Rezension zu Psychoanalyse lesbischer Sexualität
Psychoanalyse & Körper, Nr. 18, 10 Jg. (2011) Heft 1 (März)
Rezension von Robert C. Ware, Anne Ware
Torelli, M. (2008): Psychoanalyse lesbischer Sexualität. Mit einem
Vorwort von Christa Rohde-Dachser.
327 S., Gießen, Psychosozial (Gießen), 39,90 Euro.
Torelli, Dr.phil., Dipl.-Psych., ist niedergelassene
Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in
München, Vorstandsmitglied der Münchener Arbeitsgemeinschaft für
Psychoanalyse (MAP) und offen lesbisch (vgl. S. 198). Aus diesem
persönlichen Bezug gewinnt ihr Buch erlebnisnahe Dichte. Vor allem
im letzten Drittel des Buches (Teil II: Explorative Empirie) lässt
uns Torelli im Umgang mit der eigenen Gegenübertragung in
Gesprächen mit lesbischen Frauen an ihren eigenen Ängsten und
Widerständen sowie an unbewussten Enactments jenseits der Worte
teilhaben – »ein mutiger Schritt«, bemerkt Christa Rohde-Dachser in
ihrem Vorwort: Torelli »führt [uns] mehr in die sexuellen Wünsche
und Ängste in der Beziehung eines lesbischen Paares [der Autorin
und ihrer Probandin] ein, als dies für jede theoretische
Darstellung gilt« (S. 11). Mit ihrem »szenischen Verstehen« des
»gemeinsamen Unbewussten« in den Gesprächsinteraktionen (5. 201)
leistet die Autorin einen wichtigen Beitrag zur intersubjektiven
Psychoanalyse. Da die Autorin grundsätzliche Fragen der
menschlichen Sexualität behandelt, enthält ihre Darstellung
lesbischer Sexualität für Leser/-innen, Psychoanalytiker/-innen und
Psychotherapeut/-innen unabhängig von deren Geschlechtsidentität
oder sexueller Orientierung eine Fülle von Anregungen.
In neun Kapiteln (Teil I: Zur Theorie lesbischer Sexualität)
bespricht Torelli Grundbegriffe der psychoanalytischen
Entwicklungstheorie weiblicher Sexualität: Bisexualität, Urszene,
Aneignung von weiblichem Körper und Geschlechtsidentität, Macht der
Mutter, Wandelbarkeit der ödipalen Dynamik zwischen gegen- und
gleichgeschlechtlichen Impulsen und Identifikationen, Beziehung zum
Vater und Triangulierung. In diesem Rahmen beschäftigt sie sich mit
Penisneid und »Kastration« der Gebärfähigkeit in der lesbischen
Beziehung, Betrauern der nicht möglichen Generativität, dem
»lesbische Tabu« des Begehrens zwischen Mutter und Tochter,
Adoleszenz und Konflikten um Coming-Out und Homophobie, Perversion,
Sadomasochismus und sexuellem Missbrauch. Ohne zu pathologisieren
greift sie vielfältige konflikthafte, potenziell pathogenetische
Themen sensibel auf und entwickelt daraus ihre eigenen
triebdynamischen Interpretationen. Unter Einbeziehung
feministischer und sozialpsychologischer Aspekte versucht sie
spezifische Schwierigkeiten lesbischer sexueller Entwicklung zu
verstehen: »welche Bedingungen im Zusammenspiel von Individualität,
Subkultur und Gesellschaft die Psychodynamik lesbischer Frauen
maßgeblich beeinflussen und stören kann sic!]» (S. 18). Die Autorin
beschreibt charakteristische Vorurteile, Ängste und
Abwehrstrategien, die sie als tief verankert in der lesbischen
»Szene« erachtet. Anzunehmen ist, dass diese intrapsychischen
Ausformungen bei lesbischen Frauen auch jenseits der
gesellschaftlichen Matrix der »Szene« im Sinne von individuellen
Entwicklungsstufen und Fixierungen von grundsätzlicher Natur
sind.
Torellis »wichtigste These« (Rohde-Dachser) ist die unbewusste
projektive Verschiebung von weiblicher Aggression und Gewalt auf
das andere Geschlecht, damit die Harmonie der Frau-Frau-Beziehung
gewahrt wird. Von Vamik Volkan entlehnt sie die Vorstellung des
»gewählten Traumas« als eine kollektive Abwehrform, die der
gruppeninternen Idealisierung des »Opferstatus« dient. In der
lesbischen Szene, so Torelli, würden »alle Arten von
intrapsychischen wie interpsychischen Konflikten lesbischer Frauen
[...] mit (sexualisierter) Gewalt von Vätern gegen Mütter und
Kinder oder als Resultate von familiären und gesellschaftlichen
Diskriminierungen gegen lesbische Frauen erklärt« (S. 188). So
diene der Diskurs über »sexuellen Missbrauch« (durch Männer) auch
der pauschalen Abwehr gegen weibliche Aggression. Die Zuschreibung
von Schuld auf den Vater oder den Mann hemme die Annahme der
Verantwortung für die eigene vitale Sexualität. Die verinnerlichte
Angst vor eigener Triebhaftigkeit und Aggressivität infolge
herkömmlicher weiblicher Sozialisation könne durch internalisierte
Homophobie noch verstärkt werden. Die Entwicklung einer stabilen
Geschlechtsidentität hingegen setze die Abgrenzungsfähigkeit von
Selbst und Objekt, die klare Differenzierung von Ich und dem
Anderen und eine reife Konfliktfähigkeit voraus.
Lesbische Frauen, erkennt Torelli, benötigen insbesondere
bisexuelle Identifikationen mit der Weiblichkeit der Mutter und mit
der Männlichkeit des Vaters. Infolge der bedrohlichen Instabilität
lesbischer Beziehungen mit ihrer unsicheren Verortung des
Männlichen und des Väterlichen sei die Geschlechtsidentitätsfindung
von lesbischen Frauen besonderen Belastungen ausgesetzt. Hat eine
lesbische Frau bestimmte weibliche Anteile aus traumatischen,
narzisstischen oder anderen konflikthaften Gründen gegenbesetzt und
innerlich entwertet, diese womöglich mit idealisierten und
hochbesetzten väterlichen Anteilen ersetzt, bestehe die Gefahr,
dass es zu Fixierungen auf ein bestimmtes
Geschlechtsrollenverhalten oder auf bestimmte sexuelle Praktiken
komme, die die reife Identitätsfindung beeinträchtigen können.
Werde sowohl das Männliche als auch das Weibliche entwertet, bleibe
im Grunde nur Geschlechtslosigkeit oder/und Asexualität in Gestalt
von sexueller Lustlosigkeit oder völliger Ablehnung des Zeigens von
erotischen Merkmalen (S. 105). Insbesondere »das lesbische Tabu« –
ein Begriff der Psychoanalytikerin Eva S. Poluda – stellt für
Torelli ein Entwicklungshemmnis dar: Das Begehren zwischen Mutter
und Tochter obliege einem massiveren Tabu als alle anderen ödipalen
Konstellationen. So würden im Rahmen der Diskussionen um sexuellen
Missbrauch alle Formen debattiert außer die zwischen Frau und Frau,
insbesondere die zwischen Mutter und Tochter. Daraus folgert
Torelli, dass lesbische Sexualität die am meisten tabuisierte
Sexualitätsform darstelle.
Torellis Sicht auf die psychosozialen Zusammenhänge des
Szenen-Netzwerkes kann natürlich die umfassenden Realitäten,
Diskurse und Lebensentwürfe innerhalb sehr verschiedener lesbischer
Szenen nicht vollständig wiedergeben. Sie umschreibt eine
spezifische Erfahrung lesbischer Sexualität im psychosozialen
Kontext lesbischer Community, die sie in den psychoanalytischen
Interpretationsrahmen stellt. Darin liegt ihr großer Verdienst: Sie
trägt zur differenzierteren Wahrnehmung und exemplarischen
Interpretation lesbischer Sexualität und Identitätsfindung in der
Psychoanalyse/Psychotherapie bei – wichtig auch für ein dynamisches
Verständnis gleichgeschlechtlicher Anteile von heterosexuellen
Frauen. Die vorwiegend triebdynamische Perspektive schmälert nicht
den heuristischen Wert der Arbeit. Im Unterschied zur zunehmenden
gesellschaftlichen Akzeptanz des Schwulseins in den letzten Jahren
unterliege die lesbische Lebensform weiterhin der Homophobie des
lesbischen Tabus sowohl im gesellschaftlichen Alltag als auch in
der Fachwelt (vgl. Einleitung, S. 1Sf.; 142f., 270ff.). Infolge der
intensiven Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenwelt falle es
schwieriger, das Selbstverständnis des Lesbischseins, das
Kraftvolle, die Fülle, das Ganze dieser »Möglichkeit des
Andersseins« individuell zu entwickeln.
Bei der Lektüre von Teil II – »Explorative Empirie« – stellen sich
Zweifel, Kritik und Ambivalenz am Vorgehen der Autorin ein.
Beabsichtigt wurde eine qualitative empirische Untersuchung, eine
Pilotstudie zur Generierung von psychodynamischen Hypothesen über
die sexuellen Schwierigkeiten lesbischer Frauen, deren Ursachen
»sowohl im psychischen Inneren einer Person als auch im
gesellschaftlichen Außen« liegen (S. 193). Datenerhebung erfolgte
über (meist telefonische) Einzelinterviews mit 24 lesbischen
Frauen, die sich auf Anzeigen in lesbischen Zeitungen gemeldet
hatten. In der Anzeige outete sich Torelli als »lesbische
Psychologin« (S. 198). Ihre Begründung hierzu ist einleuchtend,
ebenso ihr Anliegen: »Ich wollte mich mit meiner eigenen
Betroffenheit nicht verstecken, sondern sie gegebenenfalls in die
Interviews einfließen lassen« (S. 199). Vier der transkribierten
Interviews wurden ausgewählt und – von Prof. Dr. Rohde-Dachser »eng
begleitet« (S. 206 Anm.) – in einer Intervisionsgruppe mit
psychoanalytischen Kolleg/-innen mikroanalytisch ausgewertet.
Gerade bei diesem Auswertungs-Kapitel (11.2, S. 209–284) habe ich
ernste Schwierigkeiten mit den überbordenden sogenannten
»explorativen« Deutungen der vier Interviews. Die fantasievolle
Vielfalt triebdynamischer Möglichkeiten wäre sehr lehrreich, wenn
sie als solche identifiziert würde. Wenn aber Deutungen (etym.
»Fingerzeige«) so schrotflintenartig, kategorisch behauptet werden,
muss man befürchten, dass der bzw. die Deutende nicht über den
eigenen Finger hinausschaut. Eine einsichtsvolle Ausnahme findet
sich leider nur in einer einzelnen Äußerung der Autorin: »Ich
generalisiere, verharmlose und verschärfe gleichzeitig, um die
Informationen, die ich im Gespräch erhalten habe, ideologisch zu
einer das Aggressionspotenzial externalisierenden Szene zu
verdichten« (S. 226 – Betonung RW). Derartig tendenziöse,
»ideologische« Deutungen sind das schwächste Glied in einer
ansonsten faszinierenden Studie. Insgesamt wirken die Auswertungen
der vier Interviews wie Fingerübungen auf der Klaviatur der
Triebdynamik, ein flottes rauf und runter, bei dem noch keine
überzeugende Melodie zu erkennen ist. Hingegen ertönen hier wie bei
den Deutungserklärungen der thematisch geordneten Ergebnisse
(11.3., S. 285–312) sehr grundlegende Akkorde selbstkritischer
Gegenübertragungsanalyse – ein Musterbeispiel an psychoanalytischer
Selbstreflexion, allerdings gelegentlich so schonungslos, dass sie
überichhaft über das Ziel hinausschießt.
Torellis Entdämonisierung des Väterlich-Männlichen, auf das die in
der lesbischen Szene ideologisch verpönte Aggressivität von Frauen
abgeladen werde, ist bedeutsam über den lesbischen Diskurs hinweg.
Ebenso entmystifiziert sie die Benutzung von »sexuellem Missbrauch«
als symbolischem Behälter für projizierte und projektiv
identifizierte weibliche Gewalt – ohne dabei dessen reale Bedeutung
herunter zu spielen. Last not least verweist sie auf die
Wichtigkeit einer positiven Besetzung des Penis für die lesbische
Geschlechtsidentität – »das schöne Instrument« nannte ihn eine
Probandin – und auf das Trauern um sein Fehlen in der lesbischen
Liebe. Allerdings wird hier zwischen dem körperlichen Penis als
lust- und samenspendendes Organ und dem Phallus als Symbol von
Zeugungskraft, Fruchtbarkeit und männlich-patriarchaler Macht zu
wenig unterschieden. Bei ihrem proaktiven Bemühen um die
symbolische Integration auch des Heterosexuellen in der lesbischen
Identität wundert es mich, dass Torelli das weibliche Geschlecht
(die Vulva wird namentlich nicht erwähnt) als gleichwertiges Organ
nicht ausdrücklich einbezieht –außer im Kontext von Perversion und
Sadomasochismus, und dort in der Negation: »In der Bildersprache
der weiblichen Erotik scheint das weibliche Genitale als
aktiv-aggressives Lustorgan nicht zu existieren« (S. 178, ein Zitat
von Ruth Waldeck 2000). Ob hier Reste von Penisneid sich diskursiv
Geltung schaffen? Dass das Reden über Sexualität sich auf
symbolisch-sozialer Ebene zu Realitäten verhärtet, zeigt Harriet G.
Lerner bereits 1980 in einem klassischen Aufsatz über die
folgenreiche »Elterliche Fehlbenennung der weiblichen Genitalien
als Faktor bei der Erzeugung von »Penisneid« und Lernhemmungen«
(Psyche 34, S. 1092–1104). Mario Jacoby dagegen bemerkte in einer
persönlichen Mitteilung einmal treffend, dass »das schöne
Instrument« ohne die Vulva ein ganz kümmerliches Organ sei.
Fazit: Ein sehr lesenswertes Werk zum triebdynamischen Verständnis
menschlicher, insbesondere lesbischer Sexualität; intersubjektiv
psychoanalytisch aufschlussreich, allerdings deutungstechnisch in
der Überbetonung des ödipalen, triebdynamischen Modells eher
kritisch zu genießen.
Robert C. Ware, Anne Ware