Rezension zu Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 19
Rezension von Natascha Florence Bousa
Ausgehend von der Diskussion über eine individualisierte und
pluralisierte Gesellschaft geht Naumann in seiner Monographie den
Fragen nach, was unter Kindheit verstanden werden kann, was eine
glückliche Entwicklung und eine gelingende Bildung in der Kindheit
ausmacht sowie welcher erzieherische Rahmen von Seiten der
Erwachsenen und der Gesellschaft hierfür bereitgestellt werden
muss. In pädagogischen Fachdebatten, so der Autor, würden gerade
die Rahmenbedingungen u.a. infolge der gesellschaftlichen Normen
und Zwänge in Richtung Konkurrenz und Leistungsdruck, die das
Verdrängen von Erlebnissen des Versagens begünstigen, weitgehend
unbeachtet bleiben. Dagegen müsse eine kritische Elementarpädagogik
sowohl eine dezidierte Vorstellung von der Entwicklung des Kindes
unter der Berücksichtigung seiner imierpsychischen Prozesse, seiner
Gefühle und der Verarbeitung sozialer Erfahrungen in Beziehungen
und Institutionen formulieren, als auch die gesellschaftlichen
Verhältnisse reflektieren, in die das erzieherische Handeln
eingebettet ist. Entsprechend richtet Naumann, der als Professor
für Pädagogik im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und
Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt tätig ist, sein
Erkenntnisinteresse darauf, wie kindliche Bildung infolge der
gesellschaftlich vorherrschenden Verhältnisse gelingen kann.
Demnach versucht er, Positionen einer kritischen Elementarpädagogik
in der gegenwärtigen individualisierten und pluralisierten
Leistungsgesellschaft zu begründen, mit denen es möglich werden
kann, notwendige pädagogische Handlungsräume für kindliche
Entwicklungs und Bildungsprozesse zu verteidigen und zu erweitern.
Dazu gliedert der Autor sein Buch in zwei Hauptteile. Im ersten
Teil (Kapitel I bis III) fokussiert Naumann die entwicklungs und
gesellschaftstheoretische Verortung des Problems. Es werden
Vorstellungen über die kindliche Entwicklung unter den
gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen und daraus
resultierende Folgen für die Soziale Arbeit einerseits und die
kindliche Sozialisation andererseits diskutiert. Im zweiten Teil
(Kapitel IV und V) entfaltet der Autor eine Theorie der kindlichen
Selbstbildung. Des Weiteren hebt er die entwicklungsförderlichen
Möglichkeiten hervor, die sich aus der Verbindung von
psychoanalytisch pädagogischen Annahmen mit dem Situationsansatz
für das pädagogische Handeln in Kindertagesstätten ergeben können.
Zudem versucht er den Bedarf an der Qualitätsentwicklung, einer an
Gefühlen, Beziehungen und Prozessen orientierten
Elementarpädagogik, aufzuzeigen.
Im Zuge seiner Ausführungen zu einem interdisziplinären Ansatz
einer Sozialisationstheorie und der Bedeutung der Sozialisation für
die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen in Kapitel I, legt
Naumann seinen Subjektbegriff unter Bezugnahme auf Butler (1993)
dar. Im Unterschied zum Terminus Persönlichkeit erlaube ihm der
Subjektbegriff, »die beiden Dimensionen des
Sozialisationsprozesses, sowohl die Unterwerfung des Menschen unter
ihm vorausgesetzte gesellschaftliche Verhältnisse als auch die
Möglichkeit, eben in jene Verhältnisse handelnd einzugreifen«, als
unauthebbare und widersprüchliche Einheit zu fassen (S. 17).
Zugleich würde der Subjektbegriff auf das Zusammenwirken der
sinnlichleiblichen Seite des Menschen und seine sozialen
Erfahrungen im Sozialisationsprozess verweisen. Vor diesem
Hintergrund systematisiert Naumann im Folgenden verschiedene Ebenen
und Phasen des Sozialisationsprozesses und begründet, unter
Bezugnahme auf die Kritische Gesellschaftstheorie, Freuds Theorie
der menschlichen Entwicklung sowie Lorenzers
»sozialisationstheoretische Bearbeitung der Psychoanalyse«, seine
Forderung an die Wissenschaft, ihre jeweiligen Positionen
darzulegen und zu analysieren (5. 34). Es ist schade, dass Naumann
in seiner kritischen Würdigung der klassischen Psychoanalyse, u.a.
bei der Erzählung der Fallgeschichte des »kleinen Hans/'«, nahezu
ausschließlich aus Sekundärliteratur zitiert. Auch geht er nur sehr
verkürzt auf die Bedeutung der Abwehrprozesse für die
psychoanalytische Theoriebildung ein. Dennoch gelingt ihm im
Subkapitel »Kindliche Entwicklung reloaded« eine verständliche
Darstellung psychoanalytischer bzw. psychoanalytisch pädagogischer
Grundannahmen und davon ausgehend der Brückenschlag zum aktuellen
Forschungsstand der Bindungs , Mentalisierungs und
Säuglingsforschung.
Das zweite Kapitel leitet Naumann mit einem Zitat von Negt (1997)
ein, in dem es heißt, dass wir in einer »Welt der Umbrüche« leben,
in der, so die Interpretation des Autors, die Gesellschaft zum
einen nur noch im Weltmaßstab verstanden werden könne, zum anderen
sich unsere Gesellschaft in einem massiven Veränderungsprozess
befinde (S. 59). Die damit einhergehenden ökonomischen und
politischen Tendenzen haben, so Naumann, nicht nur Einfluss auf das
Subjekt, sondern wirken sich vehement auf die Soziale Arbeit aus.
Derzeit stehe das flexible, durchtrainierte, leistungsbereite,
konsumfreudige und selbständige, kurz gesagt, das »erfolgreiche
Subjekt« im Zentrum der, durch kulturelle Vielfältigkeit geprägten,
Gesellschaft (S. 64). Das führe, so der Autor, dazu, dass
Unlustgefühle, lebensgeschichtlich »einsozialisierte«
widerspenstige Gefühle und Bedürfnisse gemäß diesen Erwartungen
vermieden und/oder nicht gespürt werden dürfen (S. 65). Aufgabe der
Sozialen Arbeit sei demzufolge nicht mehr, Hilfe anzubieten,
vielmehr verkomme sie zu einem nachfrageorientierten
Dienstleistungsunternehmen der Gesellschaft, was Naumann am
Beispiel der Ökonomisierung von Kindertagesstätten beleuchtet.
Statt die Entwicklungsbedürfnisse des kindlichen Subjekts in den
Vordergrund zu stellen, wird die angebliche Qualität der
entsprechenden pädagogischen Einrichtungen in Form von einseitigen
quantitativen Evaluationsverfahren gemessen. An diese Überlegungen
knüpft Naumann die These, dass der Debatte um kindliche Bildung
eine enge Normierung dessen, was Kindheit sei, vorausgesetzt ist.
Kindheit wird in einer Weise sozial konstruiert, die die faktisch
ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Chancen und Risken des
Aufwachsens unsichtbar macht. Im Anschluss an Naumanns Gedanken
kann weiterführend die Frage gestellt werden, welche
lebensgeschichtlichen bzw. bildungsbiographischen
Gestaltungsmöglichkeiten dem Subjekt, vor dem Hintergrund des
gesellschaftlich auferlegten Zwangs, transnational vergleichbare
und durch Evaluationsverfahren scheinbar quantitativ messbare
Bildungsabschlüsse zu erreichen, letztendlich bleiben. Bedrohen
diese Tendenzen nicht auch Chancen auf die Emanzipation des
Subjekts?
In Kapitel III greift Naumann seine entfaltete
Sozialisationstheorie erneut auf, um sie mit dem Konzept der
Lebensweltorientierung und mit der Psychoanalytischen Pädagogik zu
verbinden. Im Zuge dessen stellt er die Familie sowohl als
Lebenswelt, als auch als Institution vor, wobei er insbesondere auf
die historischen Veränderungen von Familiensystemen und
Familienkultur eingeht, da sie das, was Kindheit gegenwärtig
ausmacht, weitestgehend formen. Kindheit ist vor allem
Familienkindheit. »Die gesellschaftlichen Kontexte wirken sich auf
die Gestaltung der Familie aus, ohne diese jedoch restlos zu
bestimmen« (S. 81). Diese Kontexte haben als »psychosoziale
Fallstricken« für die Kinder sehr unterschiedliche Auswirkungen,
die der Autor in ihrer Verschiedenheit kurz skizziert (S. 86). Sie
sind unter anderem dort spürbar, wo materielle Interessen die
Entwicklungsbedürfnisse der Kinder überlagern, also dort, wo
materielle Zuwendung und »unterkühlt sachliche Beziehungen«
vorherrschen (S. 88). Ohne den Eltern oder Erziehern die Schuld für
diese Misere zu geben, macht Naumann darauf aufmerksam, dass es in
der Sozialen Arbeit, die er als pädagogisch praktische Arbeit
begreift, vorrangig darum gehen müsse, die jeweils dahinter
liegenden Dynamiken zu verstehen, bevor über Fördermaßnahmen
nachgedacht werden kann. Daher seien zunächst die
Geschlechtersozialisation, Interkulturalität und Rassismus sowie
das Fernsehen als sozialisierende Einflüsse in den Blick zu nehmen,
bevor die gewonnenen Erkenntnisse in einen passenden
elementarpädagogischen Rahmen, und hiermit meint der Autor die
Psychoanalytische Pädagogik, gestellt werden können. Als
problematisch erweist sich Naumanus Vorgehen insofern, als er seine
Ausführungen in den Subkapiteln »Interkulturalität und Rassismus«
und »Fernsehen als Sozialisationsfaktor«, im Vergleich zum
Subkapitel »Geschlechtersozialisation«, kaum aus psychoanalytisch
pädagogischer Perspektive kommentiert. Das erweckt zunächst den
Anschein, als würde der sich sonst durch die Arbeit ziehende Rote
Faden reißen.
Im vierten Kapitel gelingt Naumann die Rückbindung seiner
theoretischen Überlegungen an die Psychoanalytische Pädagogik. Nach
einem knappen Einblick in die historischpolitische Entwicklung der
Psychoanalytischen Pädagogik, der inhaltlich stark an Füchtners
Artikel zur Psychoanalytischen Pädagogik als kritische Pädagogik
von 1993 erinnert, geht Naumann zunächst auf die »Selbstbildung«
des Kindes ein. Bildung sei, so der Autor, »keine Ansammlung von
Kompetenzen, keine Anhäufung von technischem oder kulturellem
Wissen«, sondern »erst einmal die Entwicklung von Eigensinn« (S.
119). Wie im Mainstream der aktuellen pädagogischen Debatte,
charakterisiert auch er Bildung als selbstbestimmte und »aktive
Konstruktion von Selbst und Weltbild auf der Grundlage von
alltagspraktischer Erfahrung« (5. 119). Aufgabe der Erwachsenen sei
es, das Kind in seiner Entwicklung zu begleiten und hierfür
förderliche Rahmenbedingungen herzustellen. Vor allem hat in
Naumanns Auffassung von Erziehung und Bildung, die von den Arbeiten
Lebers und Lorenzers geprägt ist, die dialogische Abstimmung mit
den Bildungsbedürfnissen des Kindes durch die wechselseitige
emotionale, verbale und szenische Verständigung einen hohen Rang.
Der (Bildungs)auftrag an die PädagogInnen liege dann auch darin,
den unbewussten, affektiven Sinn der Szenen, die in der Interaktion
zwischen Kind und Erzieher entstehen, angemessen zu deuten und zu
beantworten. Wenn Selbstbildung gelingen soll, bedarf es Erzieher
und Erzieherinnen, die aufgrund ihres theoretischen Wissens und
praktischen Könnens in der Lage sind, diese Prozesse zu
reflektieren und zu analysieren, was Naumann anhand einer
Falldarstellung aus dem pädagogischen Alltag einer
Kindertageseinrichtung eindrucksvoll zeigt. In nahezu schillernder
Weise weist er auf Möglichkeiten hin, die sich vor dem Hintergrund
psychoanalytisch pädagogischer Annahmen und unter der Einbeziehung
des Situationsansatzes fur die elementarpädagogische Praxis ergeben
können. Infolge seiner Feststellung, dass der Situationsansatz in
der Psychoanalytischen Pädagogik und vice versa kaum rezipiert
wird, plädiert Naumann dafür, »die entwicklungs und
bildungsförderlichen Potenziale der Psychoanalytischen Pädagogik
auch im Situationsansatz zur Entfaltung zu bringen« (5. 173), was
er begründet.
Im letzten Kapitel seiner Arbeit geht Naumann auf die Bedeutung der
Qualitätsentwicklung für die pädagogische Arbeit in
Kindertagesstätten ein. In diesem Zusammenhang weist er ein
weiteres Mal darauf hin, dass das pädagogische Fachwissen Basis
einer Qualitätsentwicklung im Hinblick auf eine
entwicklungsfordernde Arbeit zur Selbstbildung ist. Zudem arbeitet
er heraus, dass einem dialogischen Verständnis von Bildung folgend,
auch dialogische und verstehende Elemente bei der Entwicklung von
Evaluationsverfahren mit bedacht werden müssen. Im Vergleich zu den
vorangegangenen Kapiteln wirken Naumanns Ausführungen zur
pädagogischen Qualitätsentwicklung leider verkürzt. Es scheint so,
als ob er den ökonomisch auferlegten Beigeschmack des Begriffs eher
scheut. Doch, und so schließt der Autor das Buch mit einem Zitat,
»fragend gehen wir voran« (5. 184).
Und eben dieses Fragen leitet Naumann geschickt an, denn obwohl der
Autor auf seine eingangs formulierten Fragen fachlich begründete
Antworten findet, liest sich seine Arbeit wie die Einladung zur
Reflexion der derzeitigen pädagogischen Verhältnisse, die wir
weniger als gegeben ansehen müssen, sondern an deren Gestaltung wir
selbst beteiligt sind.