Rezension zu C.G. Jung - Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit
Psychologie in Österreich 5, Volume 30/Dezember 2010
Rezension von Johanna Vedral
Brigitte Spillmann & Robert Strubel: C.G. Jung: Zerrissen zwischen
Mythos und Wirklichkeit. Über die Folgen persönlicher und
kollektiver Spaltungen im tiefenpsychologischen Erbe.
Das Autorenduo nimmt mit seiner Publikation eine kritische
Durchleuchtung von Jungs Psychologie aus der Innensicht (beide
waren als Lehranalytiker und Dozenten am C.G. Jung Institut Zürich
tätig, Brigitte Spillmann auch als Präsidentin) vor. Besonderes
Augenmerk legen sie dabei auf Jungs Verhalten in
nationalsozialistischer Zeit und das kollektive Beschweigen dieses
unbewältigten Erbes durch die Jung/'sche Gemeinschaft, die sich
über Generationen hinweg unfähig zum kritischen Diskurs zeigte.
Ihre Position als professionelle Erinnerungsarbeiter verstehen
Spillmann und Strubel als »Abschied aus der narzisstischen
Verkapselung zugunsten eines offenen Weltbezugs«, denn ohne
kritische Selbstbefragung der eigenen Geschichte bleibe die
psychoanalytische Gemeinschaft im Sinne der Wiederkehr des
Verdrängten unbewusst in der sich endlos wiederholenden Geschichte
verhaftet.
Teil I der dreiteiligen Publikation –»Gefangen im Mythos« – öffnete
mir als langjähriger Jung-Verehrerin die Augen für einen großen
schmutzig-weißen Fleck in Jungs Biographie. Die Zeit von Jungs
Aktivitäten im nationalsozialistischen Deutschland (1933–1940) habe
ich genauso ausgeblendet wie die meisten seiner SchülerInnen. Auch
er selbst erwähnt diese Phase seines Wirkens in seiner
Autobiographie »Erinnerungen, Träume, Gedanken« mit keinem Wort,
denn nur »die inneren Ereignisse seines Lebens« wären
erzählenswert. Damit bleibt er in narzisstischer Verkapselung
hinter dem Weltverständnis seiner Psychologie zurück, denn
Individuation schließe die Welt nicht aus, sondern ein.
Die Identifikation mit Jung prägt auch heute noch viele Analytiker
und verstellt ihnen den Blick auf historische Tatsachen und die
menschlichen Begrenztheiten des idealisierten Objekts. Spillmann
und Strubel ist bewusst, dass sie durch das Anpacken dieser
schwierigen Erinnerungsarbeit Gefahr laufen, als Nestbeschmutzer
verunglimpft zu werden.
Es war für mich desillusionierend zu lesen, dass Jung sich als
Propagandist der Nazis durch die »Arisierbarkeit« der
Psychotherapie instrumentalisieren ließ, sich zu einer
»Rassenpsychologie« bekannte und »Einsichten über die Juden« und
die »germanische Seele«, das »arische« und das »jüdische
Unbewusste« publizierte und durch die Ausgrenzung und Herabsetzung
der »zersetzenden« Freud’schen (jüdischen) Psychoanalyse Macht und
Einfluss als »Führer« für die Psychologie der »deutschen Seele« zu
gewinnen verstand. So sprach Jung z.B. noch 1939 von Hitler als
»Halbgott und Mythos«, als »wahrhaft mystischem Medizinmann« – 1946
aber beschrieb er ihn als »Verkörperung aller menschlichen
Minderwertigkeiten« mit dem »scharfen Witterungsvermögen einer
Ratte«, als Schatten jedermanns Persönlichkeit.
Spillmann analysiert hier eine Spaltung Jungs, der nach dem Krieg
eine »Kollektivschuld aller Deutschen« feststellt, ohne selbst nur
den Ansatz eines Unrechtsbewusstseins oder Schuldgefühls
einzugestehen. Diese Spaltung führt Spillmann in ihrer Diagnose auf
die narzisstische Wut Jungs – durch die durch den Bruch mit Freud
erlittene Kränkung – zurück, was ein ungeheures
Zerstörungspotenzial freisetzte und Jung moralisch kollabieren
ließ. Jung war quasi dem Bösen verfallen, der »Sünde der
Unbewusstheit«, vom archetypischen Geschehen zur Zeit der
Massenpsychose in Hitlers Deutschland überflutet, gab er Freud mit
seiner Bewegung der Vernichtung preis: »An Jungs Beispiel können
wir das Fürchten lernen ob der Folgen einer nicht abgeklärten
Übertragung und deren Tendenz zum unbewussten Ausagieren.« Jungs
Pathologie – eine tiefgründige Zwiespältigkeit, die Spaltung um den
Preis der Realitätsverleugnung – lege die Diagnose einer
Borderlinepersönlichkeit nahe. Diese Zerrissenheit sei ein Aspekt
von Jungs Begabung aber auch Gefährdung. Seine Nähe zum Unbewussten
barg immer die Gefahr der Inflation, wie sie sich oft in seinem
»ärgerlich« überheblichen Schreibstil spiegle.
Im 2. Teil des Buches analysiert Strubel die dyadische Verstrickung
in der pathetischen Beziehung Jungs mit Freud, dessen Psychoanalyse
das Fundament für Jungs eigenes Lehrgebäude bildet. Knapp
zusammengefasst, identifizierte sich Jung mit Freud, der ihn zum
»Thronfolger«, Sohn und Erbe der Psychoanalyse »salbte«. Freud
suchte in Jung den exakten Spiegel, Jung die Erhöhung durch den
idealisierten väterlichen Freund. Nach dem Bruch mit Freud wurde
Jung zum »todbringenden Thronräuber«, Freud band nach Jung in
»narzisstischem Missbrauch« seine Tochter Anna in eine dyadische
Verstrickung, Jung stabilisierte sich in einer Dreiecksbeziehung
mit seiner Frau Emma und seiner Schülerin/Geliebten Toni Wolff.
Strubel zeigt Freud als identifiziert mit dem biblischen Moses, mit
der tiefen inneren Überzeugung, im Besitz einer die Welt
verändernden Lehre zu sein. Jeder Widerstand konnte für ihn nur ein
Widerstand gegen die Wahrheit sein, bei Konflikten – wie mit Jung –
war daher nur die Abspaltung und Gründung neuer
»Glaubensgemeinschaften« möglich: »Die Spaltungstendenzen unter
Analytikern sind offenbar so groß wie ihre päbstlichen
Unfehlbarkeitsansprüche.« Strubel sieht die Psychoanalyse »immer
noch« als Glaube, nicht als Wissenschaft, denn sie treibe rationale
Wissenschaft auf der Basis von Mythologemen, an die sie glaube.
Im Anschluss an die Analyse der unaufgelösten Übertragung zwischen
Freud und Jung betrachtet Strubel die Struktur der unaufgelösten
Übertragung in psychoanalytischen Institutionen: Das Ziel der
Psychoanalyse bestehe darin, die Übertragung aufzulösen, die
psychoanalytische Ausbildung (bei Freudianern wie bei Jungianern)
hingegen versuche, die Übertragung aufrechtzuerhalten. Der Beruf
des Psychoanalytikers werde v.a. dadurch erlernt, dass man sich mit
seinem Lehranalytiker identifiziere und per Identifikation alle
Konflikte und Abspaltungen der psychoanalytischen Tradition in sich
aufnehme und sie so von Generation zu Generation weitergebe. Ein
typisches Kennzeichen für diese Übertragungsbindung sei bei
Jungianern »Jung hat gesagt« als unwiderlegbares Argument, was die
für dyadische Bindungen typische Unfähigkeit zum Diskurs zeige.
Aufgrund der Offenheit und Widersprüchlichkeit von Jungs Lehre sei
es aber für jeden möglich, sich »seinen« Jung zurechtzulegen und so
den Mythos weiterzugeben.
Teil 3 zeigt anhand des Beispiels der Entwicklung des C. G. Jung
Instituts Zürich, wie Jungs pathologische Grandiosität von seinen
Schülerinnen nachgeahmt wird: Wir sehen Übertragungsseilschaften in
einer unseligen Deszendenzhierarchie und wie ungelöste
Übertragungen und Abhängigkeiten die Klärung und Neubelebung des
geistigen Erbes Jung durch nachfolgende Generationen von
Analytikerlnnen behindert werden. Spillmann beschreibt die
schwierigen Jahre ihrer Präsidentenschaft mit sich selbst
zerfleischenden Analytikerinnen ohne Streitkultur und die
Bemühungen, das Institut zu reformieren und neu zu
strukturieren.
Den pathologischen Aspekten von Jungs Persönlichkeit wurde in der
vorliegenden Publikation deshalb breiter Raum gegeben, weil sie im
Stammhaus kaum offenes Thema waren und so unbewusst den
Entwicklungsgang seines Instituts und die Rezeption seines Werkes
prägten. Das Autorenduo folgert, dass die Identifikation mit Jung
für seine Nachfolgerinnen bedeutete, den gleichen
Spaltungsvorgängen zu verfallen wie der idealisierte Meister, was
beinahe zur »narzisstischen Selbstauflösung« führte.
Als konstruktive Möglichkeiten, mit dieser »Spaltungswiederkehr«
des von den Schöpfern der Psychoanalyse Verdrängten umzugehen,
nennt das Autorenduo die Notwendigkeit der späten Wiedergutmachung
an Vater Freud seitens der Jungianer durch Anerkennung der
Abhängigkeit von Freuds Ausgangspunkt statt der Tradierung eines
fixierten Feindbildes. So könne durch eine entidealisierende reife
Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit
ein befruchtender Dialog innerhalb des Instituts und zwischen den
abgespaltenen Gruppen gefunden werden, ein Dialog, der von Respekt
vor den Differenzen, aber im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem
gemeinsamen Stammbaum geprägt sei.