Rezension zu Knastmauke (PDF-E-Book)
Deutschland Archiv 8/2011 – Literaturjournal
Rezension von Thomas Widera
Justiz und politische Haft in der DDR
Plogstedt: Knastmauke
Den moralischen Komponenten der Aufarbeitung des systembedingten
DDR-Unrechts widmete sich Sybille Plogstedt in ihrem
Forschungsprojekt zum individuellen Schicksal von politischen
Häftlingen nach der Wiedervereinigung. Sie protokollierte
charakteristische Einzelschicksale in der Absicht, repräsentative
Aussagen über die Situation ehemaliger Häftlinge treffen zu können.
Die soziale Lage zahlreicher von politischer Haft Betroffener war
in der Bundesrepublik so schlecht, dass sie im Jahr 2005 Gegenstand
der Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und SPD wurde. Gemeinsam
setzten sich die Parteien für Verbesserungen ein. Die daraufhin am
Essener Kolleg für Geschlechterforschung durchgeführte sogenannte
»Essener Studie« besteht aus einem qualitativen und einem
quantitativen Teil. Von den 30 geplanten Interviews wurden 23
Gespräche realisiert und von diesen wiederum 21 für das Buch
ausgewählt. In diesen eindrucksvollen Lebensgeschichten spiegelt
sich plastisch die aktuelle soziale Realität von politischer
Verfolgung und staatlichem Unrecht in der DDR. Die interviewten
Personen gehören unterschiedlichen Haftgenerationen an, von
Plogstedt jeweils in Dekaden zusammengefasst, um mögliche
Veränderungen der Haftpraxis abzubilden, eine Periodisierung, die
ohne Erläuterung von der von Klaus-Dieter Müller begründeten
zeitlichen Strukturierung des Haftregimes abweicht und willkürlich
erscheint. Vorangestellt ist den aufgezeichneten
Häftlingsschicksalen ein Abschnitt von Gesprächen der Autorin mit
Expertinnen, die den Umgang mit den Opfern und ihre Lage in der
Vergangenheit zum Inhalt haben. Es kommen die Stationen der
Aufarbeitung in der Bundesrepublik, die Gutachterproblematik,
Langzeitschäden, Rehabilitierungsmöglichkeiten, Angehörige der
Opfer und die Konfrontation mit den Tätern zur Sprache.
Im quantitativen Teil der Untersuchung wurden die Daten von 802
ehemaligen politischen Häftlingen ausgewertet, die den im Anhang
abgedruckten Fragebogen ausfüllten. Die Ergebnisse der Essener
Studie bestätigen, dass die Folgen von politischer Haft für eine
Mehrheit der Betroffenen in verschiedener Form andauern. Soziale
Benachteiligungen konnten oft erst nach jahrelanger Dauer und auch
nicht in ihrer Gesamtheit ausgeglichen werden. Viele ehemalige
politische Häftlinge fühlen sich zudem »für das hohe Risiko, das
sie auf sich genommen haben, nicht ausreichend anerkannt«. Dagegen
könnte eingewendet werden, dass politische Haft nicht immer die
Folge von politisch intendierten Handlungen der Opfer war. Doch der
Anspruch auf Anerkennung leitet sich daraus ab, dass die Menschen
nicht Opfer ihrer individuellen Lebensgeschichte, sondern Opfer
einer politischen Situation, in der sie lebten, sind. Unzweifelhaft
ist es ein Missstand, dass überproportional viele ehemalige
politische Häftlinge unterhalb der Sozialhilfegrenze leben
(443).
Die im Jahr 2007 vom Bundestag beschlossene Opferrente hat in den
Augen zahlreicher Betroffener keine grundsätzliche Änderung
bewirkt. Eine Gesamtbetrachtung der Aufarbeitungspraxis in der
Bundesrepublik wird sich ihrem Vorwurf stellen müssen, dass die
enormen Kosten der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht besser
für eine angemessene Entschädigung der Haftopfer hätten eingesetzt
werden sollen. Weiterhin ist die Kritik an der Begutachtung von
Haftschäden erstaunlich: Viele der Gutachter, die über die
Anerkennung von Haftfolgeschäden urteilten, befänden sich nicht auf
dem »aktuellen wissenschaftlichen Stand der Traumaforschung« (444).
Sollte das zutreffen, wäre das ein gravierendes und nicht zu
entschuldigendes Versäumnis, da seit Jahren am Themenkomplex
traumatischer Repressions- und Gewalterfahrungen geforscht
wird.
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