Rezension zu Intimmodifikationen

Dr. med. Mabuse Nr. 191, Mai/Juni 2011

Rezension von Dr. med. Marion Hulverscheidt

Dieser wissenschaftliche Sammelband, die erweiterte Version einer mittlerweile vergriffenen Sonderausgabe der Zeitschrift »psychosozial«, beschäftigt sich mit einem Grenzbereich der Medizin und Psychotherapie, mit den gewollten Veränderungen an der Scham. In einer profunden Einleitung und elf Beiträgen werden Möglichkeit und Wirklichkeit dieser kulturellen und psychosozialen Modifikation am vormals unbekannten und geheimen, nun aber öffentlichen Ort aufgezeigt.

Die Herausgeber Ada Borkenhagen, psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin, und Elmar Brähler, Leiter der Abteilung für psychische Gesundheit der Universität Leipzig, beschäftigen sich schon seit einiger Zeit mit der Thematik; die Beiträge über die unterschiedlichen Zugriffsformen auf das männliche und das weibliche Genitale stammen von Autorinnen aus den Bereichen der Medizin, Psychologie, Psychoanalyse. Ethnologie, Gender Studies und Erziehungswissenschaften.

Im Beitrag über die theoretischen und empirischen Aspekte der Intimrasur wird ausgeführt, wie verbreitet, insbesondere bei den Angehörigen der Generation unter 30, diese vorgeblich hygienische Handlung ist. Die Intentionen dafür scheinen sich zu widersprechen, ist es doch zum einen das Bedürfnis, sich wieder zum unbehaart-unschuldigen Kind zu stilisieren, zum anderen sich zu zeigen und damit die eigene sexuelle Attraktivität zu steigern. Hiermit verknüpft ist nicht bloß eine neue Mode, sondern eine neue Ästhetik, die als postmoderne Individualisierungsform deutbar scheint.

Elisabeth Rohr führt in ihrem Beitrag über Körpermodifikationen in der weiblichen Adoleszenz am Beispiel von Piercings und Tatoos aus, dass diese als Medium der Identitätssuche und auch als Abbild für die Identitätsvergewisserung dienen. Dies zeigt in erschreckender Weise, dass für Teile der Gesellschaft der individuelle Charakter am Körper und nicht an der eigenen Wesenheit festgemacht wird.

Die plastische Chirurgin Simone Preiß stellt die diversen Operationsformen für die Kürzung der inneren Schamlippen mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen dar. Dieser Eingriff birgt neben der Tatsache, dass es keine standardmäßige Operationsmethode gibt, die Schwierigkeit, dass die medizinische Indikation so schwierig ist. Ein normales äußeres Genitale ist nur unscharf definiert und die wenigen wissenschaftlichen Studien, die nach der normalen Varianz von Klitorisgröße, Schamlippenlänge und -breite fragen, belegen, dass hier die mediale Normativität eine Norm vorzugeben scheint, die gar keine ist.

Über den westlichen-christlichen Denkraum hinaus geht der Beitrag von Verina Wild und Rachel Neuhaus Bühler zur Rekonstruktion des Hymens. Eine medizinische Indikation für diesen Eingriff existiert nicht, jedoch eine gewichtige psychosoziale. Drei Beiträge behandeln die weibliche Genitalverstümmelung. Es werden mögliche Ansätze der Überwindung aufgezeigt, aber auch das Dilemma beschrieben, das zwischen dem, was wir, und dem, was die »anderen/'« machen, besteht. Gender-Wissenschaftlerinnen ziehen in ihrem Text den Schluss, dass es sich in beiden Fällen – Hymenrekonstruktion und Genitalverstümmelung – um einen Eingriff handelt, dem sich Frauen aufgrund gesellschaftlicher Zwänge unterwerfen. Gesellschaftliche Zwänge nicht nur bei den anderen, sondern auch in der eigenen Gesellschaft wahrzunehmen und ihnen nicht blind zu folgen, scheint eine der großen Aufgaben des 21. Jahrhunderts zu sein. Individualisierung macht nicht frei, sondern verschleiert eben oft gesellschaftliche Zwänge.

Insgesamt handelt es sich um einen gut konzipierten Sammelband, der den Finger auf das Dilemma der postmodernen Selbstpositionierung und des gesellschaftlichen Verhaltens in diesen Zeiten legt.

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