Rezension zu Sie küssen und sie schlagen sich
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Rezension von Barbara Baumeister
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. phil Barbara Kiesling ist Sozialpädagogin und
Diplom-Eheberaterin. Sie hatte die Gelegenheit am Institut »Womens
Studies in Education« in Toronto Texte zu studieren, in denen das
Phänomen der häuslichen Gewalt durch tiefenpsychologische Konzepte
erklärt wurde. Diese Konzepte werden in der vorliegenden
Publikation ausführlich dargelegt und von Auszügen zweier
Interviewbeispiele mit Frauen, die ihren Partner getötet haben,
illustriert.
Im gleichen Verlag ist 2002 eine qualitative Studie über Frauen,
die ihren Partner getötet haben, mit dem Titel »…einfach weg aus
meinem Leben« erschienen. Weitere Werke sind »Der andere ist nicht
die Hölle. Wie Paare dem Himmel näherkommen« (Vandenhoeck &
Rprecht, 2007) und »Seid möglichst glücklich miteinander. Die
Partnerfibel für Aufgeklärte« (Noel-Verlag, 2010).
Thema
Die Autorin berichtet, dass Schätzungen zufolge, jede vierte Frau
in der Bundesrepublik von ihrem Partner misshandelt werde. Seit die
Feministinnen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf
diese Tatsache aufmerksam gemacht haben, wird Gewalt in der Ehe
nicht mehr als Tabuthema behandelt. Auch wenn bereits
verschiedentlich auf die Verstrickung der Täter- und Opferrolle in
Paarbeziehungen hingewiesen wurde, ist das Bild des gewalttätigen
Mannes und der von ihm misshandelten Frau immer noch weit
verbreitet. In diesem Buch werden Ursachen aufgezeigt, die zu
Misshandlungsbeziehungen führen und wie die Partner unbewusst
wechselseitig komplementäre Rollen im Gewaltgeschehen einnehmen, so
dass eine Abgrenzung zwischen Täter und Opfer in diesem Kontext
kaum möglich ist.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert.
Im ersten Kapitel wird der Problematik – gegen die Person Gewalt
ausüben, die man vorgibt zu lieben – nachgegangen. »Was sind das
für Menschen, die ihren Liebespartner misshandeln und von ihm
misshandelt werden?« (S. 18). Die Autorin verweist auf den
Zusammenhang von wiederholten, äußerst verletzenden Erfahrungen in
der Kindheit und der Entwicklung einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung, welcher von weiteren Autoren
bisher erkannt wurde. Der Grund dafür, warum Menschen im späteren
Leben zu misshandelten oder misshandelnden Beziehungspartnern
werden, wird in einer gespaltenen seelischen Struktur gesehen.
Im Weiteren skizziert Barbara Kiesling die Entstehung dieser
tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung und ihre Symptome wie
Abwehrmechanismen, die die existenziell bedrohlichen Erlebnisse von
der Psyche abspalten und ins Unbewusste verdrängen. Die Autorin
spricht dabei bildlich von zwei inneren Häusern (bezugnehmend auf
das Konzept von Ruppert), in denen Betroffene wohnen. Im
»traumatischen Haus« werden die existentiellen Ereignisse verdrängt
und führen fortan ein Eigenleben. »Darin liegt auch der Grund,
weshalb auf die durchbrechenden Affekte kein Einfluss genommen
werden kann« (S. 34). Das zweite, »gute Haus«, welches durch die
genannten biografischen Bedingungen sehr klein ausfallen würde,
wird mit Hoffnungen und Fantasien der Betroffenen gefüllt, um dem
beängstigenden Haus etwas entgegensetzen zu können.
Neben diesen tiefenpsychologischen Erklärungskonzepten, werden in
diesem ersten Teil neurologische Erkenntnisse beigezogen, die die
Auswirkungen einer negativen Kindheit mit hirnphysiologischer
Entwicklung bestätigen. Danach ist die Ausbildung von
Nervenzell-Netzwerken von Beziehungserfahrungen abhängig. In diesem
Zusammenhang wird sich das zentrale Nervensystem insbesondere auf
die Bewältigung einer Bedrohung konzentrieren, so dass andere
hirnorganische Bereiche ungenügend stimuliert werden können.
Die Problematik eines Menschen, der in zwei Lebenswelten lebt, ist
das zentrale Thema des zweiten Kapitels. Die Unberechenbarkeit
dieser Personen hat nicht nur Auswirkungen auf die Umgebung,
sondern auch auf die Betroffenen selber. Zwei innewohnende
unzusammenhängende Persönlichkeiten verunmöglichen es diesen
Menschen, ihre Identität zu finden. Die Identitätsstörung ist damit
ein weiteres Merkmal der Borderline-Erkrankung. Anhand von
Interviewauszügen werden solche konträren Lebenswelten anschaulich
beschrieben und verdeutlichen, wie trotz erlebter Misshandlungen an
einer Beziehung festgehalten wird, indem die Perspektive aus der
Verzweiflung und Hilflosigkeit heraus, plötzlich in Hoffnung »der
Partner wird sich ändern« und damit auf die Erfüllung der
Illusionen wechselt. Dies macht auch deutlich, dass häufig beide
Partner eine gespaltene Persönlichkeit haben, da der eine es sonst
nicht aushalten würde, mit einem anderen zusammen zu sein, der
einmal so und dann wieder völlig konträr reagiert. So verstricken
sich beide Partner in einen Kreislauf und machen sich gegenseitig
für die eigenen Enttäuschungen verantwortlich.
Barbara Kisling beschreibt weiter eine Kette von
tiefenpsychologisch begründeten Kausalitäten, die erklären, warum
die Partner trotz erlebter Misshandlungen aneinander festhalten:
Missbrauchserfahrungen, die zu einem negativen Selbstwerterleben
führen, fehlende Hingabefähigkeit aus Angst vor weiteren
Verletzungen, Selbsthass, der sich mit der kindlichen
Schuldübernahme für das elterliche Fehlverhalten und der daraus
resultierenden Aggression gegen die Verursacher des Schmerzes
begründet, Speicherung fataler Bindungsmuster und fehlender
Konturen aufgrund der gespaltenen Persönlichkeit, bilden die
Grundlage. All dies führt zu einer ausgeprägten Abhängigkeit
gegenüber dem Partner. Die betreffenden Personen sind genötigt,
sich an ein idealisiertes Ersatzselbst zu halten und haben
gleichzeitig Angst vor dem Verlassenwerden.
Das dritte Kapitel widmet sich dem Unbewussten und den Spuren, wo
dieses Ausdruck findet. Die Psychoanalyse als Wissenschaft stellt
Konzepte zum Verstehen menschlichen Verhaltens unter
Berücksichtigung des Unbewussten zur Verfügung. Das Unbewusste
bedient sich dem Abwehrmechanismus. In der Sprache lassen sich
induktiv Aussagen des Unbewussten entschlüsseln. Auszüge von
Interpretationen der Autorin von Erzähltexten zweier Frauen, die
ihren Partner getötet haben, bilden das dritte Kapitel. Diese
Illustrationen beleuchten die instabilen Muster solcher Menschen,
die durch die zwei konträren Lebenswelten gekennzeichnet sind und
machen deutlich, wie unfähig die Erzählerinnen sind, diese in
Beziehung zu setzen. Die beiden Täterinnen beschreiben ihre
Gewalttat als psychischen Notwehrakt. Verschiedene Autoren haben
erkannt, dass die Handlungsspielräume der Betroffenen subjektiv als
ausweglos erlebt werden, so dass sich die Situation direkt auf eine
spätere Tat hinentwickelt.
Im vierten Kapitel gibt Barbara Kiesling Empfehlungen für
präventive Maßnahmen und kritisiert die derzeitige Praxis. Am
wichtigsten erscheint ihr, ein weit verbreitetes Bewusstsein zu
schaffen und Gewalt nicht fortan zu bekämpfen, da die
Stigmatisierung Gewalttätiger diese zwingt, sich zu verstecken.
Empathie für deren Not und Entwicklung von frühkindlichen
Präventionskonzepten sowie wirksame Therapiekonzepte für
Misshandlungstäter und -täterinnen werden von ihr gefordert. Die
Autorin schreibt von »(…) zahlreichen Reporten, die darüber
berichten, dass die Therapieprogramme, die für gewalttätige Männer
entwickelt wurden, bislang wenig Wirkung gezeigt und auch nicht zu
den anvisierten Zielen geführt haben« (S. 146). Diese Aussage lässt
Fragen offen, da es gerade im Bereich der Straftätertherapie bei
Gewalt und sexualisierter Gewalt einen breiten Fundus
therapeutischer Ansätze gibt, die sich am Gewaltgeschehen
orientieren und dabei nicht die Zielsetzung der »Heilung«, sondern
der Verhaltenskontrolle verfolgen, und deren Erfolge auch empirisch
belegt sind.
Diskussion
Barbara Kiesling bedient sich unterschiedlicher bestehender
Ansätze, ohne diese auf der Basis einer metatheoretischen Reflexion
einzuordnen und zueinander in Bezug zu setzen. Dies führt dazu,
dass die herangezogenen Referenztheorien simplifiziert dargestellt
sind und lediglich dazu dienen, von ihr aufgegriffene Phänomene zu
erklären. An manchen Stellen steckt in den Ausführungen mit
wissenschaftlichem Anspruch dann auch die Gefahr, dass es in
populistischen Jargon kippt. Ein Beispiel sei hier genannt: So
haben sich Journalisten und Redaktionen nach der Veröffentlichung
der Dissertation von Barbara Kiesling abgewendet, worauf sie heute
konstatiert. »Seitdem sind einige Jahre vergangen und das
Bewusstsein der Allgemeinheit hat sich inzwischen weiterentwickelt.
Jetzt könnte der richtige Zeitpunkt für ein Umdenken gekommen
sein.« Das vor dem Hintergrund, dass solche und ähnliche
Erklärungsansätze schon längere Zeit bestehen.
Fazit
Verschiedene Erklärungsansätze und psychoanalytische Konzepte
werden im Kontext von frühkindlicher Gewalterfahrung,
Persönlichkeitsstörungen und häuslicher Gewalt in Paarbeziehungen
aufgezeigt und diskutiert. Das eigentlich Einzigartige dieser
Arbeit sind die beiden Fallbeispiele mit den von der Autorin
vorgenommenen Textanalysen, die einerseits einen Einblick in
qualitatives Forschungsarbeiten mit einem psychoanalytischen Ansatz
geben. Andererseits schaffen die induktiv erarbeiteten
Interpretationen dem Leser ein Bild, wie Betroffene auf zwei Bühnen
ihres Lebens agieren und sich dessen nicht bewusst sind. Das Buch
zeigt Ansätze auf, die zu einem vertieften Verständnis der
Problematik von häuslicher Gewalt beitragen. In erster Linie ist
dieses Buch direkt oder indirekt Betroffenen von Gewaltbeziehungen
zu empfehlen, da es eine Sensibilisierung bezüglich der
Schuldzuweisung und Stigmatisierung sowie Spaltung von Täter und
Opfer schafft.
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