Rezension zu Tinnitus
Pressemitteilung Nr. 148 der Universität Bremen
Rezension von Eberhard Scholz
Globales Ohrensausen
Erste psychoanalytische Studie zum Tinnitus als Dissertation an der
Bremer Universität erschienen
Ist Tinnitus eine Globalisierungserkrankung? Diese These belegt der
Bremer Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker Michael Tillmann in
seiner jüngst vorgelegten Dissertation mit dem Titel »Tinnitus.
Gesellschaftliche Dimension, Psychodynamik, Behandlungskonzepte«.
Die Doktorarbeit im Fachbereich Human- und
Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen wurde mit magna
cum laude bewertet. Sie ist die wohl weltweit erste
psychoanalytische Studie zum Thema Tinnitus aurium. Dr. Tillmann
verknüpft in seiner Arbeit psychoanalytische Theorie und
klinisch-empirische Erfahrungen mit gesellschafts- und
kulturtheoretischen Erkenntnissen. »Denn zum individuellen Leid
kommt eine globale Dimension, die in einer erfolgreichen Behandlung
ebenso mitgedacht werden muss«, so Tillmann.
Auffällig ist, dass
Tinnitus in den vergangenen Jahrzehnten epidemische Ausmaße
angenommen hat. Knapp drei Millionen litten 1998 allein in
Deutschland unter dem Ohrensausen, und die Zuwachsrate ist enorm.
Die Deutsche Tinnitus-Liga spricht sogar von einer Volkskrankheit.
In anderen Industrie- und Schwellenländern sieht die Situation
ähnlich aus. Michael Tillmann bringt die individuelle Bedeutung des
Symptoms und ein durch Globalisierungsprozesse verursachtes
gesellschaftliches Ohnmachtsgefühl in einen neuen Zusammenhang.
Tinnitus: Eine körperliche Reaktion auf
Modernitätssprünge
Tinnitus ist demzufolge ein körperlicher
Widerstand gegen Entsubjektivierung und Entsinnlichung in Zeiten
der Globalisierung. Denn Modernitätssprünge verursachen Ängste in
den Menschen, sie können die derzeit stattfindenden Veränderungen
nicht sinnlich begreifen und erleben sie laut Tillmann als Verlust
von Geborgenheit. Sinnlich-körperliche Erfahrungen verschwinden
durch den ständigen Wandel lebensweltlicher Prozesse. Körperliches,
das verdrängt wird, kehrt jedoch bekanntlich in verzerrter Weise
wieder zurück. Die Folge ist laut Tillmann unter anderem eine
psychosomatische Reaktion des Hörsinns. Tinnitus fungiert hier
sozusagen als Pfropf, der das Ohr verschließt, wenn jemand »nichts
mehr hören will«. So gesehen, ist das Ohrensausen ein hysterisches
Konversionssymptom, das als körperliche Funktionsstörung des
Wahrnehmungssystems in symbolischer Weise einen unbewussten
Konflikt ausdrückt.
Tillmann beobachtet als Psychoanalytiker auch
das individuelle Leiden der Tinnitus-Betroffenen, dem die Medizin
im Grunde hilflos gegenüber steht. Reflexhaft werden diverse
pharmakologische und apparative Therapien angeboten, statt
zuzuhören und verstehen zu wollen. Die Heilungsversuche der
Gesundheitsindustrie beschränken sich auf Linderung der Symptome
und Gewöhnung. Tillmann widerspricht dem: Nicht weghören, sondern
hinhören sei der bessere Weg, denn für ihn steckt hinter dem
Ohrensausen eine Botschaft, die entschlüsselt werden muss. Ein
kreativer psychoanalytischer Prozess, auf den sich Patient und
Analytiker gleichermaßen einlassen müssen, kann die leidvolle
Körpersprache übersetzen und so helfen, das verlorene innere Objekt
wiederzufinden. Auf diese Weise, so Doktorvater Rolf Vogt in seinem
Gutachten, »wird das Symptom aus der bizarren Entfremdung des
unerklärlich Somatischen rückübersetzt in die verstehbare
unbewusste Bedeutungsvielfalt seiner psychosomatischen Ursprünge
und Ausdrucksformen«.
Anregungen, um nach dem unbewussten Sinn des
Leidens zu suchen
Wie dieser Prozess aussehen kann, schildert Tillmann in seiner
Dissertation ausführlich anhand eines klinischen Falles. Hier
entschlüsselt er exemplarisch, was sich psychodynamisch und
gesellschaftlich hinter dem Symptom verbergen kann. Er bietet damit
kein Manual, wie es in der Medizin üblich ist, sondern Anregungen,
wie gemeinsam nach dem oft unbewussten Sinn des Leidens gesucht
werden kann, um dann in einem weiteren Schritt eine Brücke zum
eingekapselten emotionalen Erleben im Unbewussten herzustellen.
Dies kann der Grundstein für eine Betrachtung sein, an die alle
tiefenpsychologischen, aber auch andere an einer sprechenden
Therapie interessierten Richtungen anknüpfen können.
Der Psychologie-Professor Rolf Vogt aus Heidelberg, der bereits vor
seiner Emeritierung an der Universität Bremen den Promovenden
betreut hat, lobt die Arbeit als »Pionierleistung«. In dieser
einmaligen Zusammenschau von theoretischen psychoanalytischen und
klinisch-empirischen Untersuchungen sowie gesellschaftskritischen
Beobachtungen eröffnet Dr. phil. Michael Tillmann die Perspektive
einer erfolgversprechenden Behandlung des epidemischen Phänomens
Tinnitus.
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