Rezension zu Handbuch psychoanalytischer Begriffe für die Kunstwissenschaft
Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 30 Kindheiten
Rezension von Thomas Auchter
»Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber
nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen,
sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die
sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein
eigenes Wesen [...]«(Sigmund Freud (1933a): Neue Folge der
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: G. W., Bd. 15,
S. 169.)
In Zeiten der fortgesetzten Beschleunigung aller Lebensvorgänge,
des blinden Vertrauens in die ›Wissenschaften‹ des Zählen und
Messens, der Fixierung auf ständige Steigerung von
Leistungseffizienz und das Qualitätsmanagement ist eine
anachronistische humane – Raum für eigene Entwicklung
bereitstellende – Position, wie sie Psychoanalyse vertritt, umso
mehr vonnöten. Die psychoanalytische Kulturbetrachtung gehört zu
den impliziten Verteidigungen der Humanität.
Bis auf den Moses des Michelangelo und Leonardo da Vincis Anna
Selbdritt lag bekanntlich das Interesse von Sigmund Freud eher
nicht auf musikalischen und anderen künstlerischen
Ausdrucksmöglichkeiten, sondern entsprechend seiner Persönlichkeit
und seiner Behandlungsform vor allem auf sprachlichem, sprich:
literarischem Gebiet. Ausdrücklich werden in der Einleitung der
Herausgeber des Handbuches die Freiburger literaturpsychologischen
Gespräche als brückenschlagendes Forum zwischen Psychoanalyse und
Kulturwissenschaft hervorgehoben.
Die Kunsthistoriker Gerlinde Gehrig und Ulrich Pfarr als
Herausgeber legen zusammen mit 24 AutorInnen mit diesem »Handbuch
psychoanalytischer Begrffe für die Kunstwissenschaft« einen
gewichtigen Band von insgesamt 450 Seiten vor. Mit ihrem Bemühen,
die »schmerzliche und folgenreiche Lücke« zwischen
Kunstwissenschaft und Psychoanalyse zu schließen, leisten sie
Pionierarbeit. Deswegen sind sie auch mit all den Klippen und
Tücken konfrontiert, die eine Pionierleistung erschweren.
Die Herausgeber und Autoren werden ihrem selbstgesetzten Anspruch,
einer »konzisen Klärung der Begriffe« zur »Einführung in einen
Diskurs« zwischen Kunstwissenschaft und Psychoanalyse weitgehend
gerecht. Die einzelnen Beiträge sind allerdings von
unterschiedlicher Qualität. Einige Artikel sind von einer solchen
inhaltlichen Dichte und sprachlichen Klarheit, dass manche von
ihnen für sich ein kleines ›Kunstwerk‹ darstellen.
Angesichts von 32 Stichworten bzw. Einzelartikeln ist eine
intensivere Betrachtung einzelner Begriffe in dieser Rezension
natürlich nicht möglich. Die Artikel folgen zumeist einem
Grundmuster, das nach einer Einführung oder Problemstellung, einer
differenzierten Klärung und Genese des jeweiligen Begriffes dessen
Bedeutung für die Kunstwissenschaft auslotet. Dabei werden
selbstverständlich bei den so unterschiedlichen Einträgen
subjektive Gewichtsetzungen vorgenommen. Warum ein so grundlegender
Begriff wie »Kreativität« nicht eigens dargestellt wird, sondern
nur ansatzweise z.B. unter »Idealisierung« oder »Kultur« diskutiert
wird, bleibt unerfindlich. Es fällt auf, dass Lacan und seine
Psychoanalyse in mehreren Beiträgen eine dominante Rolle
spielen.
Gewöhnungsbedürftig – für den psychoanalytischen Leser – ist, dass
eminent klinisch-psychoanalytische Begriffe wie z.B. »Aggression
und Destruktion«, »Einfühlung/Empathie«,
»Pathographie/Pathologisierung« oder »Projektion« von
Nichtpsychoanalytikern (auch wenn es sich um die Herausgeber des
Handbuchs handelt) vorgestellt werden. Wohltuend hebt sich davon ab
der Beitrag zur »Übertragung«. Das Problem der Darstellung durch
Nichtpsychoanalytiker liegt darin, dass die Begriffe auf einer
referentiellen und abstrakten Ebene verbleiben. Als jemand, der
sich intensiver mit dem Werk von Winnicott beschäftigt hat, fällt
mir das zum Beispiel bei der meines Erachtens fragwürdigen
Darstellung der ›Übergangsphänomene‹ im Artikel
»Symbol/Symbolisierung« auf.
Ein gelungenes Gegenbeispiel ist der Artikel über »Körper«, der
elaboriert die Verknüpfung zwischen den psychoanalytischen
Konzepten und deren Verwendung in der Kunstuntersuchung erfasst.
Ähnliches gilt für den Begriff »Melancholie«. Brillant ist auch die
Darstellung von »Sexualität/Geschlechterverhältnis«. Äußerst
informativ sind die Beiträge über »Kultur«, »Musik«, »Religion« und
»Trauma«.
Die auf dem Cover versprochene »allgemein verständliche
Begriffsklärung« wird leider nicht von allen Autorinnen eingelöst.
Einige Artikel sind für mich weder »anschaulich« noch
»verständlich« noch »benutzerfreundlich«. Manche Autorinnen
bedienen sich bisweilen einer derart anspruchsvollen, abstrakten
und artifiziellen Fachsprache (z. B. die Artikel über »Hysterie«,
»Pathographie/Pathologisierung«, »Psychose«,
»Symbol/Symbolisierung«), dass ein Verständnis besonders »für
Einsteiger« nicht gerade erleichtert wird. Wie auf diese Weise ein
»Dialog« mit einem »kunstwissenschaftlichen Publikum« erreicht
werden soll, bleibt schleierhaft. Vielleicht liegt das Problem
darin, dass durch dieses Handbuch zugleich »neue
Forschungsperspektiven« durch eine »systematische und konzentrierte
Form« erschlossen werden sollen, also der Adressatenkreis aus Sicht
der Herausgeber zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaftlichkeit
oszilliert? Inwieweit Artikel wie z.B. über »Hysterie« infolge
ihrer doch sehr speziellen kunstwissenschaftlichen Fachsprache den
angestrebten »interdisziplinären Diskurs« zwischen
Kunstwissenschaft und Psychoanalyse, den ich als Psychoanalytiker
sehr begrüßen würde, wirklich fördern können, bleibe
dahingestellt.
Der von Freud für die Kommunikation eines Traumes als notwendig
beschriebenen »Rücksicht auf Darstellbarkeit« bedienen sich leider
nicht alle Autorinnen. Gerade der Artikel über den »Traum« ist
dagegen meines Erachtens ein sehr gelungenes Beispiel für die
Rücksicht auf Verständlichkeit und den Leser!
Fazit: insgesamt ein erheblicher ›Kunst-Genuss‹, wenn man zu
gewissen Abstrichen bei einzelnen Artikeln bereit ist.