Rezension zu Gestillt mit Tränen - Vergiftet mit Milch

psychosozial 1/2011

Rezension von Roland Kaufhold

Eine Begegnung zwischen Deutschen und Israelis, in der man sich um eine »Aufarbeitung« unseres traumatischen Erbes bemüht, bleibt schwierig. Knapp 100 deutsche und israelische Psychoanalytiker haben, nach langjähriger Vorarbeit, in den Jahren 1994–2000 drei jeweils einwöchige Gruppentreffen organisiert, mittels derer die traumatischen Folgewirkungen der Shoah »aufgearbeitet« werden sollten. Erst hierdurch, so die zugrundeliegende Annahme, werde eine wirkliche Begegnung zwischen Israelis und Deutschen möglich. 24 Teilnehmer dieser Gruppenseminare haben sehr persönliche Erinnerungen und Interpretationen verfasst. Diese sind von den Herausgebern sorgfältig bearbeitet und in einem überwiegend flüssig lesbaren Buch zusammengefasst und mittels Interpretationen miteinander verbunden worden. Der Buchtitel »Gestillt mit Tränen – Vergiftet mit Milch« gibt die Schwere dieser aufrührenden Erfahrungen und Gefühle wieder.
Zu den Herausgebern: H. Shmuel Erlich wurde 1937 in Frankfurt am Main geboren und emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach Palästina. Dort war er Inhaber des Sigmund-Freud-Lehrstuhls der hebräischen Universität Jerusalem. Seine Ehefrau Mira Erlich-Ginor wurde 1944 in Israel geboren, ist Lehranalytikerin in Israel und hat zahlreiche Gruppenbeziehungskonferenzen geleitet. Hermann Beland wurde 1933 in Wittenberge geboren, hatte diverse Funktionen in psychoanalytischen Institutionen inne und hat unter anderem zum Thema Antisemitismus publiziert.
Vorangestellt ist dem Buch ein kenntnisreiches Vorwort des südafrikanischen Erzbischofs Desmond M. Tutu, in dem er die Verstehensbemühungen mit den wegweisenden südafrikanischen Erfahrungen mit den »Wahrheitskommissionen« in Beziehung setzt. Diese Begegnungen seien ein exemplarischer Versuch der Konfliktlösung, der Bewusstmachung allzu verständlicher zerstörerischer Impulse: »Jede uns bekannte Methode, diese bösen Geister ein für alle Mal zur Ruhe zu bringen, verdient es, weithin bekannt gemacht zu werden« (S. 14), hebt Desmond Tutu hervor.
In einführenden Beiträgen zeichnet H. Shmuel Erlich die Geschichte der Psychoanalyse in Israel nach, die Mitte der 1930er Jahren von deutsch-jüdischen Emigranten begründet wurde (vgl. Kaufhold/Wirth 2006), Hermann Beland beschreibt den Weg der deutschen Psychoanalytiker zur ersten »Nazarethkonferenz«. Die Psychoanalytiker aus Deutschland hatten viele Jahrzehnte lang den Nationalsozialismus, die Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Kollegen letztlich in gleicher Weise verleugnet wie andere akademische Berufsgruppen (vgl. Lohmann 1984). Im Jahr 1987 hatten israelische Psychoanalytiker unter der Schirmherrschaft des Jerusalemer Freud Center erstmals deutsche Kollegen offiziell eingeladen, an einer Konferenz zur »Bedeutung des Holocaust für nicht direkt Betroffene« (S. 34) teilzunehmen. Diese Gespräche mit Deutschen waren für die meisten Nachfahren der ersten und zweiten Generation der Überlebenden der Shoah »eine neue und bestürzende Erfahrung« (S. 34). Wie labil die wechselseitige Beziehungen, das Bemühen um Verständnis trotz mehrfacher Treffen blieben, wird in den im Buch wiedergegebenen Selbstaussagen nachdrücklich deutlich. Einige deutsche Analytiker fürchteten sich vor dem – allzu berechtigten – Hass ihrer Kollegen in Israel. Andererseits waren sie auf diese Begegnungen angewiesen, um mit der Durcharbeitung dieser traumatischen Themen, die in Behandlungen häufig bedeutsam waren, überhaupt beginnen zu können.
Eine Reise nach Deutschland, eine Konfrontation mit dem eigenen »deutschen Erbe«, war für die meisten Israelis ein verstörendes Unternehmen. H. Shmuel Erlich erinnert sich:
»Während der prägenden Jahre war ich zwar nie ›ein Jude in Deutschland‹, wohl aber für die längste Zeit sehr deutlich ›ein deutscher Jude‹. An meinem 40. Geburtstag kam ich das erste Mal nach Deutschland zurück. Seitdem war ich oft dort und hatte jedes Mal das unheimliche Gefühl, wieder zu Hause und gleichzeitig ein Fremder, ein völliger Außenseiter zu sein, mal sehr willkommen oder kaum verhüllt abgelehnt, wie es sich gerade ergab« (S. 175).
Für die israelischen Analytiker waren diese Gruppentreffen noch erschütternder. Das Gefühl, die eigenen, zum Teil ermordeten Eltern und Großeltern zu verraten, stellte sich immer wieder ein. Dies wird im Buch von den israelischen Autoren immer wieder benannt. Beispielhaft sei Robi Friedman zitiert, dessen Mutter in Berlin geboren wurde:
»In den letzten Jahren habe ich mich mehr und mehr von den Deutschen und von Deutschland zurückgezogen. Es war schwer (in der Konferenz), in Kontakt zu kommen mit den Deutschen. Es fühlte sich an wie Verrat, ich konnte kaum Deutsch mit ihnen sprechen […]. Ich hatte Träume, in denen ich die Nummer auf der Hand meiner Tante sah, die mich aufgezogen hat« (S. 67).
Gelegentlich waren wechselseitige Identifikationen möglich, trotz der Gegensätzlichkeit der Erfahrungen. Kreuzer-Haustein findet für die getrennten Trauerprozesse folgende Formulierung: »Es entstand das Bild, dass beide, Israelis und Deutsche, gemeinsam in einem Haus, aber in getrennten Zimmern, trauern könnten« (S. 92). Der deutlich zu benennenden »Gefahr falscher Versöhnung« und »der Angst davor« ist ein eigenes Kapitel gewidmet (vgl. S. 155–174).
Abgeschlossen wird der Band durch knapp gehaltene Ausblicke in die Zukunft, im Sinne einer Fortführung dieses Projektes.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen dass der Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust, ehemals PAKH e.V. (vgl. psychosozial 116 [II/2009], S. 47–56; Opher-Cohn et al. [2000]), seit über zehn Jahren eine vielleicht vergleichbare Arbeit macht.

Roland Kaufhold


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