Rezension zu Das Innere-Kinder-Retten
Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse 2/2011 Heft 164
Rezension von Isabelle Meier
Eines muss man der Autorin zugestehen: Sie versteht etwas von
komplexer Belastungsstörung. Gabriele Kahn legt ein ausgereiftes,
verständliches und kompetentes Buch mit der Hauptthese, dass sich
bei Komplextraumatisierungen ein Paradigmawechsel ankündigt, vor.
Befürworteten sowohl psychoanalytische, imaginative wie auch
verhaltenstherapeutische Verfahren oder die EMDR-Therapeutinnen vor
noch nicht allzu langer Zeit lediglich Ressourcenaktivierung,
Stabilisierung, Verstärken der Achtsamkeit und Bestärkung positiver
Persönlichkeitsanteile bei der Posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS), so ließen sich jetzt bei allen Hinweise für die
Notwendigkeit der Durcharbeitung der Traumata in der Kindheit
finden. Denn rein ressourcenorientierte Ansätze lösen ein
grundlegendes Dilemma nicht: Zwar entstehe Distanz zum Thema, bei
der Konfrontation mit Triggern können die Betroffenen jedoch immer
überfordert und retraumatisiert werden, da die nicht integrierten
Traumata irgendwo im Hintergrund »lauern«. Die Selbstheilungskraft
versuche zudem unbewusst, noch abgespaltene Traumatisierungen zu
verarbeiten und reinszeniert abgeschwächte traumatische
Situationen. Jeder Therapeut und jede Therapeutin kann das
bestätigen.
Dieses beschriebene Dilemma will die Autorin mit einer eigens dafür
entwickelten Methode lösen. Diese »ermöglicht wirkliche
Traumaintegration ohne Retraumatisierung, auch bei stark bis völlig
abgespaltenen Anteilen, die mit keiner mir bekannten anderen
Methode emotional überhaupt erreichbar sind. Die für Betroffene
beste Nachricht ist: Es ist nicht notwendig, die alten Schmerzen
noch einmal zu durchleben, um Heilung zu erfahren.« (S. 12) Dieser
Anspruch scheint auf den ersten Blick sehr hoch gegriffen.
Gabriele Kahn ist Psychotraumatherapeutin in Berlin und Mitglied
der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie und
bildet selber Psychotraumatherapeutlnnen aus. Sie bezieht sich auf
Louise Reddemann und Michaela Huber sowie auf das holländische Team
um Onno van der Hart, Ellert Nijenhuis und Kathy Steele. Auch der
Ego-State-Ansatz von Watkins und Watkins und die EMDR-Methode von
Shapiro zählen zu den von ihr eingesetzten Mitteln der
Traumaintegration.
In Anlehnung an diese Vorgänger entwickelte Gabriele Kahn die
Methode des »Innere-Kinder-Rettens« als tiefenpsychologisch
fundierten Ansatz. Als wichtigstes Agens versucht sie, den
rettenden Abwehrmechanismus der Dissoziation nicht gegen den
Widerstand der Klientinnen aufzuheben, sondern perfektioniert ihn
im Gegenteil mit allen Mitteln so lange, bis er durch die Rettung
des traumatisierten Anteils überflüssig geworden ist.
Bei chronischer Traumatisierung entwickelt sich im Kind eine
tiefgreifende Persönlichkeitsspaltung, die van der Hart et al.
(2008) »strukturelle Dissoziation» nennt. Dabei ist ein
Persönlichkeitsanteil dem Leben und dessen Forderungen zugewandt.
Mit Pierre Janet nennt van der Hart diesen Teil Anscheinend
normaler Persönlichkeitsanteil (ANP), während der andere die
Traumata bewusst oder unbewusst »trägt« (Emotionaler
Persönlichkeitsanteil, EP), der im Alter der ersten Dissoziation
fixiert bleibt und die darauffolgenden Entwicklungsphasen nicht mit
vollzieht. Positive Dissoziation definiert die Autorin als
diejenige Dissoziation, die gezielt zur Heilung eingesetzt werden
könne z. B. zur Etablierung des sicheren inneren Kinder- bzw.
Erwachsenenorts, des Tresors oder der Screentechnik. Diese
Dissoziation befürwortet die Autorin ausdrücklich und benennt die
enorm heilsamen Möglichkeiten, indem das Erleben der erwachsenen
Person von den inneren Kindern und seinen Helfern gezielt
voneinander getrennt wird.
Ferner ist sie der Ansicht, dass Täter- und Mittäterkontakte (z. B.
die Mutter) zu beenden sind und zwar bei sexueller Traumatisierung
lebenslang. Damit ist jede Form von Kontakt gemeint. Das tönt auf
den ersten Blick ziemlich rigide, macht dann aber Sinn, wenn man
bedenkt, dass die inneren Kinder nicht wirklich geschützt und
geheilt werden können, wenn nach wie vor die Gefahr einer
Retraumatisierung durch eine Mittäterin besteht. Die erwachsene
Betroffene würde sich gegenüber ihren inneren Kindern sonst genauso
verhalten wie früher die Mutter als Mittäterin, nämlich verratend,
im Stich lassend, verleugnend und bagatellisierend. Und das
tiefgreifende Schuldgefühl des inneren Kinds (»ich bin selbst
schuld«) würde nie heilen können. Therapeuten sollen also nicht zur
Versöhnung mit dem Täter und Mittäterinnen aufrufen. Wichtig ist
die Versöhnung mit sich selbst.
Ein wichtiges Kapitel ist der Entlastung von Schuldgefühlen und
Selbstvorwürfen gewidmet, die bei Traumapatientlnnen besonders tief
verwurzelt sind. In diesem Zusammenhang behandelt sie auch die
Täterintrojekte, die ein oft schwieriger Teil der
Stabilisierungsarbeit sind. Solche Introjekte werden vom Kind zum
Schutz aufgenommen, um nicht während der Traumatisierung verrückt
zu werden. Die Funktion der Introjekte ist durchwegs positiv zu
würdigen, der Inhalt aber klar abzulehnen. Mit einer im Buch
beschriebenen Übung nach Louise Reddemann wird die Täteraggression
dorthin gerichtet, wo sie hingehört und bei der alle positiven
Anteile des Täters zunächst herausgelöst werden, bevor der
destruktive Kern zerstört wird.
Die Rettung der inneren Kinder geht von einem konkreten Bild eines
inneren Kindes aus, dass mit passenden Helfern an einen sicheren
Kinderort gebracht wird. Rettung ist überhaupt ein wichtiges Wort,
sowie auch der richtige Hinweis, dass sich bei Traumata immer
mehrere Kinder abspalten.
Das Buch von Gabriele Kahn ist deshalb lesenswert, weil es meines
Erachtens genauer als die bisher mir bekannten
Traumatherapierichtungen erläutert, was den Patientinnen gut tut,
und was nicht. Sie perfektioniert die positive Dissoziation,
arbeitet nicht mit schmerzlicher Erinnerung, sondern das erwachsene
Ich und die traumatisierten Kinder werden zunächst gezielt
dissoziiert gehalten, und das Kind wird durch Helfer aus der
traumatischen Szene herausgelöst. Der Erwachsene soll diesen
Prozess nicht stören. Helfer sorgen dafür, dass der sichere
Kinderort ideal abgesichert ist und dass das Kind alles bekommt,
was es braucht. Die Kinder bleiben mit ihren Helfern für immer an
diesem geschützten und ideal schönen Ort und erhalten das
Versprechen, dass sie nie mehr in die Außenwelt zurück müssen.
Alles in allem bleibt der Eindruck, dass Gabriele Kahn ein
sorgfältiges und für die therapeutische Arbeit mit Traumatisierten
wirklich fruchtbares Buch verfasst hat.
Isabelle Meier, Zürich