Rezension zu ADHS
Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 4/2011
Rezension von Ramona Thümmler
Das Thema der Aufmerksamkeitsstörung ist in verschiedenen
Disziplinen ein vielbeachtetes Forschungsgebiet was sich unter
anderem in der Zahl der Veröffentlichungen abzeichnet. Autorinnen
und Autoren der Gesundheits-, Natur- und Sozialwissenschaften
tragen dazu bei, dass zum einen umfangreiche Erkenntnisse
vorliegen, und zum anderen eine breitere Akzeptanz des
Störungsbildes zu verzeichnen ist.
In den letzten Jahren sind diverse Veröffentlichungen der
theoretisch unterschiedlich ausgerichteten »Schulen« entstanden.
Hierbei stehen z. B. Theorie- und Behandlungsansätze nach
multimodaler Vorgehensweise und psychodynamische/psychoanalytische
Ansätze nebeneinander. Multimodal spricht sich für eine Kombination
von therapeutischer Behandlung des Kindes, Psychoedukation der
Eltern sowie bei Bedarf Gabe von Medikamenten aus. Eine
psychodynamische Therapie nimmt eher die inneren Beweggründe der
Kinder in den Fokus und setzt an einer Verarbeitung des Erlebten
an. Die Vertreter dieser Modelle wollen gezielt alternative
Zugangswege zu den Auffälligkeiten der Kinder aufzeigen. Die Eltern
der Kinder finden sich in eben diesem Spannungsfeld wieder, wollen
die richtigen Entscheidungen für ihr Kind und die Familie treffen
und erhoffen hier vor allem umsetzbare Konzepte. Die folgenden drei
Bücher spiegeln nun genau diese Entwicklungen wider.
Das Buch von Lehmkuhl et al., nun bereits in dritter Auflage,
präsentiert sich als ein Überblickswerk zu Aufmerksamkeitsstörungen
im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter mit dem Ziel, »eine
übersichtliche und in der Praxis anwendbare Einführung in die
Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von hyperkinetischen
Störungen« (S. 10) vorzulegen. Die neue Auflage soll zudem »zu
einem differenzierten Umgang mit der Diagnose ADHS beitragen und
das Wissen um Psychopharmakologische Behandlungsstrategien
aktualisieren« (S. 6).
Im Einführungskapitel zeichnen die Autoren ein Bild der Landschaft
von Aufmerksamkeitsstörungen in Deutschland. Sie plädieren für eine
korrekte Diagnosestellung durch eine umfassende Diagnostik und
Differentialdiagnostik anhand der gängigen Klassifikationsschemata
und in Einklang mit den diversen Leitlinien der Fachgesellschaften.
Hierbei sollen neben verschiedenen Beurteilungsquellen auch
erschwerende oder entlastende Umgebungsfaktoren sowie weitere
Erkenntnisse, z. B. von Intelligenzdiagnostik oder die Beurteilung
von mit einfließen. Allerdings machen sie auch auf Schwachstellen
in der psychotherapeutischen und medizinischen Versorgung
aufmerksam: mangelnde Diagnostik Nichtberücksichtigung von
Behandlungsalternativen, fehlende Integration der medikamentösen
Behandlung in ein multimodales Behandlungskonzept sowie mangelnde
Titrierung und Verlaufskontrolle bei einer Stimulanzientherapie.
Ausführungen zur Pathogenese der Störung und Erklärungsmodelle
vervollständigen das Kapitel. Als Perspektive schlagen die Autoren
die Übertragung einiger Komponenten von
Disease-Management-Programmen für chronisch Kranke vor.
Vor diesem Aufriss zur Bedeutung der Störung folgen sehr gut
aufbereitete Ausführungen zu Prävalenz, Symptomatik, Diagnostik und
Therapie (einschließlich der Medikation) entsprechend den
Lebensaltern (Kindheit und Jugend/Erwachsene).
Das vorliegende Buch bietet einen wissenschaftlichen und aktuellen
Überblick über die Erkenntnisse und laufenden Diskussionen in Bezug
auf Aufmerksamkeitsstörungen. Es weist den Leser nicht nur
umfassend in die Materie ein, sondern bietet auch genügend Stoff,
um sich in einzelne Themen zu vertiefen. Anschauliche
Fallbeispiele, Auszüge aus Diagnostikbögen oder z.B.
Entscheidungsbäume, farbige Tabellen und Schaubilder zeichnen ein
lebendiges Bild der Störung und des Umgangs damit. Die Ausführungen
zur Medikation sind sehr ausführlich und bieten eine gute Grundlage
zur Thematik. Die zahlreichen rezipierten Studien lassen den Text
sehr dicht auftreten. Abgerundet wird das Werk durch Adressen von
Selbsthilfeverbänden sowie Ausführungen zu gesundheitsökonomischen
Aspekten. Zu knapp erscheinen mir die Ausführungen zu Alkohol und
Drogenmissbrauch in Verbindung mit Aufmerksamkeitsstörungen.
Dennoch: Ein sehr gutes Buch, das jedem empfohlen werden kann, der
den aktuellen Stand der Wissenschaft zum Thema ADHS erfassen
möchte.
Neraal und Wildermuth, beide Kinder- und Jugendpsychiater mit
psychoanalytischem Hintergrund, legen einen Sammelband vor, der aus
vierjähriger Intervisionsarbeit von Ärzten, einem klinischen
Psychologen und einer Psychotherapeutin entstanden ist. Anliegen
ihres Werkes ist anhand von zehn Fallgeschichten aus stationärer
oder ambulanter Familientherapie, Beratung oder Krisenintervention
»die Tür zur Innenwelt des Kindes und seinen Angehörigen, zu seinen
Gefühlen, Motiven und Konflikten« (S. 11) zu öffnen und für die
inneren Nöte der Kinder zu sensibilisieren. Der Fachwelt sollen
alternative Sichtweisen auf das Störungsbild ADHS eröffnet werden
und Kollegen und Kolleginnen sollen ermutigt werden »sich nicht mit
der Beschreibung der äußerlichen Verhaltensauffälligkeiten des
Kindes und der ausschließlichen Behandlung mit Medikamenten und
verhaltenskorrigierenden Programmen zu begnügen« (S. 12).
Die vorfindbaren Beschreibungen von Untersuchungen und Behandlungen
werden vor dem Hintergrund folgender Annahme geschildert: Die
Störung ist als Ausdruck innerer psychischer Befindlichkeit zu
sehen. Beziehungsdynamische Aspekte rücken in den Blickpunkt. So
ist zu lesen: »Psychodynamisch stellt die sogenannte
Kernsymptomatik eher die Oberfläche verschiedener tiefgreifender
Störungsbilder unterschiedlicher Schweregrade dar« (S. 242). Die
Darstellung einer katamnestischen Nachuntersuchung von 93 Kindern
schließt sich an die Fallschilderungen an. Eine soziodynamische
Perspektive betrachtet den Druck, der von außerfamiliären Instanzen
auf Kind und Familie ausgeübt wird.
Die Herausgeber legen eine interessante, andere Sichtweise auf das
Störungsbild ADHS dar und bieten damit eine Alternative zu den
gängigen Erklärungsmodellen eines hyperaktiven und unruhigen
Verhaltens. Der Blick des Lesers wird für die inneren Welten des
Kindes geöffnet. An einigen Stellen wirken die Ausführungen jedoch
polarisierend und nicht jede Aussage zur multimodalen
Vorgehensweise ist wissenschaftlich richtig dargestellt. Die
Fallbeispiele lesen sich sehr interessant, wenn auch nicht hinter
jedem Fallbeispiel ein diagnostiziertes ADHS steht – in einem Fall
wird die Diagnose z. B. als organisatorische Möglichkeit genutzt,
um die Familie und das Kind an den Psychotherapeuten
weiterzuleiten. Solche Vorgehensweisen entstehen aus den Zwängen
des Systems heraus, tragen leider aber auch zu einem inflationären
Gebrauch des ADHS-Begriffs bei, was wiederum Auswirkungen auf die
Wahrnehmung des Störungsbildes insgesamt hat.
Sehr hilfreich für alle praktisch Tätigen ist der detaillierte Plan
für diagnostisches Vorgehen und zum Erfassen der richtigen
Maßnahmen. Der Titel des Buches weckt teilweise andere Erwartungen
als das Buch erfüllt. Lässt sich der Leser auf diese andere
Sichtweise ein, können wertvolle Impulse für die Arbeit mit den
Kindern und ihren Familien gewonnen werden.
Die Physiotherapeutin und Medizin-Pädagogin Gabriele Hanne-Behnke
richtet ihr Buch zur Elternarbeit bei Kindern mit Aufmerksamkeits-
oder Entwicklungsstörungen an Fachkräfte in der Ergo- oder
Physiotherapie, um diesen Kompetenzen für eine angemessene
Elternbegleitung zu vermitteln.
Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit Grundlagenwissen zu
Entwicklungsstörungen. Dies sei die Voraussetzung, »um flexibel und
teilnehmerorientiert Eltern in einem Kurs begleiten« zu können, so
Hanne-Behnke. Verknüpft wird das Ganze mit wichtigen didaktischen
Grundlagen für die Erwachsenenbildung. Neben
sozialwissenschaftlichen Faktoren, pädagogischen Konzepten und
psychologischen Modellen wird die Komplexität kindlicher
Entwicklung und des Aufwachsens dargestellt, indem beispielsweise
auch Themen wie Resilienz, multiaxiale Diagnostik oder die
Bedeutung von innerfamiliärem Stress aufgrund von Belastungen
erläutert werden. Im Rahmen dieser Ausführungen werden unter
anderem das Konzept der »individualisierten Förderdiagnostik« von
Eggert sowie Ziele eines diagnostischen Prozesses nach Döpfner
vorgestellt. Hanne-Behnke plädiert dafür, die Diagnostik jeweils
auf den einzelnen Fall zu beziehen, an das Kind und seine
Lebensumstände anzupassen, um daraus Konsequenzen für die
Behandlung und Förderung zu entwickeln.
Im zweiten Teil wird der entwickelte Elternkurs sowie dessen
Evaluation vorgestellt. Der Kurs verknüpft psychomotorische und
systemische Elemente mit der Störung ADHS bzw. anderen
Entwicklungsauffälligkeiten. Themen der acht Module sind z. B.
Hyperaktivität, Wahrnehmung und Lernen, Spielen als positiver
Beziehungsaufbau, verschiedene Lerntypen, Selbstkonzept und
Familienrat. Der vorgestellte Kurs wird von einer kleinen
Evaluation gerahmt. Die einzelnen Elemente der Module finden sich
ähnlich in anderen Elterntrainings oder -kursen. Die hier
vorliegende Zusammenstellung bietet einfach eine weitere
Alternative, die aufgrund ihrer überschaubaren Darstellung und des
Überschaubaren Umfangs gut an die Bedürfnisse der jeweiligen
Elterngruppe angepasst werden kann.
Hanne-Behnke legt ein gutes Buch für Praktiker vor: Die einfache
Zusammenstellung einiger Grundlagen von kindlicher Entwicklung
kombiniert mit einem Elternkurs. Da der thematische Bogen bisweilen
sehr weit gespannt ist, wird der Fokus auf ADHS im Buch nicht immer
deutlich.
Ramona Thümmler, Reutlingen