Rezension zu Seelenmord und Psychiatrie

Freie Assoziation Heft 2/2006

Rezension von Ludger Lütkehaus

»Seelenmord«, psychiatrisch

Der »Casus« des sächsischen Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber (1842–1911), Sohn des als Namengeber der »Schrebergärten« in die Kulturgeschichte eingegangenen Orthopäden, Hygienikers, Gymnasten, Pädagogen und Volksreformers Daniel Gottlieb Moritz Schreber, ist einer der berühmtesten Fälle der Psychiatriegeschichte. Seit Sigmund Freud sich im Todesjahr Schrebers in einer methodisch hochproblematischen Ferndiagnose (»Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«) der Schreberschen »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« deutend annahm, ist der Fall immer wieder kontrovers diskutiert worden, nicht nur von der Psychoanalyse (Lacan, Niederland, Schatzman, Israels) und Psychiatrie. Walter Benjamin und Elias Canetti etwa haben darüber geschrieben.

Mit der ätiologischen Rolle des Vaters und der rigorosen Einweisungspsychiatrie der Zeit stand im Weiteren die ganze »schwarze Pädagogik« und Disziplinierungswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Gegenbild der Antipsychiatrie des 20. Jahrhunderts, vor Gericht. Daniel Paul Schreber hatte mit seinem in der kirchen- und staatsrechtlichen Tradition seit dem 13. Jahrhundert, dann bei dem großen Juristen Anselm Ritter von Feuerbach vorgeprägten Begriff des »Seelenmordes« freilich schon selber die kritischen Wege gewiesen. Apokalypse und Welterlösung, Transsexualität und intimste Gottesbeziehung sorgten bei ihm für ein phantasmagorisches Szenario, das an Dramatik und Merkwürdigkeit schwer zu überbieten war.

Schrebers »Denkwürdigkeiten« sind in den letzten Jahren zweimal wieder aufgelegt worden, 2003 im Kulturverlag Kadmos zusammen mit einem informativen juristischen und psychiatrischen Anhang, im selben Jahr im Psychosozial-Verlag im Faksimile mit einem hilfreichen Nachwort von Gerd Busse. Der Psychosozial-Verlag legt jetzt auch die 1992 in der englischen Erstausgabe erschienene »Rehabilitierung« Schrebers von Zvi Lothane, die bisher gründlichste Untersuchung des Falles, unter dem von Schreber inspirierten Titel »Seelenmord und Psychiatrie« in einer deutschen Neubearbeitung vor. Lothane verwahrt sich gegen die bisherigen Diagnosen Paranoia und Schizophrenie und erkennt in Schreber einen genial begabten Melancholiker. Und auch der Vater wird postum absolviert. Das Welterlösungsprogramm des Sohnes gedeiht immerhin zu einer historischen Rettung.

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