Rezension zu Das Innere-Kinder-Retten (PDF-E-Book)
Jahrbuch Musiktherapie. Band 7 (2011)
Rezension von Henrike Roisch
Gabriele Kahn beschreibt in ihrem Buch »Das Innere-Kinder-Retten«
die Methode der sanften Traumaverarbeitung. Bei dieser Methode
handelt es sich um einen tiefenpsychologisch fundierten Ansatz, der
gemäß der Autorin mit jeder geläufigen Traumatherapie-Methode
kombiniert werden kann. Die Autorin, Diplompsychologin und
Psychotraumatherapeutin in eigener Praxis kann in ihrem Buch auf
vielfältige therapeutische Erfahrungen mit traumatisierten
Patienten zurückgreifen. Das macht das Buch sehr anschaulich und
lesenswert.
Der Begriff »sanfte Traumaverarbeitung« – im Untertitel zu finden –
bezieht sich auf die Tatsache, dass Gabriele Kahns Methode ohne die
für die Patienten meist belastende und retraumatisierende
Traumakonfrontation auskommt. Gleichzeitig möchte sie jedoch über
den Zustand bzw. die Phase der reinen Stabilisierung hinausgehen,
in welcher die Patientinnen aus ihrer Sicht gestärkt werden und es
auch zu einem akuten Symptomrückgang kommen kann. Bei der
Konfrontation mit Triggern ist jedoch ein Symptomrückfall bzw. eine
Retraumatisierung nicht auszuschließen.
Im Zentrum des Buches steht die Behandlung von vornehmlich
weiblichen Patienten, die emotionale sowie körperliche Gewalt,
Verwahrlosung und sexuellen Missbrauch erlebt haben. Thema des
Buches sind also Komplextraumatisierungen, d.h., dass
traumatisierende Ereignisse mehrfach und auf unterschiedliche Weise
in der frühen Kindheit bis zum jugendlichen Alter geschehen sind.
Gabriele Kahn geht davon aus, dass sexuelle Traumata weitaus
größere Folgen für die Betroffenen haben als andere
Traumatisierungen und daher auch gesondert behandelt werden
sollten. Kinder, die durch einen sexuellen Missbrauch traumatisiert
wurden, erleben meist zwei bis drei Traumatisierungen nacheinander:
(1) Das Trauma durch den sexuellen Missbrauch, (2) das Trauma, von
nahestehenden Vertrauenspersonen und Mitwissern nicht beschützt zu
werden. (3) Oft kommt ein drittes Trauma hinzu, wenn die nicht
schützenden Erwachsenen ihre eigenen Schuldgefühle nicht aushalten
und sie die gesamte Verantwortung auf das Kind schieben (vgl.
21-25).
Schritt für Schritt beschreibt Gabriele Kahn die Vorbereitung für
die Methode des Inneren Kinder Rettens (IKR) und die Rettung
selbst. Mit dem Begriff der inneren Kinder sind dissoziierte bzw.
abgespaltene Kindanteile der Patienten gemeint. Die Fähigkeit der
Patienten zur Dissoziation, wird in positiver Weise für die
Therapie genutzt. Es wird nicht gegen die Dissoziation, die einmal
lebensrettend war, gearbeitet, sondern mit ihr (vgl. 205). Sie wird
eingesetzt um die traumatisierten Kinder zu finden und sie von
Helfern retten zu lassen. Erinnerungen, die dissoziiert sind,
werden nicht oder nur teilweise im Langzeitgedächtnis
abgespeichert. Sie »bleiben unverarbeitet auf der intuitiven,
emotionalen (…) Seite des Gehirns. Diese ›Erlebnisgestalten‹,
Szenenausschnitte, Erinnerungen werden von der Betroffenen in der
heutigen Erinnerung als ›ich selbst als dieses damalige
Kind‹ erlebt (abgekürzt: ›das innere Kind‹), das die jeweilige
(traumatische) Szene erlebt hat, und nicht ein allgemeines ›inneres
Kind‹, das es tatsächlich so nicht geben kann. Die Erinnerung kann,
bei teilweiser (Gefühls-)Dissoziation, spontan vorhanden sein oder,
bei kompletter Dissoziation, mit verschiedenen Mitteln (…)
wiedergewonnen werden.«(207).
Die Vorbereitung für die Rettung und die Rettung selbst wird mit
den Mitteln der Imagination und des sicheren Orts durchgeführt,
wobei die/der Erwachsene nicht nur für sich selbst einen sicheren
Ort imaginiert, sondern auch die traumatisierten Kinder durch
imaginierte Helfer an einen sicheren imaginierten Ort bringen
lässt. Zugrunde gelegt wird hierbei die These, dass sich positive
Vorstellungen in gleichem Maße wie entsprechende reale Handlungen
auf das Gehirn auswirken (vgl. 206).
Bevor es zur imaginären Rettung der inneren Kinder kommt, sind
einige Voraussetzungen zu erfüllen: Es sollte kein Täter- und kein
Mittäterkontakt bestehen; die Patientin sollte äußerlich und
innerlich stabil sein; es sollte einen sicheren imaginären Ort für
den Erwachsenen geben und einen sicheren imaginären Kinderort, an
den die inneren Kinder mittels idealer Helfer gebracht werden
können. Es braucht einen therapeutisch günstigen Zeitpunkt und es
ist von Vorteil, wenn der Therapeut bzw. die Therapeutin mit der
Methode des EMDR (=Eye Movement Desensitization and Reprocessing)
vertraut ist. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann die Rettung
der Inneren Kinder, bzw. der abgespaltenen Kindanteile beginnen
(vgl. 221).
Die Methode des Inneren-Kinder-Rettens unterscheidet sich von der
Expositionsmethode in drei Punkten: (1) Sie arbeitet nicht gegen
die Dissoziation, sondern mit ihr. (2) Sie arbeitet mit der
konstruktiven Vorstellung und nicht mit schmerzlicher Erinnerung.
Diese wird nicht im Detail erinnert und auf keinen Fall
durchgearbeitet. (3) Drittens wird dem Erwachsenen nur indirekt
geholfen. Direkt geholfen wird den traumatisierten Kindanteilen,
die sich seit der Traumatisierung danach sehnen gerettet zu
werden.
Was die Methode nicht braucht, ist das Trauma noch einmal an einem
sicheren Ort zu durchleben sowie das Erleben der imaginären Rettung
im heutigen Erleben und damit die Auflösung »der dissoziativen
Gefühlsblockade« (vgl. 205-206).
Als Basis für ihre Methode des Inneren-Kinder-Rettens nennt
Gabriele Kahn zu Beginn des Buches folgende Autoren,
wissenschaftliche Konzepte und Methoden: Die Einführung der
imaginativen Methode in die Traumatherapie durch Luise Reddemann
und Michaela Huber; das Konzept der strukturellen Dissoziation von
Onno van der Hart, Ellert Nijenhuis und Kathy Steele; den Ego-State
Ansatz nach Watkins für die Stabilisierung der Patienten.
Zusätzlich verwendet sie auch die EMDR-Methode (=Eye Movement
Desensitization and Reprocessing) und die Brainspotting Methode von
David Grand (vgl.15/16).
Lesenswert ist dieses Buch für alle Musiktherapeuten, die mit
traumatisierten Patienten arbeiten und sich für die therapeutische
Arbeit mit dem Mittel der Imagination interessieren.
Gut nachvollziehbar sind die einzelnen therapeutischen Schritte vom
Auffinden der dissoziierten Kindanteile, über die Phase der
Stabilisierung bis hin zur Rettung der Inneren Kinder, auch weil
sehr anschaulich auf einzelne Patientinnen und Therapieverläufe
Bezug genommen wird. Der Text auf der Rückseite des Buches
empfiehlt es einerseits für Therapeutinnen als Manual und
andererseits für Betroffene als Wegweiser.