Rezension zu Postsexualität
Phase 2, Literaturbeilage Kilby2, Dezember 2010
Sex nach dem Ende des Sex
Das Bändchen »Postsexualität. Zur Transformation des Begehrens«
dokumentiert die Beiträge eines Workshops, bei dem sich dreizehn
WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen über die Existenz
und die Konsequenzen eines neuen, postsexuellen Begehrensregimes
auseinandergesetzt haben. Die Vorsilbe »Post-« bedeutet nicht, dass
hier queer-feministische und dekonstruktivistische Positionen zu
Sexualität und Begehren diskutiert werden. »Postsexuell« ist
vielmehr eine sexualwissenschaftliche Zeitdiagnose, die, wie
Bettina Bock von Wülfingen ausführt, auf eine »Vervielfältigung von
sexuellen Praktiken jenseits des herkömmlichen Penetrativen und
Reproduktiven« verweist. Sie stellt anhand einer Diskursanalyse
dar, wie die Reproduktionsmedizin seit Ende der neunziger Jahre
zunehmend in einen Kontext von Selbstbestimmung, Liebe und
Verantwortung gestellt wird – anders als in älteren Debatten, als
diese Technologien vor allem als »Biopolitik« in der Kritik
standen.
Die von Ada Bokenhagen vorgestellte quantitative Studie zur
Bewertung medizinisch induzierter Elternschaft soll belegen, dass
Reproduktionstechnologie mittlerweile in der BRD stark akzeptiert
sei, was in der Tendenz zu einer Emanzipation der Elternschaft von
der Paarbeziehung führe. Relativiert wird dieser Befund allerdings
dadurch, dass Paare befragt wurden, die sich mit ihrem Kinderwunsch
an ein reproduktionsmedizinisches Institut gewendet hatten. Jean
Clam fragt inhaltlich daran anschließend. »Lässt sich postsexuell
begehren?« Er geht von einer Gesellschaft aus, die von Sexualität
besessen ist, trotzdem aber den Sex vor allem als Problem
thematisiert und sich im Grunde nach einem Ende des Sexuellen
sehnt. Als Beleg zieht Clam, wie auch die AutorInnen anderer
Beiträge, den Roman »Elementarteilchen« von Michel Houellebeeq
heran, in dem Menschen gezeichnet werden, die sowohl zu sozialen
Beziehungen unfähig sind, als auch an der Herstellung einer
erfüllten Sexualität scheitern. Schuld daran seien die 68er, die
für eine allgegenwärtige Sexualisierung des öffentlichen Raumes
gesorgt hätten, infolge dessen eine ständige Überflutung mit
sexuellen Reizen stattfände, die aber nicht in Befriedigung münde.
Die Folge sei »ein Begehrensregime, das sich durch seine Ambiguität
zwischen diffuser Sexualisierung und Unterbindung der
Sexualisierung auszeichnet« – ein Merkmal der Postsexualität. Auch
Robert Pfaller fürchtet eine »Nichtung des
Sexuellen« und den damit einhergehenden Niedergang der symbolischen
Geschlechterordnung. Die These seines Beitrags zu Asexualität ist,
dass die heute angestrebte Befreiung von der Sexualität nur die
konsequente Fortsetzung der sexuellen Revolution sei. Indem die
Generation der Studentenbewegung eine neue Ordnung des sexuell
Wünschenswerten errichtet habe, wüchsen die Kinder der Revolution
in einem Setting auf, in dem gerade die Abwehr des allgegenwärtigen
»Du sollst« als Autonomie erscheine.
Die sich durch viele Beiträge ziehende Skepsis gegenüber der
Veruneindeutigung von Geschlechts- und Begehrensnormen wirkt oft
wie konservative Kulturkritik. So prognostiziert Clam für den Sieg
der Postsexualität das Ende der abendländischen Kultur und des
modernen Menschen. Pfaller behauptet, schon heute müssten sich
Heterosexuelle für ihre Veranlagung rechtfertigen und knüpft damit
an die Rede von der Homosexualisierung der Gesellschaft an, die
pünktlich jedes Jahr zum CSD durch die Feuilletons geistert, aber
auch in der psychoanalytisch orientierten Sexualforschung zu finden
ist. Dagegen fragen Margret Hauch und Silja Mathisen, ob es sich
bei der neuen Kultur der Offenheit und Gleichheit um wirkliche
Neuerungen oder vor allem um eine rhetorische Modernisierung
handelt, die die alten Ungleichheiten besser verpackt. Abschließend
macht Susann Heenen-Wolff deutlich, dass die Prozesse, die unter
dem Begriff Postsexualität gefasst werden, nicht unbedingt ein
neues und bahnbrechendes Phänomen sein müssen. Weiter benennt ihr
Beitrag deutlich die normativen Elemente im psychoanalytischen
Sexualitätsdiskurs und lässt sich damit gegen die kulturkritischen
Panikattacken anderer Beiträge wenden.
Wer nicht im Fachdiskurs steckt, wird beim Lesen einiger Texte
Verständnisschwierigkeiten haben. Das Aufeinandertreffen der
verschiedenen Positionen mag im Workshop spannend gewesen sein,
wirkt aber im Sammelband etwas zusammengewürfelt. So sind die
filmtheoretischen und künstlerischen Beiträge von Marcus Stilegger
und Ursula Neugebauer für sich lesenswert, sagen aber wenig zum
Thema Postsexualität, genau wie der Text von Christina von Braun
zur Geschlechterordnung in Judentum, Islam und Christentum. Als
Einführung in die aktuelle Arbeit der Deutschen Gesellschaft zur
Sexualforschung sind die »Neosexualitäten« Volkmar Siguschs (Campus
Verlag, Frankfurt a. M. 2005) daher besser geeignet als die
»Postsexualitäten«.
EINER VON WI(E)DERDIENATUR