Rezension zu ADHS
Psychoanalytische Familientherapie. Zeitschrift für Paar-, Familien-, und Sozialtherapie. Nr. 22, 12. Jahrgang (Juni 2011)
Rezension von Heike VIiko
ADHS nimmt in kinderpsychiatrischen Einrichtungen, in kinder- und
jugendlichenpsychotherapeutischen Praxen und
Erziehungsberatungsstellen einen breiten Raum ein: 60 % aller
Vorstellungsgründe betreffen die Symptomtrias Unaufmerksamkeit,
Überaktivität und Impulsivität in einem mit dem Entwicklungsstand
des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die
Eltern möchten zumeist Ratschläge, wie dem Verhalten zu begegnen
sei. Dass ein ausgeprägter Leidensdruck besteht – besonders im
Umfeld, aber auch bei den Patienten selbst – ist gut
nachvollziehbar: Die Kinder sind laut, ständig in Bewegung,
hochgradig ablenkbar, sie „hören nicht“, machen sich nicht selten
unbeliebt, sodass man sie am liebsten schnell wieder loswürde und
nach Lösungen greift, die schnell Wirkungen zeigen: Methylphenidat
und verhaltenstherapeutische Interventionen gelten gemeinhin als
Mittel der Wahl, sodass Kollegen oder sich in Ausbildung
befindliche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oft eine
andere Möglichkeit der Behandlung gar nicht erst in Betracht
ziehen. Dabei geht es dem Konzept der ADHS ähnlich wie dem Stress:
Beides sind unspezifische Begriffe, die nichts darüber aussagen,
woher die psychische Anspannung kommt.
Dies erklären die Herausgeber des 2008 beim Psychosozial-Verlag
erschienenen Bandes ADHS. Symptome verstehen – Beziehungen
verändern, und geben mit dem Untertitel bereits den Hinweis auf
eine andere Betrachtungsweise als die der herkömmlichen Sicht auf
das Störungsbild. Terje Neraal und Matthias Wildermuth, beide
Fachärzte für psychosomatische Medizin, Kinder- und
Jugendpsychiatrie, bzw. Kinder- und Jugendpsychiatrie und
–psychotherapie, haben ein Buch zusammengestellt, dessen Ziele es
u.a. sind, dem Leser die Probleme der Kinder und deren
Familienangehörigen näherzubringen, und einseitige
wissenschaftliche Erklärungsmodelle sinnvoll miteinander zu
verbinden. Zu verdanken haben wir dies einer multiprofessionellen
Intervisionsgruppe, die sich über einen Zeitraum von vier Jahren
der Thematik ADHS in Fallbesprechungen gewidmet hat – hier haben
die Kinder offenbar die gebührende Aufmerksamkeit erhalten, die
ihnen in der klinischen Realität oft versagt bleibt. So fühlt es
sich jedenfalls für den Leser an, der unterschiedliche Zugänge zum
Thema haben kann: Das Buch eignet sich für Fachleute verschiedener
Professionen, die nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten
suchen; für diejenigen, die als ErzieherInnen oder LehrerInnen die
Kinder in Gruppen integrieren und mit ihnen umgehen müssen; für
Eltern, die nicht selten verzweifelt und oft am Ende ihrer Kräfte
sind, das Buch sensibilisiert.
Terje Neeral beginnt den in drei, auch einzeln mit Gewinn lesbare,
Teile gegliederten Band mit Theorieansätzen. Zunächst wirft der
Autor einen Blick auf neurobiologische versus psycho- und
familiendynamische Ursachenerklärungen und ermöglicht dem Leser von
der Geschichte des Störungsbildes und der Erörterung der
Symptomatik einen schrittweisen Zugang zur Innenwelt der Kinder.
Ein Hauptaugenmerk gilt der Diagnostik, einschließlich der
Übertragung und Gegenübertragung: Die Liste der allgemein
gehaltenen psycho- und familiendynamischen Fragestellungen hierzu
kann auch hilfreich für jedes andere Erstinterview sein.
Wesentliche Punkte werden am Ende des Abschnitts noch einmal
pointiert zusammengefasst, wobei die Feststellung, dass die als
ADHS bezeichneten Symptome wie Aufmerksamkeitsdefizit, motorische
Unruhe und Impulsivität unspezifische Oberflächenphänomene sind,
die auch biologisch determiniert sein können (vgl. S. 37), wohl die
wichtigste ist, da diese ein Nachdenken über die Symptomatik als
Ausdruck innerer Spannungszustände und deren Ursachen erst
ermöglicht. Auf derzeitige allgemeine Theoriekonzepte zur ADHS mit
ihren jeweiligen Polarisierungen wird im Anschluss eingegangen.
Danach stellt der Autor die dem Buch zugrunde liegenden Theorien
vor, bei denen davon ausgegangen wird, dass die Familie – auf die
natürlich auch gesellschaftliche Einflüsse wirken – den
Kristallisationspunkt darstellt, in welchem sich jedes Mitglied mit
den je eigenen Voraussetzungen in Beziehung zu den anderen begibt
(S. 41). So tragen alle Beteiligten die Verantwortung, nicht nur
ein Mitglied der Familie. Auch die Schuldgefühle der Eltern, von
denen diese oft (mehr oder weniger bewusst) entlastet werden
sollen, finden Berücksichtigung – es wird eindrücklich dargestellt,
wie wenig ein Täter-Opfer-Denken zum Verstehen der
Beziehungsdynamik beiträgt und sich stattdessen zusätzlich
belastend auf die Beziehungen auswirkt.
Von der vorgeburtlichen Entwicklung und der Symbiose des Säuglings
mit der Mutter bis hin zur Identitätssuche und Genitalität der
Pubertät wird dann anschaulich und gut nachvollziehbar die
psychische und motorische Entwicklung des Kindes in fünf Phasen
dargestellt, wobei den Entwicklungsaufgaben eine besondere
Bedeutung zukommt. Es sind mit Ablösung und Trennungen verbundene
Schritte, die bewältigt werden müssen, um im Schutz hilfreicher
Beziehungen Reifung und Entwicklung zu ermöglichen (was an
unterschiedlichen Stellen misslingen kann). Im Anschluss an diesen
Abschnitt erfolgt wieder eine Zusammenfassung der wichtigsten
Erkenntnisse; die aufeinander folgenden Punkte sind so schlüssig,
dass sie selbst ohne Lektüre der vorangegangenen Ausführungen
verstehbar und damit für den Interessenten nutzbar sind. In dieser
Systematik geht die Betrachtung weiter. Die ADHS wird unter dem
Aspekt der Bindungsstörung und der Regulationsstörung beleuchtet,
wobei jeder Abschnitt die zum Verständnis notwendigen Essentials
enthält: etwa von der Bindungstheorie einschließlich der
Darstellung der „fremden Situation“ bis zu den
Bindungsrepräsentationen des Erwachsenen oder Zusammenhängen
zwischen Fütter- und Gedeihstörungen, psychosozialen
Schwierigkeiten der Mütter usw. Dies geschieht so verständlich,
dass auch Neueinsteiger Raum bekommen, sich gut in die Themen
hineinzufinden. Für andere Leser stellen diese Kapitel sicher
lohnende Wiederholungen dar: Alles Wichtige ist enthalten bei
minimalem Leseaufwand. Das kann nicht schaden. Die Thematik ADHS
und Familiendynamik kann man auch als einen kleinen Abriss der
Entwicklung der psychoanalytisch orientierten Familientherapie
ansehen: Von deren Anfängen mit Horst-Eberhard-Richters
Rollentheorien (1963) über das Delegationsmodell von Stierlin
(1975), der Erweiterung um die Mehrgenerationenperspektive
(Sperling 1982) und der Beziehungsanalyse von Thea Bauriedl (1994)
ist alles kurz, übersichtlich, informativ und mit anschließender
Zusammenfassung dargestellt. Schließlich folgen ein Exkurs über die
Bedeutung des Vaters und ein kurzer Abschnitt zur Symptomatik, die
aufgrund innerfamiliärer Deprivationssituationen entstehen und zur
posttraumatischen Belastungsstörung führen kann, deren Symptome
kaum von denen der ADHS zu unterscheiden sind. Damit schließt der
theoretische Teil; der Leser ist gut ausgerüstet, sich den
anschließenden zehn Falldarstellungen zu widmen.
Die Auswahl ist gut getroffen: Die Behandlungen finden in
unterschiedlichem institutionellen Rahmen statt und unterscheiden
sich hinsichtlich des Alters der PatientInnen, Dauer der
Behandlung, Setting und zugrunde liegender Problematik. Die
Beispiele umfassen hier Themengebiete wie die frühe
Vernachlässigung einer Patientin durch Alkohol, Drogen, Suizid,
Pflegefamilie; die narzisstische Problematik eines 10-jährigen
Jungen; die Identitätsunsicherheiten eines 15-Jährigen; den sich
über Generationen haltende Selbstwertzweifel und Bedürftigkeiten,
die in der Symptomatik eines 11-jährigen Kindes Ausdruck finden;
Überforderung durch Schuldgefühle, Verlassenheitsängste u.v.a.m. Es
wird deutlich, welche Chance sich für die Kinder ergibt, wenn nicht
nur isoliert die Verhaltensstörung behandelt wird; die mitunter
sehr lebendigen Schilderungen sind wohl auch Ausdruck des
Lebendigen, das so schlecht zu begreifen, auszuhalten und darum
hinter der Symptomatik unter Verschluss gehalten werden muss. Wohl
jeder psychotherapeutisch Tätige erinnert angesichts der
Behandlungsbeispiele eigene, ähnliche Patienten oder Situationen
mit den entsprechenden Schwierigkeiten. Beim Lesen stellt sich
gleichermaßen Respekt vor den unerschrockenen BehandlerInnen wie
vor den PatientInnen nebst Bezugspersonen ein, vor den
Lebensgeschichten und dem, was sich hinter der Diagnose findet,
wenn man den Blick dahinter wagt. Letztlich zeigt die
katamnestische Untersuchung, wie durch psychotherapeutische Hilfe
für das Kind und dessen Familie auf Symptome als Ausdrucksmittel
und eine medikamentöse Behandlung zunehmend verzichtet werden kann.
Das alles macht wirklich Mut selbst als Behandler nicht aufzugeben,
das Weitergereichtwerden und damit das Nirgendwo-Ankommen der
Patienten als Wiederholung der frühen Ambivalenz zu unterbrechen
und neue Beziehungserfahrungen in der Therapie zu ermöglichen.
In einem letzten Abschnitt des Buches, dem praxeologischen Teil,
werden die Erfahrungen der Autorengruppe bezüglich der Diagnostik
und Therapie von aufmerksamkeitsgestörten, motorisch unruhigen und
impulsiven Kinder ausgeführt. Matthias Wildermuth stellt ein
Handlungsmodell dar, in dessen Zentrum die Abstimmung mit den
verschiedenen Kooperationspartnern steht. Dabei soll zunächst ein
diagnostischer Raum entstehen – schwierig vorstellbar gerade bei
der Symptomatik der ADHS, die ja zu schnellen Interventionen
verführt. Das Kind darf sich zunächst in seinem besonderen So-Sein
entfalten ohne Verhaltenskorrektur (S. 213). Das Handlungsmodell
wird in vier Phasen gegliedert: Ausgangspunkt ist die
Multiprofessionalität vor Ort. Die Patienten und ihre Familien
werden durch unterschiedliche Interventionen betreut, einer Person
obliegt die Vernetzung aller am Fall beteiligten (z.B. Schule,
Jugendhilfe), das Motto lautet hier Vielfalt bei gleichzeitiger
Klarheit der Verantwortlichkeit. In einer zweiten Phase werden die
Eltern sensibilisiert: Ansatzpunkt ist zunächst die Fixierung auf
das Symptom, die Abwehr kann behutsam gelockert werden, Ängste und
Schuldgefühle bekommen Raum. In der dritten Phase, in welcher sich
das Vertrauen zu den Therapeuten durch den gegenseitigen Austausch
in und über belastende Situationen gefestigt hat, geht es um die
Erfahrung der Einbeziehung eines Dritten ohne Auslöschung der
anderen Beziehungen, also dem Triangulierungsaspekt. Ein
Hauptaugenmerk ist auf die Elternarbeit gerichtet, wobei der
partnerschaftliche Umgang eine große Rolle spielt: Es ist wichtig,
dass sich die Eltern nicht gemaßregelt fühlen. Die vierte Phase
stellt sich für die Rezensentin als die eigentliche
Behandlungsphase dar, in der sich neue Muster entwickeln und
erprobt werden.
Das alles erscheint wirklich sinnvoll, allein: Es ist praktisch
schwer vorstellbar, da die institutionellen und personellen
Voraussetzungen auf verschiedenen Ebenen gegeben sein müssen! Wie
alltagstauglich ist ein solches Modell, und was bewirkt es?
Matthias Wildermuth und Anna Maria Sant’Unione fassen hierzu
abschließend in einem Beitrag noch die Ergebnisse einer Studie
zusammen, die unter der Überschrift „Zur Therapie des
hyperkinetischen Syndroms inkl. seiner Unterformen (ADS, ADHS,
hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens) sowie der damit
einhergehenden komorbiden Störungen in der sozialpsychiatrischen
Praxis“ , in der die tatsächlich gelebte Praxis mittels
katamnestischer Erhebung untersucht wurde. Dazu werden etwa
aktuelle Forschungsergebnisse referiert, allgemeine Fragen und
Hypothesen geklärt, Datenerhebung, spezielle Fragestellungen
erörtert und die Ergebnisse und deren Diskussion nebst
Schlussfolgerungen wiedergegeben. Eine Studie eben, die informativ
und wissenswert für etwaige Argumentationen bei Diskussionen ist,
in denen ganz selbstverständlich von Methylphenidat und
Verhaltenstherapie als alleiniger Behandlungsform der ADHS
ausgegangen wird.
Zusammenfassend kann man sagen: ADHS. Symptome verstehen –
Beziehungen verändern ist ein gut geschriebenes, lesens- und
überdenkenswertes Buch, das eine breite Leserschaft mit
unterschiedlichen Erwartungen ansprechen dürfte. Es macht Mut, sich
zu mühen.