Rezension zu Der halbe Stern
Das Gespräch aus der Ferne Nr. 395, Frühling 2011
Rezension von Gertrud Hardtmann
Die Verfolgten mit dem »halben Stern«
Traumatisierungs-Geschichten aus deutsch-jüdischen
Personenbeziehungen zur Zeit der Nazi-Herrschaft
Es ist dem Verein »Der halbe Stern e.V.« zu danken, dass er im
Rahmen einer Tagung in Berlin dieses Thema aufgegriffen hat, und
den Herausgebern und dem Verlag, dass die Beiträge publiziert
wurden. Nicht nur wird die Verfolgungsgeschichte rekonstruiert,
sondern auch die Generationen übergreifenden Traumatisierungen in
den Familien. Dieses »Zwischen-allen-Stühlen-Sitzen«, zwischen
jüdischer und nichtjüdischer/NS-deutscher Identität, hat nicht nur
zu äußerlichen, sondern auch innerpsychischen Spannungen und
Brüchen geführt, die Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen
haben.
Die Autoren kommen aus der Publizistik, Theologie, Erziehungs- und
Kulturwissenschaften, Medizin/Psychiatrie/ Psychotherapie, und sind
nicht zuletzt auch Zeitzeugen. Entsprechend weit gespannt ist der
Rahmen, der damit den vielfältigen Aspekten der Verfolgung dieser –
in der Sprache der Rasseideologen – »Mischlinge ersten und zweiten
Grades« gerecht wird. Der Perspektivreichtum macht das Buch
einerseits sehr persönlich – so die Zeitzeugenberichte (Kotek) oder
die mühsame Rekonstruktion einer Familiengeschichte (Zeuch-Wiese)
–, andererseits auch politisch und soziologisch informativ und
lebendig.
Themen sind die wirtschaftlichen Repressionen (Maria von der
Heydt), die Rolle und Einstellung der Kirchen, insbesondere
gegenüber den konvertierten jüdisch-deutschen Bürgern christlichen
Glaubens (Jana Leichsenring/Katrin Rudolf), Hilfsangebote, z.B. das
Büro Grüber (Walter Sylten), familiäre Tradierungen und
Identitätszuschreibungen während und nach der NS-Zeit (Ralf Seidel,
Jürgen Müller-Hohagen, Gerd Sebald), Versuche einer
Wiederherstellung der beschädigten jüdischen Identität (Dani Kranz,
Barbara Innecken), Probleme in den sog. ›Mischehen‹ (Monica
Kingreen) und der Vernichtungs-Antisemitismus in einem historischen
Abriss (Johannes Heil). Das Buch schliesst mit zwei Andachten der
Theologen Brigitte Gensch und Martin Stöhr.
Dieses Buch ist nicht nur für den interessierten Laien, sondern
auch für den Wissenschaftler aufschlussreich, der ausführliche
weiterführende Belege und Literaturhinweise findet. Für den
Schulunterricht ist es geeignet durch die sachlichen Informationen
und die persönlichen und emotional bewegenden Zeitzeugen- und
Familiengeschichten und die beigelegte DVD, eine Aufzeichnung des
Zeitzeugen-Plenums.
Hier wird ein weiteres Kapitel deutscher NS-Geschichte, dessen
Wurzeln sowohl im religiösen, als auch im wahnhaften politischen
und rassischen Antisemitismus liegen, vorgestellt und analysiert.
Aber es wird auch über Zivilcourage und Solidarität berichtet, über
Menschen, die sich ihrem persönlichen Gewissen oder einfach nur
ihrem Mitgefühl und universelleren Werten verpflichtet fühlten als
den kirchenamtlich, nationalstaatlich oder ideologisch
vorgegebenen.
Das im Titel und in den Beiträgen angesprochene Thema
»Identitätsproblematik« – sich als Deutscher zu fühlen und dennoch
nicht als solcher anerkannt zu werden – ist auch heute noch
relevant für unter uns lebende deutsche Staatsbürger aus anderen
Kulturen, soweit ihnen Anerkennung und Gleichberechtigung
verweigert werden. Insbesondere von der rechtsradikalen Szene, aber
auch partiell in konservativen Kreisen werden sie einerseits als
minderwertig, andererseits auch als Gefahr wahrgenommen. Ihre
Entwertung dient nach wie vor der Selbstidealisierung, ihre
»Gefährlichkeit« spricht für ein geringes Selbstbewusstsein.
Unsichere und brüchige Identität kann jedoch nicht durch Spaltungen
und Projektionen auf Kosten und zu Lasten von Anderen gelöst
werden. Solche übergreifenden Fragen, die anscheinend bis heute
nichts von ihrer Aktualität eingebüsst haben, stellt auch dieses
Buch.
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, sowie
Psychoanalytikerin. Von 1977 bis 1998 war sie Professorin für
Sozialpädagogik/Sozialtherapie an der Technischen Universität
Berlin.
Veröffentlichungen: über die Auswirkungen des Holocaust auf die
erste, zweite und dritte Generation der Täter und Opfer. Seit 1992
Untersuchungen zur rechtsradikalen
Jugendgewalt und zum Fremdenhaß in der Bundesrepublik Deutschland,
veröffentlicht in: »16, männlich, rechtsradikal«; Patmos,
Düsseldorf 2007.