sich am Rande einrichten könnte, durch intellektuelle Auseinandersetzung, durch gewitzte Beiträge, durch scharfe Einwürfe, durch Offenheit für das, wie andere die Psychoanalyse und ihre Thesen beobachten. Man kann sich am Rande kommod, wie die Schweizer sagen würden, einrichten und aus dem Lesesessel heraus in den beginnenden Herbst blicken. Das Wetter wird man nicht ändern können wer auch würde das versuchen wollen? -, aber die Beeinflussung der kulturellen Atmosphäre sollte doch denen, für die das ein Herzensanliegen ist, möglich werden. Am Rande kann man sich unbeschwerter wirklich auseinandersetzen, vielleicht deshalb, wenn es sowieso nicht mehr allzu viel zu verlieren gibt? Muss man nicht mehr so viele Rücksichten nehmen, sagt sich manches dann doch leichter und das könnte andere animieren, sich ebenfalls zu Wort zu melden.

»To live outside the law you must be honest« – diesen Satz des Lyrikers Dylan Thomas hat Bob Dylan nicht umsonst in einen seiner Songs übernommen. Man könnte überlegen, ob eine solche Sentenz nicht genau jene Maxime für eine Psychoanalyse ,»at the margins« formuliert, mit der wir uns derzeit einzurichten haben.


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