Rezension zu Unterrichtskultur

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Rezension von Prof. Dr. Manfred Gerspach

Heiner Hirblinger: Unterrichtskultur

Thema
Das vorliegende Werk von annähernd 900 Seiten thematisiert Schule, genauer: Gymnasium für adosleszente Schüler aus Sicht der Psychoanalytischen Pädagogik. Der Autor, ein Gymnasiallehrer mit 35 Jahren Berufserfahrung, entwickelt darin ein sehr detailliertes Konzept zu einer Unterrichtsgestaltung, die – was auf dem Gebiet der Schuldidaktik fast vollständig unbekannt ist – sich der unbewussten Prozesse des interaktiven Geschehens zwischen Schülern und Lehrer annimmt und diese reflektierend zu nutzen weiß. Damit zeigt er eine effektive Möglichkeit auf, einen essentiellen Beitrag zu den komplexen Bildungsprozessen junger Menschen zu leisten, welche nun erst diese Bezeichnung wirklich verdienen. In Abwendung von einer sich rein zweckrational gebenden Unterrichtstechnologie wird hier Schule als Ort emotionaler Erfahrungen aufgegriffen. Angelehnt an gruppenpsychoanalytische Konzepte von Foulkes und Bion wird die kommunikative Matrix einer Lerngruppe als bestimmender Faktor für die kritische Aneignung überlieferter Bildungsgüter sichtbar gemacht. Erst auf diese Weise erschließen sich, jetzt mit Bezug auf Winnicott, Bildungs- als potenzielle Entwicklungsräume. Unterrichten wird zur Beziehungsarbeit in einer Lebensphase des Übergangs von Familie zur Kultur, die von Irritationen, aber auch der Möglichkeit für Neubewertungen, begleitet ist. Damit, so Hirblinger, ist der Weg gezeigt zu einer wahren Unterrichtskultur.

Aufbau und Inhalt
Der erste Band macht emotionale Erfahrungen und Mentalisierungsprozesse im schulischen Alltag zu seinem Gegenstand. Denn die das Schul- als einem intensiven Beziehungsleben begleitenden Affekte sind die »Zugpferde« kognitiver Prozesse.

Im ersten Kapitel wird das Ineinander adoleszenter Identifikationsschicksale mit der Gegenübertragungsneigung des Lehrers beleuchtet. Schüler richten an die Person des Lehrers unbewusste Beziehungsappelle, die ihren eigenen Primärerfahrungen entsprechen. Gerade in der Phase der Adoleszenz sind diese Appelle von großer Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Nähe und jenem der Autonomie geprägt und halten daher ein massives Konfliktpotenzial parat. Dies nun führt Seiten des Lehrers zu entsprechenden Gegenübertragungsreaktionen. Unbewusst gerät er zum einen in die komplementäre Rolle des ihm zugedachten Elternobjekts, zum anderen mag er auch konkordante Regungen des Adoleszenten in sich verspüren, die von innerem Aufruhr und Selbstzweifeln künden. Muss beides abgewehrt werden, kommt es beinahe unweigerlich zu sich verschärfenden Schwierigkeiten der Unterrichtsgestaltung. Abgerundet wird dieser Teil durch die Hinwendung zum Konzept der Mentalisierung. Auf Schule bezogen heißt das: Erst die Fähigkeit, die Gedanken und Empfindungen des Anderen empathisch lesen und ihm Intentionen des Denkens und Handelns zuerkennen zu können begründet Wissenserwerb als einen Akt reflexiven Bildungsverständnisses. Findet der Lehrer allerdings keinen Zugang zu den eigenen blinden Flecken, bleibt seine Fähigkeit, Mentalisierungsprozesse bei Schülern anzuregen, begrenzt.

Im zweiten Kapitel geht es um das Zusammenspiel bestimmter Unterrichtsprinzipien mit der psychischen Strukturbildung der Schüler. Der Aufbau des symbolischen Denkens steht im Mittelpunkt der Überlegungen, oftmals erschwert durch das Wiederaufflackern narzisstischer Strebungen während der Adoleszenz. Realität in einem System triangulärer Identifizierungen, also jenseits rein dyadischer Beziehungsgestaltung als ein sachliches Drittes zu erfahren, wird damit zunächst erschwert. Insofern steht der Erwerb reifer psychischer Strukturen in einem direkten Zusammenhang mit den Sprechakten im Unterricht. Bleiben Schüler und Lehrer in einem dyadischen Machtkampf auf der Beziehungsebene befangen, ist der Weg für den Aufbau triadischer Deutungsmuster verstellt.

Das dritte Kapitel nimmt sich daher dieser Sprechakte im Unterricht an. Die Reflexion der Wechselbeziehung zwischen dem Beziehungshabitus des Lehrers und den Identifikationsweisen des adoleszenten Schülers eröffnet entscheidende sprachliche Gestaltungsmöglichkeiten. Das innere Erleben der Schüler offenbart sich beispielsweise auf der Suche nach Anerkennung im Symptom des Zwischenrufs. Nur in einem Rahmen, der offen ist für emotionale Erfahrungen, können moralische Orientierungen sinnvoll erörtert und ergo verinnerlicht werden. Da aber, wo Schule im Dienste der Zweckrationalität nur auf manische Abwehr gegen persönliches wie gesellschaftliches Leid setzt, werden kommunikative Austauschprozesse massiv beschädigt. Was bleibt, scheinen allein Überangepasstheit oder Rebellion zu sein. Unter dem diktatorischen Einfluss eines mechanischen Wissenserwerbs müssen dann alle unverständlichen Äußerungen ausgeblendet werden. Die Mentalisierungspraxis erweist sich folglich als stark reduziert.

Schließlich greift das vierte Kapitel die Entwicklung des Selbst auf und geht der Frage nach, wie es im Unterreicht zum Drama einer zweiten Individuierung kommt. Zunächst wird die den Lernprozessen innewohnende Raumbezogenheit reflektiert. Die Bedeutung dieses potenziellen Raums für die unterrichtliche Symbolarbeit wird über das Thema der Trennung (aus dyadischen Beziehungsfusionen) sichtbar gemacht. Fungiert der Lehrer als Container der noch unverdauten Affekte und Phantasien der Schüler, wird Zeit gewonnen, die für die anstehenden Enkulturationsansprüche bitter benötigt wird. Dies alles steht für die pädagogische Arbeit an der Wechselbeziehung von Ichideal-Bildung und Beziehungsfähigkeit – die grundlegenden Voraussetzungen für den Erwerb von Selbst-Bildung.

Der zweite Band befasst sich mit der Didaktik als Dramaturgie im symbolischen Raum. Das Dilemma der doppelten Ungewissheit – beide, Lehrer und Schüler müssen sich mit der kränkenden Leere des eigenen Nichtwissens konfrontieren und zugleich das Misstrauen gegen ein naives, allzu schnell erworbenes Wissen wach halten – ist gleichsam als Motto auszumachen. Das (chronologisch fortgeführte) fünfte Kapitel handelt daher von Gestaltungsimpulsen und vom Gestaltungsrahmen des Unterrichts. Denken wird als Denken im intermediären Raum aufgefasst, der zwischen Innen und Außen oszilliert. Problemlösung erscheint hernach als Sinnstiftung in einem Raum zwischen zu großer Affektintensität und Affektarmut. Hierzu bedarf es der Existenz eines haltenden Rahmens und einer dritten Instanz, wofür der Lehrer die Verantwortung übernimmt. Sinnstiftung erfolgt über seine Wahrnehmung wie Mitteilung der konkordanten Gefühle und Phantasien, was notabene das Gegenteil von Konfrontation beinhaltet. Sinnstiftung erfolgt als Beziehungsarbeit im didaktischen Feld. Der Lehrer geht mit dem Unbewussten seiner Schüler empathisch um und stellt ihnen sein eigenes Unbewusstes als Organ zur Verfügung. Vermittelt durch seine Containerfunktion – qua Affektregulierung, Erinnern und Verstehen – fördert er das Werden symbolischen Denkens. Da, wo zunächst unbewusste Phantasien der Schüler zur Inszenierung drängen, fördert eine verstehende Haltung die Übersetzung des Gleichsetzungsmodus in der Übertragung (in etwa: „Sie sind mein strenger Vater“) in einen repräsentationalen Als-ob-Modus (in etwa: »Ich habe verstanden, dass ich Sie wie meinen strengen Vater erlebe«). Voraussetzung für diese Form der Versymbolisierung, die einen spielerischen Umgang mit den Affekten einschließt, ist die Reflexion der eigenen Gegenübertragung. Sie ermöglicht den Aufbau der Mentalisierungsfunktion der Schüler. Und damit ist der deutliche Unterschied zwischen einem Wissen, das als vermeintlich objektive Information jenseits jeglichen Geltungsanspruchs von Sinn aufscheint, und einem Wissen, das mit dem Selbst und der Subjektnatur des Wissenden durch emotionale Erfahrung verbunden bleibt, markiert.

Das Ganze wird abgerundet durch knapp gehaltene Schlussbemerkungen, in welcher noch einmal die Tiefendimension des pädagogischen Materials herausgestellt wird. Schließlich finden wir ein umfangreiches Glossar zu den verwendeten Fachbegriffen vor, dass auch für andere pädagogische Arbeitsschwerpunkte gute Dienste leisten kann. Ich habe selten psychoanalytische Konzepte wie etwa Übertragung, Gegenübertragung oder Mentalisierung mit ihren verschiedenen Facetten so prägnant auf den Punkt gebracht gefunden.

Diskussion
Die beiden Bände lesen sich wie das Lebenswerk eines altgedienten Lehrers, der der nachfolgenden Generation junger Kollegen einige Warnungen und Ratschläge mit auf den Weg gibt, die sich im mainstream der Literatur über Schule kaum finden lassen. Schule hält für Lehrer wie Schüler viele Kränkungen und Beschämungen parat. Als Ergebnis der Abwehr dieser bedrohlich erscheinenden affektiven Erfahrungen werden Holzhammerpädagogik (»Kinder brauchen Grenzen«) und manische Suche nach Lösungen (»nicht auf die Defizite, sondern auf die Stärken schauen«) propagiert. Dass der oftmals vom Scheitern bedrohte Schulalltag eine unbewusste Dimension sein eigen nennt, scheint das Undenkbare zu sein. Übertragungen, Gegenübertragungen, Inszenierungen von Beziehungsstörungen sind aber stets präsent und umso wirkmächtiger, je massiver sie verdrängt oder verleugnet werden müssen. Hier zeigt der Autor einen gangbaren Weg auf, über das Verstehen dieses dynamisch Unbewussten zu einer affektiven Entspannung – und damit eigentlich erst zur Fähigkeit, sich Wissen als reflexives Wissen symbolvermittelt aneignen zu können – zu gelangen. Es geht weniger um Deutung im klassischen psychoanalytischen Verständnis als vielmehr darum, sich mit Hilfe des szenischen Verstehens der affektiven Verstrickungen von Lehrer und Schülern, vermittelt über die Reflexion der eigenen Gegenübertragungsneigung, aus diesen Beziehungsfallen wieder lösen zu können und so Raum zu schaffen für wahre Bildungsprozesse. Aktuelle theoretische Erörterungen aus dem Bereich der psychoanalytischen Fachdebatte werden in diesem Sinne für die Pädagogik aufbereitet, mit vielen Fallvignetten erläutert und dadurch anschaulich und gut verwendbar gemacht. Inzwischen wissen wir, oder haben es zumindest vermutet, dass auch Gymnasiasten ihre persönlichen Themen in die Schule einbringen, und diese, wenn nicht gehört, über unbewusste Inszenierungen auf der Beziehungsebene metaphorisch verschleiert zur Sprache bringen. Nur da, wo ihre Unterwerfungsgeste übermächtig erscheint, bleiben sie scheinbar sachlich erreichbar. Hirblinger bestätigt mit seiner umfangreichen Kasusistik und deren differenzierter Interpretation die Allgegenwart dieser adoleszenten Phantasien. Werden sie nicht verstanden, gereicht dies meist zum eskalierenden Ausagieren. Hier aber werden sie konstruktiv für das Werden der eigenen Bildung nutzbar gemacht.

Fazit
Das zweibändige Werk zeigt die Übertragbarkeit moderner psychoanalytischer Konzepte – wie etwa Erkenntnisse der Gruppenanalyse, der Affekt- und Mentalisierungsforschung – auf das Gebiet der Unterrichtsgestaltung auf. Das Wissen um und der kompetente Umgang mit unbewussten dynamischen Beziehungsarrangements in der Klasse wird als eine Bereicherung des Lehrerdaseins sichtbar. Anhand vieler Beispiele wird aufgezeigt, wie diese Kompetenzen zu einer substantiellen Verbesserung des Unterrichtsklimas und ergo zum Aufbau von reflexiven Bildungsprozessen beitragen können. Vielleicht wäre allein einzuwenden, dass die Zielgruppe fast durchgängig adoleszente Gymnasiasten sind. Gleichwohl wären die vorgetragenen Prinzipien ohne Not auch auf den Umgang mit anderen Schülergruppen zu übertragen. Es wird Zeit, das die Schuldidaktik derlei Erörterungen zur Kenntnis nimmt.

Rezensent
Prof. Dr. Manfred Gerspach
Hochschule Darmstadt, FB Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalytische Pädagogik, integrative Pädagogik, Elementarpädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern.

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