Rezension zu School-Shooting (PDF-E-Book)
Faust – Psychische Störungen heute
Rezension von Volker Faust
Zum Thema: School-Shooting – Erkenntnisse und
Schlussfolgerungen
Es gibt viele »Schreckens-Worte«, die den einen mehr, den anderen
weniger berühren, irritieren oder gar in Furcht, wenn nicht gar
Panik versetzen. Man muss sie gar nicht aufzählen, jeder kennt
Beispiele. Es gibt aber auch ein Wort, das praktisch jeden zu
erhöhter Anspannung veranlasst: Amok. Und hier ist sogar noch eine
dramatische, folgenschwere, aus entsetzlichen Beispielen bekannte
Steigerung möglich: School-Shooting – Jugendliche Amokläufer die in
ihrer Schule wüten und dabei nicht nur Erwachsene, sondern auch
Gleichaltrige treffen, tödlich.
Auch gezielte Mehrfach-Tötungen durch Jugendliche an Schulen
bezeichnet man in der deutschen Öffentlichkeit (und
wissenschaftlichen Literatur) vorwiegend als Amok. Im
amerikanischen Sprachraum gibt es dafür mehrere Begriffe.
Beispiele: Rampage oder Classroom Avenger, vor allem aber
school-shooting. In den Medien ist oftmals nur von einem Massaker
oder Blutbad die Rede; juristisch handelt es sich um Mord oder
versuchten Mord; kriminologisch um Mehrfachtötungsdelikte, die man
auch unter die Kategorien Massenmord, Serienmord oder Spreekelling
unterteilen könnte. Kurz: Eine Vielzahl von Begriffen und
bedeutungsähnlichen Umschreibungen. Das Problem einer klaren
Struktur für Erkennen, Verstehen, Verhindern beginnt also schon mit
einer breit gefächerten Terminologie. Und so geht es auch weiter,
wenn man die (Fach-) Literatur inhaltlich und formal durchforstet,
je nach wissenschaftlicher Disziplin oder medialer Ecke, aus der
informiert, oft genug aber auch manipuliert wird.
An ernst zu nehmender wissenschaftlicher Literatur mangelt es
nicht, meist aus dem angelsächsischen Raum, aber auch in deutscher
Sprache, jeweils ergänzt durch entsprechende Online-Beiträge, die
immer häufiger werden. Einige bringen nichts Neues, andere
wenigstens eine hilfreiche Zusammenfassung, allzu viel harte Daten
sind aber auch nicht zu erwarten, denn – nachvollziehbar – nicht
einfach zu finden. Zum einen weil die Zahl der Amok-Taten
glücklicherweise (noch immer) relativ (!) überschaubar ist. Dies
gilt sogar für School-Shootings, die sich in letzter Zeit in den
Vordergrund geschoben haben. Zum anderen ist es schwer, die Täter
diagnostisch exakt einzuordnen, nicht zuletzt psychopathologisch,
wenn sie nicht mehr leben, wie das am häufigsten vorkommt. Solche
retrospektiven Untersuchungen bringen also immer nur eine relative
Erläuterungs- oder gar Beweis-Kraft auf die wissenschaftliche
Waage. Darüber können auch nicht die dann viel häufigeren
spekulativen Erkenntnisse und oft genug kontroversen Diskussionen
hinwegtäuschen, von den »medialen Trittbrettfahrern« ganz zu
schweigen.
Es ist aber lobenswert, wenn trotz allem immer wieder neue Ansätze
gewagt werden, vergleichbar mit den Holzwegen im Wald, die in der
Regel meist blind enden (»auf dem Holzweg sein«), trotzdem für die
Natur-Pflege unerlässlich sind. Und im wissenschaftlichen
Zusammenhang zur mosaik-artigen Zusammensetzung eines solch
unfassbaren Geschehens durchaus ihren Beitrag leisten.
In diese hilfreiche, fundierte und damit auch für den Alltag
nutzbringende Reihe passt sich das Buch des Soziologen Benjamin
Faust gut ein: School Shooting – jugendliche Amokläufer zwischen
Anpassung und Exklusion. Einerseits an einer Schule tätig,
andererseits eingebunden in ein Forschungsprojekt zur
Medien-Berichterstattung über Amoklauf (in diesem Fall Winnenden),
geht es ihm vor allem um die (inzwischen weitgehend akzeptierte)
Erkenntnis, dass die Täter nicht nur auf psychodynamisch
nachvollziehbare Weise, sondern geradezu reflektiert attackieren.
Das stößt einem bitter auf, wenn man die Pathographien von rund 30
School-Shootern sorgfältig rekonstruiert, über die es bisher
ausreichend nutzbares Material gibt (nicht zuletzt Selbstzeugnisse
an die Internet-Öffentlichkeit). Oder kurz: Zumeist keine einzige
Ursache, sondern eine mehrschichtige Entwicklung (Stichwort:
multi-kausaler Erklärungsansatz), was schließlich School-Shooting
als eigenständiges Phänomen erscheinen lässt (und wahrscheinlich
nicht in Zusammenhang mit anderen jugendlichen Tötungs-Delikten zu
sehen ist).
Da pflegen dann ordnungs-politische Kommentare der »zuständigen«
Stellen eher oberflächlich, blass und politisch wohlfeil auszusehen
(»mehr Sicherheit«, mehr »soziale Kontrolle«). Das wird zwar nicht
unbedingt von jedermann ernst genommen, aber zur Ablenkung reicht
es dann schon, vor allem was eine nüchterne Analyse der zu Grunde
liegenden Ursachen und Motive betrifft. Denn wenn derlei einmal
wissenschaftlich exakt, methodisch fundiert und mit dem notwendigen
Fleiß durchgeführt wird, dann ist es nicht mehr allein der
Amok-Täter, dann sind es auch gesellschaftliche Aspekte, die zu
diskutieren wären. Oder wie in seinem Geleitwort Prof. Dr. Dr. R.
Haubl ausführte: »... in die Mitte der Gesellschaft, die alles
andere als friedlich und überdies nicht nur individuell, sondern
vor allem strukturell gewaltförmig ist«. Und weiter: »Monokausale
Erklärungsversuche stehen im Verdacht, lediglich zu symbolischen
Handlungen zu führen, die über die reale Ohnmacht hinwegtäuschen
sollen« (Beispiel: die Dämonisierung von
»Killer-Computerspielen»).
Was führt zu School Shootings?
B. Fausts Analyse des verfügbaren Materials führt zu einem
bestimmten Muster, im Einzelfall variierbar, gesamthaft aber in die
immer gleiche Richtung tendierend: »Die Täter haben auf dem
Hintergrund einer lebensgeschichtlich erworbenen narzisstischen
Vulnerabilität, die nur gelegentlich als narzisstische
Persönlichkeitsstörung imponiert, kumulierte Erfahrungen einer
massiv kränkenden sozialen Marginalisierung hinter sich«. So die
wissenschaftliche Zusammenfassung.
Oder konkret: schwerwiegende Erfahrungen an Niederlagen und
Verlusten, die ihr Selbstwertgefühl in Mitleidenschaft ziehen und
ggf. zu tiefen Depressionen führen. Einige versagen in ihren
schulischen Leistungen, manche fallen negativ durch ihr Verhalten
auf und werden von den Lehrern dafür gemaßregelt. So gut wie alle
sind über einen längeren Zeitraum hinweg verbalen und körperlichen
Attacken ihrer Mitschüler ausgesetzt, was sie ans Ende der sozialen
Pyramide rückt.
Dabei ist es vor allem der soziale Ausschluss aus dem Umfeld von
Gleichaltrigen, der so sehr belastet, kränkt, demütigt und
schließlich in ohnmächtigen Zorn geraten lässt. Das Ergebnis:
Rückzug von sozialen Kontakten und schließlich Isolation, um
weiteren Kränkungen zu entgehen. Das ist das Terrain, auf dem
schließlich Groll, Zorn und zuletzt Hass wachsen, stetig,
unkontrolliert. Es kommt zur inneren Abwendung von der Schule, die
sich erst einmal in einer Anti-Haltung ausdrückt. Dann wandelt sich
die gefühlte und/oder reale Stigmatisierung in ein Status-Symbol,
was die Lage noch mehr verschärft. Durch Anschluss an eine
schulische oder außer-schulische Subkultur kann auch versucht
werden, Anerkennungs-Defizite auszugleichen, um wieder etwas mehr
Lebens-Sicherheit zu erlangen. Scheitert dies auch noch, entwickelt
sich darüber hinaus noch ein sonderlinghaftes Verhalten, das nicht
unentdeckt bleiben kann und auf das sowohl Lehrer wie Mitschüler
ihre eigenen Aggressionen projizieren.
Das ist die Zeit, in der die kompensatorischen Phantasien zunehmend
zu Rache-Phantasien werden – der gleichsam letzte Versuch, sich
Respekt zu verschaffen: die Androhung von Gewalt. Vor allem um vor
den anderen ihr Image als »Killer« glaubhaft vertreten zu können,
muss diese Gewalt aber schließlich realisiert werden. Der Vulkan
brodelt, aber eines Tages bricht er dann eben doch aus – und alle
sind überrascht oder tun so.
Zuvor aber gilt es die schreckliche Tat zu legitimieren. Dazu
greifen viele School-Shooter auf ein kulturell vorgegebenes Muster
zurück, das Gewalt in bestimmten Situationen als notwendige und
sinnvolle Handlungsweise darstellt. Dazu gehört auch die
Rechtfertigung, indem man sich als wehrloses Opfer in Szene setzt,
um seinem persönlichen Rachefeldzug beispielsweise eine politische
Note zu geben. Auch gender-typische Aspekte können eine Rolle
spielen: Gewaltanwendung als Ausdruck von Macht und Dominanz, kurz:
Männlichkeit. Das ist zwar eine gesellschaftlich nicht legitimierte
Darstellungsform von Männlichkeit, aber das interessiert zum einen
wenig oder kann zum anderen sogar noch stimulierend wirken.
Und schließlich die mediale Sogwirkung von School-Shootings, d.h.
vorausgegangene Amokläufe an Schulen. Das lässt sich leicht in den
Tagebüchern und Abschiedsbriefen nachlesen, immer häufiger auch
durch Fotos und Videos mit dem Klischee des wahnsinnigen
Killers.
Und was steckt dahinter? In vielen Fällen ein narzisstisches
Grundmuster. Denn durch fortwährende Kränkungen wird das
Selbstwertgefühl derart beeinträchtigt, dass zu entsprechenden
Abwehrreaktionen gegriffen werden muss, um der drohenden Krise Herr
zu werden. Der narzisstische Wunsch nach Allmacht und Omnipotenz
ist die Basis für jene Phantasien, die sich von zunächst noch
abstrakten Ideen von einem Amoklauf schließlich in konkrete
Tatabsichten wandeln. Indem die Folgen des Handelns in der
Phantasie durchgespielt werden, lässt sich die eigene Bedeutung
erhöhen, ja überhöhen. Und das ist die narzisstische
Befriedigung.
Oder wie Professor Haubl es ausdrückt: »School-Shooter inszenieren
einen triumphalen Moment, indem sie ihren erlittenen sozialen
Ausschluss dadurch überbieten, dass sie ihre Peiniger mit dem einem
irreversiblen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Lebenden
bestrafen.« Eine grauenhafte Selbstjustiz, aber nicht ohne
psychodynamischen Erklärungswert. Denn wie der Autor B. Faust in
der Schlussfolgerung seines interessanten, empfehlenswerten und vor
allem einem genauen Studium empfohlenen Buches anfügt:
School-Shooter leiden nicht an einem Mangel an Orientierung,
sondern an einem Mangel an Anerkennung. Sie töten nicht in blinder
Wut, wie dies häufig interpretiert wird. Sie sind auch keine
»wahnsinnigen Killer«, wie dies gerne in der Öffentlichkeit
wahrgenommen wird, Ihr Handeln ist im höchsten Maße sinnvoll und
wäre ohne eine Gesellschaft, die diesem Handeln Sinn verleiht,
nicht denkbar. School-Shooter mögen von einer vollständigen
Partizipation an gesellschaftlichem Leben ausgeschlossen bleiben,
doch stehen auch sie nicht außerhalb der Gesellschaft. Sie bilden
ihre Schattenseite, so der Experte.
Ein herbes Fazit, aber – wie erwähnt – auch nützliche
psychodynamische Überlegungen, die vor allem präventiv umgesetzt
werden sollten. School-Shootings nicht als die Taten »kranker
Psychopathen« abtun, sondern als sinn- und identitätsstiftende
Handlungen, auch wenn dieser Satz erst einmal irritieren sollte.
Denn damit versuchen die Täter Anerkennungsdefizite durch ihre
Umwelt auszugleichen. Gewaltsam durchbrechen sie das ihnen
zugewiesene Stigma des Außenseiters und stellen über ihre Tat
sicher, dass man sich ihrer erinnert, so B. Faust.
Deshalb gilt es diese Ursachen und Motive im Auge zu behalten, um
sich nicht geschockt erinnern zu müssen, sondern gezielt und
konsequent die richtige Einstellung im Vorfeld einer solchen
Entwicklung zu fördern – um damit die nächste Tat rechtzeitig zu
verhindern (VF).