Rezension zu Internationale Psychoanalyse Band 4-10
DGPT Newsletter (Nr. 86/August 2011)
Rezension von Michael B. Buchholz
Ich weiß, es gibt auch in deutschen psychoanalytischen
Familienbanden die Fraktion der Londonfahrer, die von anderen wie
Pilger des Mittelalters angesehen werden. Andere schwören auf die
französische Lehre und auch aus Italien kommen sehr interessante
Impulse. Verhalten wir uns also nicht mittelalterlich, indem wir
Glaubenskriege im Namen der einzigen und wahren Wahrheit anzetteln.
Eine solche Friedfertigkeit wird uns im englischen Fall seit
einigen Jahren leichter gemacht, weil wichtige Beiträge aus dem
International Journal of Pychoanalysis zunächst durch die
Initiative von Gabriele Junkers auf Deutsch übersetzt und in drei
handlichen Bänden der »edition diskord« thematisch gebündelt
wurden. Diese Initiative hat Angela Maus-Hanke fortgesetzt –
bislang ebenfalls drei Bände, nun im Pychosozial-Verlag. Wer etwas
genauer wissen möchte, was da in den letzten Jahren in jenem
ominösen London geschrieben und gedacht wird, dem möchte ich
empfehlen, diese – insgesamt 6 – Bände in die Hand zu nehmen. Sie
sind fast immer vorzüglich übersetzt, sorgfältig ediert und fassen
Beiträge zu klinisch relevanten Themen auf eine Weise zusammen, so
dass man zu sehen beginnt: so einheitlich ist selbst dieses
»London« gar nicht. Aber, einer guten britischen Tradition folgend,
sehr gesprächig, sehr diskursiv, sehr argumentativ, intellektuell
mit britischem understatement und klinisch zugleich feinfühlig. Man
merkt sogleich: zum Gefühl und der Gegenübertragung muss das Denken
dazu kommen, wenn man ein guter Kliniker sein möchte. Kein Wunder
in einer so von Bion beeinflussten Welt. Das Erfreuliche ist, ganz
nebenbei auch, dass man auch hierzulande nicht bei den
»Controversial Discussions« der vierziger Jahre hängen zu bleiben
braucht, auch wenn die Beiträge öfter mal eine solche Wurzel
erkennen lassen. Endlich kommt man über die Kontroversen der
analytischen Großelterngeneration mal hinaus!
Das bekannte Buch von Charles Dickens kommt mir in den Sinn, der
Titel »Große Erwartungen« klingt an, wenn man die Bände 4-6 dieser
Serie, jetzt aus dem Psychosozial-Verlag, in die Hand nimmt. Sie
werden, wie schon gesagt, von Angela Maus Hanke (2009-2011)
herausgegeben. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt einen sofort
erkennen, dass hier erhebliche thematische Erweiterungen anvisiert
werden. Das schon angesprochene Buch von James Grotstein über Bion
»A Beam of Intense Darkness« wird in einem ausführlichen Buchessay
von Antonino Ferro besprochen, es gibt einen Beitrag über den
»Körper in der analytischen Sitzung« oder über den Analytiker als
»ausgeschlossenen Beobachter« – und schon ist man als Kliniker
angesprochen. Denn diese Titel sind, mit Christopher Bollas so
etwas wie »evokative Objekte«; sie rufen sofort
Erinnerungspotentiale an analytische Sitzungen auf. Wie es aber so
geht, kann man solche Texte kaum besprechen, ohne die jeweiligen
illustrativen Fallgeschichten mit zunehmen - und dabei verkürzen
sich bereits notwendigerweise verkürzte Darstellungen noch einmal.
Ich empfehle unverdrossen die Selbstlektüre und wende mich jenen
Aufsätzen in diesen Bänden zu, die neue Thematisierungen
anbieten.
Lawrence S. Spurling etwa fragt: »Gibt es in der Psychoanalyse noch
einen Platz für das Konzept der ›therapeutischen Regression‹?«
Dieser Autor bekennt zunächst seine tiefe Ratlosigkeit hinsichtlich
des Konzepts der Regression. Was eigentlich ist damit gemeint?
Bollas etwa denkt an jene Phasen im analytischen Prozess, wo man
seinem Patienten vermittelt, es sei nicht unbedingt erforderlich,
dass er ständig von sich berichte oder sich gedanklich exploriere,
sondern eher das Brachliegenlas sen sich gewähren könne. Diese Idee
ist von Balint inspiriert, der die Grundstörung in Zuständen
solcher benigner Regression ausheilen lassen wollte. Und zwar unter
Verzicht auf therapeutische Intervention. Aber: »Das Problem war,
dass meine Patienten einfach nicht so regredierten, wie es in der
Literatur beschrieben wurde« (S. 114) ruft Spurling, beinah etwas
verzweifelt, aus. Liegt es am Mangel eigener Erfahrung, an
fehlendem Zutrauen, fragt er sich?
»Aber auch zunehmende klinische Erfahrung und Selbstverstrauen,
besonders durch die Arbeit mit schwerer gestörten Patienten in
intensiveren und längeren Behandlungen ... brachten nicht die
erwartete Einsicht in das bis dahin unerkannte Bedürfnis der
Patienten, in eine Regression zu fallen. Im Gegenteil bestätigte
sich lediglich, dass die Idee, meine Patienten durchliefen eine
therapeutische Regression, für mich anscheinend obsolet geworden
war.« (5. 115)
Die erneute Wendung in die Literatur erbringt dem Autor eine
weitere Entdeckung: Jetzt konnte er sie in der Literatur nicht mehr
erkennen.
»Entweder das beschriebene Phänomen der Patient kommt mit
körperlichen oder präsymbolischen Erfahrungen oder Gefühlen in
Berührung, der Patient empfindet ein Bedürfnis nach Schweigen als
dem Vorläufer von Denken oder Fühlen usw. - unterschied sich für
mich nicht sonderlich von den normalen Dingen, die Patienten in der
Behandlung tun, und schien den Gebrauch eines speziellen Begriffs
nicht zu rechtfertigen. Oder der Autor beschrieb eine Verbindung zu
seinem Patienten, die intensiver war als die sonst in einer
Therapie oder Analyse auftretenden starken Übertragungsgefühle und
behauptete damit, dem Patienten eine andere Ebene der Erfahrung zu
eröffnen, die ihm nur zugänglich ist, weil er das Glück hat, mit
einem Analytiker zu arbeiten, der an den Wert der therapeutischen
Regression glaubt.« (S. 115).
Der stark von Winnicott beeinflusste Autor liest erneut die
Literatur, auch Winnicott. Er findet, dass Regression in drei
Bedeutungen verwendet wird: a) Als Evokation des Primitiven, b) als
Forderung nach Verzicht auf Intervention, c) als Phase in einer
Behandlung, die durch den Verzicht auf die analytische
Standardtechnik gefördert werden soll. In einer Diskussion einiger
Fälle von Hanna Segal, die auch bereits von anderen Autoren
diskutiert wurden, erkennt er, dass sie - die relativ aktiv die
Denkverweigerung bzw. den
»Hass auf das Denken« ihres Patienten deutete – , nicht etwa
»falschq intervenierte, »sondern dass die Prämissen ihres
klinischen Denkens sie daran hinderten, den regredierten Zustand
ihres Patienten zu erkennen, und daher (unbeabsichtigt) eine
Verletzung dessen darstellten, was Winnicott den Prozess des
Patienten nannte, der /'bei jedem Patienten ein eigenes Tempo und
einen eigenen Verlauf hat ... So betrachtet ist es manchmal das
oberste Ziel der Analyse, den Prozess des Patienten vor Übergriffen
zu schützen, besonders wenn der Patient in eine schwere Regression
gerät.« (S. 121)
Hängt also die Idee der therapeutischen Regression, von der die
Autoren ja annehmen, dass manche Patienten sie »brauchen«, eher
damit zusammen, welche Prämissen des klinischen Denkens der
Therapeut oder die Therapeutin selbst hat? Immerhin würde eine
solche Annahme ja dann plausibel machen, dass manche Patienten »das
Glück« hatten, von dem Spurling oben sprach – mitentscheidend ist
offensichtlich, was der Analytiker denkt über das, was da in der
Sitzung geschieht und das wiederum steuert, wie er die Dinge
auffasst und was er sagt oder ob er schweigt. Spurling beschreibt
genau die Fähigkeit Winnicotts, sich detailliert an die Bedürfnisse
seiner Patienten anzupassen und er denkt an die »Katastrophen«,
wenn diese Anpassung einmal versagt, weil der Analytiker
erleichtert (im Geist, nicht in der Realität) »sozusagen in Urlaub«
geht, wenn es dem Patienten besser zu gehen beginnt. Aber Spurling
fragt mit großer Berechtigung, ob solche Anpassung an den Patienten
nicht geradezu eine »Erwartungs- und Anspruchshaltung beim
Patienten« wecke, »die die unumgängliche Enttäuschung um so
bitterer und gehässiger macht.« (S. 127)
Man merkt den großen klinischen Ernst, der hier zum Tragen kommt,
denn solche Erfahrungen bilden den klinischen Hintergrund dieser
Diskussion. Die Annahme des Analytikers, er habe beinah die
Totalverantwortung für seinen Patienten wird besonders bedrohlich,
wenn eine Suiziddrohung im Raume steht - und gerade hier wird es
entscheidend, als was der Analytiker das Geschehen auffasst: als
schwere Regression? Oder als Phase der Niedergeschlagenheit, einer
Kränkung, als manische Flucht oder enttäusche Omnipotenz. Spurling
stellt nämlich in seiner Diskussion der Winnicott/'schen
Fallbeispiele nüchtern fest, dass Winnicott kein Wort darüber
verliert, was er eigentlich meint, was bei seiner Patientin los war
– er hatte einfach zufällig ein paar Dinge im Behandlungszimmer,
genauer auf seinem Schreibtisch, umgestellt und das Wüten der
Patientin daraufhin, die das sofort registrierte, galt ihm als
»Katastrophe«. Aber wieso eigentlich? Und gibt sich ein Analytiker
mit einem solchen Konzept vielleicht allzu sehr in die Gefahr der
Erpressbarkeiten? Oder macht stillschweigend Versprechungen der
Bedürfnisbefriedung, des Nachheilens oder des besseren Objekts?
Versprechungen, die er nicht halten kann und die der Patient dann
als letztlich vielleicht sogar sado-masochistisches Arrangement
verstehen könnte? Der Autor jedenfalls entschließt sich, auf das
Konzept der Regression zu verzichten: »zu bedeutungsleer, um
brauchbar zu sein«. Aber er anerkennt, dass manche Konzepte dennoch
ihren Wert behalten, solange sie das Denken von Klinikern erweitern
können. Nun, dieser Schluss ist nach meinem Geschmack nun doch
etwas zu versöhnlich, denn seine Kritik ist wohl formuliert,
deutlich und prägnant und hat das Potential, manches ins Wanken zu
bringen, dem wir unsere Bereitschaft zu glauben dargebracht.
Robert D. Hinshelwood schließt mit einem Beitrag an, der
»Verdrängung und Spaltung« einer vergleichenden Konzeptbetrachtung
unterziehen will. Solche Vergleiche gehören ebenso zur Wissenschaft
wie die Durchführung empirischer Untersuchungen, sie werden viel zu
selten gemacht. »Kontroversen sind der Ausgangspunkt der
Entwicklung«, so wird Bion von Hinshelwood gleich zweimal,
gewissermaßen sicherheitshalber zitiert. Denn die Frage, ob
Spaltung oder Verdrängung im Zentrum stehen, hat mit zu den
historischen Kontroversen beigetragen. Hoffen wir also, dass sie
wirklich zur Entwicklung beitragen; manchmal können einem ja
Zweifel kommen, da diese alten Kontroversen immer noch flackern und
das ungelöschte Potential zur Entzündung von alten Flammen haben.
An solchen Entzündungen erkrankt manches.
»Historisch betrachtet tendierten die Vertreter der klassischen
Psychoanalyse dazu, sich mehr auf den Begriff der ›Verdrängung‹ zu
beziehen, wenn es um das Verständnis psychischer Abwehrmechanismen
ging, während Kleinianer eher den Begriff ›Spaltung‹ anwandten« (S.
144)
Das ist das Hinweisschild auf das alte Minenfeld, das noch nicht
ganz abgeräumt ist. Hinshelwood nimmt sich vor, die Begriffe
zunächst semantisch und dann am klinischen Material zu klären. Zur
Verdrängung bei Freud erinnert er daran, wie geradezu einfach und
phänomenologisch genau Freud von Verdrängung als »Abweisung und
Fernhaltung vom Bewußten« sprach; erkennbar sei die Verdrängung,
wie die Analyse der Fehlleistungen immer erneut zeigt, am
Auftauchen von Ersatzvorstellungen. Dann aber schreibt
Hinshelwood:
»Klein übernahm Freuds Auffassung, dass die Ersatzvorstellung die
Grundlage der Verdrängung ist, verstand sie aber darüber hinaus als
Grundlage der Sublimierung und der Symbolbildung...« (S. 146)
Schon ist man in der Küche des Teufels gelandet. Denn an diesem
kleinen Satz stimmt gar nichts.
Hier lese ich das englische Original deshalb nach, es lautet
so:
»Klein accepted Freud/'s view of substitution, as the basis for
repression, but extended it as the basis of sublimation and
symbol-formation« (Int. J. Psychoanal., June 2008,S.506)
Man sieht, es ist richtig übersetzt, aber der Inhalt ist
fragwürdig. Im Englischen ist die Rede von Freuds Auffassung von
den Ersatzvorstellung »as the basis for repression« – und das eben
war nicht Freuds Auffassung! Die Ersatzvorstellung waren nicht
»basis«, waren nicht »Grundlage« der Verdrängung, sondern deren –
Folge! Die zeitliche Reihenfolge ist genau anders herum. Das ist
kein geringfügiger Unterschied!
Klein konnte also nicht »übernehmen«, weil Freud die
Ersatzvorstellung ja gerade nicht als »Grundlage«, sondern als
Folge der Verdrängung beschrieb! Hier ist die Hinshelwoods
semantische Analyse nicht genau genug, die Differenz zwischen Freud
und Klein wird – in diesem Satz jedenfalls überspielt. Wer von
beiden die Dinge richtig sah, ist damit ja noch überhaupt nicht
angesprochen. Aber es geht um ganz unterschiedliche Konzepte.
Ähnliche Schwierigkeiten empfinde ich bei der Darstellung der
Verleugnung, die sich zunächst gegen die äußere Realität gerichtet
habe. Freuds Analyse des Fetischismus zeigte dann in der
klassischen Auffassung, dass die Verleugnung sich gegen eine ganz
bestimmte Realität richte, nämlich gegen den »Penismangel der Frau«
(S. 148). Die »Ich-Spaltung im Abwehrvorgang«, wie Freud seinen
späten Text betitelte, verhindere gerade eine Integration, die
Hinshelwood so beschreibt:
»Zunehmende Reife bedeutet allerdings, die Realität schließlich
doch zu akzeptieren, aber die Verdrängung ist bereits geschehen,
und das Wissen um die Kastration wird unbewusst.«
Halt – möchte man ausrufen: Welches »Wissen«? Eine Frau ist doch
gar nicht kastriert! Dass sie »kastriert« sei, ist doch eine
unbewusste Phantasie (weshalb man die Formel von der »Kastration
der Frau« beständig in Anführungszeichen schreiben muss). Hier
müsste also dringend ein »Wissen« von einer »Phantasie«
unterschieden werden. Die Nivellierung dieses Unterschieds hat nun
weitreichende Folgen. Es geht dann so weiter: »Allerdings führt die
verdrängte Akzeptanz dieses Wissens beim Fetischisten nicht zur
Aufhebung der Verleugnung. Wegen einer ›Schwäche‹ des Ichs, dem die
normale Integration fehlt, bestehen diese Abwehrprozesse
nebeneinander fort. Mit dieser Art der Spaltung wird die normale
Realitätswahrnehmung aufrechterhalten, die in einem anderen
Ich-Anteil mit aller Kraft geleugnet wird. Dies lässt vermuten,
dass es zunächst zur Verleugnung (Verneinung) der Realität des
weiblichen Mangels kommt und das Ich sich erst danach spaltet,
damit es zu einer reiferen Entwicklung der Verdrängung kommen kann,
ohne die Verleugnung aufgeben zu müssen« (S. 148)
Man sieht, das Weglassen der Anführungszeichen hat nicht geringe
Folgen. Da ist erneut die Rede von der »Realität des weiblichen
Mangels« aber in welchem Sinne, in wessen Sinn ist das »Realität«?
Der Fetischist hält mit einem Teil an der unbewussten Phantasie
fest, während er sich mit einem anderen Teil seines Ich an die
»normale Realitätswahrnehmung« anpasst. Die knifflige Frage ist, ob
man in solcher Spaltung einen unbewussten Abwehrvorgang annehmen
muss? Ist »Spaltung« dann eigentlich ein aktiver Abwehrmechanismus
oder ist Spaltung nicht vielmehr die Folge von diesen Vorgängen?
Obwohl Hinshelwood an dieser Stelle die Spaltung klar als eine
Folge, also als einen Zustand des Ichs infolge von Verleugnung und
Verdrängung beschreibt, nennt er kurz darauf die Spaltung als einen
aktiven Abwehrmechanismus, der zu den beiden anderen hinzukomme und
spricht von einer »komplexen Organisation von drei Abwehrformen:
Verdrängung, Verleugnung und Spaltung« (S. 149)
Da wird, leider, in Hinshelwoods semantischer Analyse manches
überhaupt nicht klar. Er zitiert andere Autoren wie Pruyser, die
forderten, auf den Begriff der Spaltung überhaupt zu verzichten,
eben weil daran überhaupt nichts klar sei: Spaltung werde im Sinne
Freuds ebenso verwendet wie als Klein/'sche »Vernichtung«, aber
auch als Analogon der Verdrängung und schließlich auch als
gewöhnlicher Konflikt. Resignation klingt aus Hinshelwoods Satz:
»Das Durcheinander so so groß, dass Pruyser recht haben könnte« (S.
153). Resignieren freilich will der Autor nicht. Seine klinische
Analyse nun ringt mit ähnlichen Schwierigkeiten. Schon der
Anspruch, dass nur aus der Erinnerung des Analytikers stammendes
klinisches Material »bei der Beantwortung dieser Fragen eine
entscheidende Rolle spielen und nicht nur zur Veranschaulichung
dienen kann«, ist besonders hoch gehängt und muss zwangsläufig in
große Schwierigkeiten einmünden, wenn es um einen selbst
behandelten Fall geht. Ich rate einmal, sorgfältig zu lesen und
sich dann die Frage vorzulegen, ob eine Patientin, die davon
spricht, bestimmte Gedanken und Erfahrungen »klein gehackt« zu
haben und sie durch den »Schredder« laufen zu lassen, nicht einen
sehr bewusstseinsfähigen Akt beschreibt? Wieweit kann man von einem
unbewussten Abwehrmanöver sprechen, wenn die Patientin in der
Stunde so luzide diesen Vorgang beschreibt und das zumal in
Reaktion auf manche therapeutische Äußerungen? Handelt es sich
nicht auch um eine Redeweise, die für heutige Patienten geläufig
ist, man kann solche Wendung in Songs hören, in Talkshows und ich
habe die Wendung vom »Schredder« auch schon ein paarmal vernommen.
Als moderne Metapher für – ja für was? Für Verdrängung oder eben
für Spaltung? Nein, für einen bewussten Vorgang des sich nicht
Beschäftigen-Wollens mit unangenehmen Dingen. Durch Kleinarbeiten.
Dass dieser Vorgang selbst wiederum unbewusste Hintergründe hat,
darf man annehmen. Aber kann man vom ,»Schredder« direkt auf
Spaltung schließen??? Hinshelwood deutet diesen Vorgang freilich
sehr viel tiefer und kennt seine Patientin natürlich, dennoch
bleibt seine Folgerung, man könne an solchem Material ,»valide
zwischen der Verdrängung eines Inhalts und dem Verlust einer
Ich-Funktion unterscheiden« (5. 161) nicht überzeugend.
Aber darin besteht auch nicht Wert oder Unwert eines solchen
Beitrags. Sondern in der hoffentlich lebhaften Reaktion darauf.
Denn Kontroversen sind der Ausgangspunkt der Entwicklung. So ist es
und das kann nicht ausbleiben. David Tuckett und Richard Taffier
präsentieren ihre ausgefeilte psychoanalytische Sicht auf die
Turbulenzen der Finanzmarkte. Ausgangspunkt ihres Versuchs, das
klinische Wissen der Psychoanalyse zur Erklärung hier einzubringen
ist die enorme Unsicherheit und Vieldeutigkeit, unter der die
Akteure entscheiden. Das mobilisiert geradezu zwangsläufig
erhebliche Phantasiebeziehungen zu den Finanzprodukten, deren
Abstraktheit gleichsam auf dingliche Konkretion herunter gedrückt
werden muss, um damit überhaupt hantieren zu können. Wahn und Sinn
muss auch hier nebeneinander produziert werden – und manchmal kaum
unterscheidbar. Die mit Akteuren geführten Interviews zeigen
deutlich, dass die Unsicherheit sich nicht nur auf sachliche
Entscheidungen erstreckt, sondern v.a. darauf, dass nie sicher ist,
ob Gewinne eigentlich der Selbstwirksamkeit eines Akteurs, etwa
eines Fondsmanagers, zugerechnet werden können oder eher zufällig
eingetreten sind – und Verlust dann natürlich ebenso. Der
amerikanische Großinvestor Warren Buffett hat es einmal so
ausgedrückt, dass man im Fall von Investition von »keiner
Korrelation zwischen Aktivität und Erfolg ausgehen« könne (FAZ vom
4. Juli 2011).
Diese Akteure sind in einem psychologischen Sinn waghalsige
Agenten, die sich gewissermaßen oft genug brüsten müssen mit
Erfolgen, von denen sie selbst am ehesten wissen, wie wenig davon
tatsächlich ihrem eigenen Einflussnehmen zugerechnet werden kann.
Denn es gibt »kaum Belege dafür, dass ein Fondsmanager oder ein
beliebiger anderer Investor die Marktperformance systematisch und
dauerhaft übertreffen kann, es sei denn, er hätte einfach Glück...
Wenn Manager überleben, dann vielleicht nur, weil sie
überdurchschnittliche Risiken eingehen und Glück haben; die
anderen, die ebenso viel riskieren und weniger Glück haben,
verlieren ihren Job. Unter diesen Bedingungen wird Abspalten
belohnt.« (S. 258)
Spaltung wäre hier also nicht ein früher Abwehrmechanismus, sondern
eine aktualisierte Tendenz zur Überlebens- und Illusionssicherung.
Auch dies zeigt noch einmal einen weiteren Bedeutungsgebrauch des
Spaltungsbegriffs.
Wie sehr sich die Psychoanalyse in einzelnen Ländern ihren weit
diversifizierten Traditionen überlässt, kann auch der Beitrag von
Evelyne Sechaud zeigen, der von der Handhabung der Übertragung in
der französischen Psychoanalyse berichtet. Sie beginnt mit der
Feststellung, dass die französische Psychoanalyse selbst »heute
außerordentlich vielgestaltig« sei. Natürlich kommt diese Autorin
auf Lacan zu sprechen, natürlich aber auch auf die ursprüngliche
Auffassung Freuds von der Übertragung als einer Mesalliance. Die
unbewusste Vorstellung nämlich, so wird Freud zitiert, sei
überhaupt unfähig, ins Vorbewusste zu gelange und kann dort nur
eine Wirkung erzielen, indem sie sich mit einer dem Vorbewussten
bereits angehörigen Vorstellung liiert und sich »durch sie decken
lässt«. Diese Kursivierung ist bereits in Freuds Original (hier S.
179). Die Übertragung kommt also mit solchen Worten, die
»Mesalliance« deutet es ja an, durchaus aufs Wiener Parkett. Michel
Neyraut hatte das in seiner unübertroffenen Studie von 1976
deutlich gemacht. Die behandlungstechnische Kniffligkeit entsteht
nun daraus, dass die Übertragung zu hundert Prozent wirkt; das
bedeutet, sie kann nicht einfach durch eine Deutung aufgelöst
werden. Die Autorin zitiert Pontalis:
»Die Übertragung disqualifiziert eine Deutung als solche, indem sie
sie als Suggestion, als Geschenk, als Ablehnung, als Angriff oder
als Gegenangriff qualifiziert.« (hier S. 185)
Die Übertragung, so Pontalis weiter, könne deshalb nicht Gegenstand
einer Deutung sein! Das ist ein gewaltiger Kontrapunkt zu dem, was
die meisten hierzulande denken. Ich löse den Knoten hier nicht,
weil ich ja möchte, dass diese Texte gelesen werden; Frankreich ist
immer einen Krimi wert, denn just so spannend kann klinische
Debatte sein.
Auch wenn der Band des Jahres 2009 noch weitere reiche Beiträge
enthält, springe ich doch jetzt in den des Jahres 2010, weil hier
ein Beitrag von Deborah Anna Luepnitz in gelungener Übersetzung
erschienen ist, der vom »Denken im Raum zwischen Winnicott und
Lacan« handelt. Diese beiden prominenten Analytiker haben sich
gegenseitig mit persönlichem Respekt behandelt, aber ihre Anhänger
haben sich geweigert zu lesen den je anderen. Das ist das, was
Stepansky auch für das Verhängnis der amerikanischen Psychoanalyse
angesehen hat. Es bildeten sich so lokale Gruppierungen, die
untereinander nur oberflächlichen Kontakt halten und es sich
erschweren, die konzeptuellen Auffassungen der je anderen wirklich
tief zu verstehen. Die Folge ist, dass es nur sehr wenige
Analytiker gibt, die mit den Besonderheiten von mehr als einer
psychoanalytischen Auffassung gründlich vertraut sind. Luepnitz
möchte zeigen, wie interessant demgegenüber die wechselseitige
vertiefte Zurkenntnisnahme werden kann. Sie diskutiert Lacans
Spiegelstadium im Vergleich mit den Auffassungen Winnicotts,
untersucht, warum der eine vom »Selbst«, der andere vom »Subjekt«
spricht, nimmt die Texte in den Blick, wo unterschiedliche
Zielvorstellungen thematisch werden, bietet ein eigenes
Fallfragment zur Diskussion unter beiden entwickelten Perspektiven
an und schlägt schließlich vor, die Leere im Raum zwischen den
Beiden durch Lehre zu ersetzen. Das ist reich an Einfällen, reich
an Kenntnis beider Autoren und der jeweiligen regionalen
Besonderheiten.
Erika Krejci trägt in großer Gelassenheit neue Aspekte ihrer
Behandlungstechnik vor, die sie als »Vertiefung in die Oberfläche«
bezeichnet. Das ist dem Maler Max Beckmann entlehnt, der Kunst just
eben so, als »Vertiefung in die Oberfläche« gekennzeichnet hatte.
Man könnte sogleich anfügen, dass Max Ernst einmal den Ausspruch
getan hat, er sei froh, sich nicht gefunden zu haben was verblüfft,
aber genau zu Krejcis Thema gehört.
Es gibt Patienten mit einer harten narzisstischen Abwehrschale, die
über wenig Binnendifferenzierung verfügen, aber sich sachlich
selbst bereits so analysieren, als wüssten sie schon alles; der
Analytiker wird ein ausgeschlossener, bedeutungsloser Beobachter.
Sie stehen neben sich, schauen sich zu, berichten detailliert, weil
sie Berichterstatter sind, die nicht erleben können. Sie machen
sich so unerreichbar, Deutungen ihres Selbst nehmen sie an, aber
sie bleiben wirkungslos. Sie durchstehen die Analyse, weil sie an
deren Ende »analysiert« sein möchten oder wie die Autorin schön
schreibt, »in den Stand der Gnade« gelangen wollen, was ihre
Verleugnungstendenzen beizubehalten erlauben würde. Allzu
»großformatige« Deutungen lebensgeschichtlicher Erfahrungen nehmen
sie gelangweilt zur Kenntnis, nie kommentieren sie von sich aus die
Übertragung. Hier hilft die Beachtung der Oberfläche.
»Die genaue Beachtung der Äußerungen und Verhaltensweisen des
Patienten innerhalb der analytischen Beziehung ist wie das
Umkreisen eines zunächst amorphen Feldes, in dem im Laufe der Zeit
durch die Benennung und Zuordnung einzelner, erkennbar gewordener
Aspekte eine Transformation zu symbolisierten Partialobjekten, also
zu bedeutungshaltigen Phänomenen erfolgt. Wie die Eisstücke im
Märchen von der Schneekönigin ... fangen die Fragmente an, zu
tanzen, und legen sich irgendwann zu einem sinnvollen Text« (S.
75)
Es geht also bei solchen Patienten, die den Analytiker als
Konkurrenten empfinden, um die »Arbeit an der Oberfläche«. Denn nur
so kann die Erfahrung sich einstellen, wahr genommen zu werden;
indem etwas angesprochen wird, was und wie der Patient etwas sagt
und das kann dann gemeinsam betrachtet werden.
»Wenn sie von ›man‹ sprechen statt von ›ich‹ oder sich in anderer
Weise in Verallgemeinerungen zu verflüchtigen suchen, beschreibe
ich das. Ich mache sie auch auf Verabsolutierungen wie ›Etwas ist
immer so und so!‹ aufmerksam... Rhetorische Fragen, die gestellt
werden, um eine von vornherein bekannte Antwort darauf zu geben,
apodiktische Behauptungen, die keinen Platz für eine andere
Sichtweise lassen, werden von mir in ihrer Funktion, eine in sich
geschlossene Welt zu entwerfen, gekennzeichnet.« (S. 77)
Dafür hat die Autorin den hübschen Ausdruck »kleine Interventionen«
(S. 79) parat. Sie verhüten, dass Patienten sich einer
unbeabsichtigten Definitionsmacht des Analytikers meinen
unterwerfen zu müssen, der große Zusammenhänge sieht, für die noch
gar kein Raum ist. Vielmehr machen solche kleinen Interventionen
auf eine freundliche Weise dem Patienten sichtbar, wie der
Analytiker »beobachtet und denkt« (S. 79). Dazu nämlich können sie
befugt Stellung nehmen, ohne sich seiner Definitionsmacht anheim
geben zu müssen.
»Die Phänomene sind ihnen nahe genug, um sich dazu zu äußern, und
sie haben das letzte Wort. Die Klärung und Exploration von
Einzelphänomenen sowie die Beschränkung auf begrenzte Zusammenhänge
ermutigen die Patienten, sich auf die Suche nach sich selbst zu
machen. Wenn sie ihre Widersprüchlichkeit besser verstehen, erleben
sie sich als einheitlicher und damit als stärker« (ebd.)
Das ist eine insgesamt anschauliche, theoretisch anspruchsvolle und
ganz unprätentiös geschriebene Arbeit, die klinische Erfahrung
aufbereitet so, dass am Ende auch der Weg zum Selbst nicht
abgeschnitten werden muss. Davon kann man lernen. Ich frage mich
einzig, warum die Eingrenzung auf eine bestimmte klinische Gruppe
von Patienten? Könnte das nicht eine Arbeitsweise sein, die sich
generell empfiehlt?
Generell betrachtet, kann ich nicht verhehlen, wie viel ich aus der
Lektüre dieser 6 Bände gelernt habe und ich möchte anderen diese
Erfahrung auch wünschen. Auch wenn es überall verschiedene
Zentrierungen der theoretischen und behandlungstechnischen
Auffassung gibt, so merkt man doch ein intensives Bemühen, die
Brücken zu schlagen zwischen Paris und London, zwischen Italien und
dem deutschsprachigen Raum. »Übersetzungen« sind demnach dann auch
das Leitthema des Beitrags von Dana Birksted-Breen, die fragt, ob
diese überhaupt möglich sind. Das Vorliegen so gelungener Bände
lässt die Frage spontan positiv beantworten; man kann nicht anders,
als den Beteiligten Bewunderung und Dank zu sagen für eine Menge
Arbeit. Natürlich wird die Psychoanalyse insgesamt ihre
marginalisierte Position dadurch nicht verlieren. Aber diese Bände
machen einem vergnüglich klar, wie man sich am Rande einrichten
könnte, durch intellektuelle Auseinandersetzung, durch gewitzte
Beiträge, durch scharfe Einwürfe, durch Offenheit für das, wie
andere die Psychoanalyse und ihre Thesen beobachten. Man kann sich
am Rande kommod, wie die Schweizer sagen würden, einrichten und aus
dem Lesesessel heraus in den beginnenden Herbst blicken. Das Wetter
wird man nicht ändern können wer auch würde das versuchen wollen?
-, aber die Beeinflussung der kulturellen Atmosphäre sollte doch
denen, für die das ein Herzensanliegen ist, möglich werden. Am
Rande kann man sich unbeschwerter wirklich auseinandersetzen,
vielleicht deshalb, wenn es sowieso nicht mehr allzu viel zu
verlieren gibt? Muss man nicht mehr so viele Rücksichten nehmen,
sagt sich manches dann doch leichter und das könnte andere
animieren, sich ebenfalls zu Wort zu melden.
»To live outside the law you must be honest« – diesen Satz des
Lyrikers Dylan Thomas hat Bob Dylan nicht umsonst in einen seiner
Songs übernommen. Man könnte überlegen, ob eine solche Sentenz
nicht genau jene Maxime für eine Psychoanalyse ,»at the margins«
formuliert, mit der wir uns derzeit einzurichten haben.