Rezension zu Der kleine Vogel heißt Goral
Gießener Anzeiger, 25.02.2011
Eine ergreifende Familiengeschichte
Israelitin Ruth Koren präsentiert »Der kleine Vogel heißt Goral« –
Erinnerung wachhalten
GIESSEN (uhg). Nein, es ist noch nicht zu Ende. Es wird niemals zu
Ende sein. Die Erinnerung an den Holocaust kann nicht einfach
beiseite gelegt werden. 65 Jahre nach Ende es Hitler Regimes und
der Befreiung der Konzentrationslager leben nur noch wenige
Zeitzeugen. Doch ihre Nachkommen haben es sich zur Aufgabe gemacht,
die Erinnerung wachzuhalten. So wie die Israelitin Ruth Koren, 1948
in Berlin Licherfelde geboren. Auf Drängen ihrer drei Kinder hat
sie jetzt ihr erstes Buch geschrieben. Die ergreifende
Familiengeschichte stellte die Autorin im jüdischen Gemeindezentrum
Gießen vor.
Derzeit auf Lesereise unterwegs, wird sie nach den Stationen
Leipzig und Gießen ihr Buch auch noch in Frankfurt, Köln und
München vorstellen. Den Leseabend in Gießen veranstaltete die
Gesellschaft für christlich jüdische Zusammenarbeit, dessen
Geschäftsführer Cornelius Mann auch die Veranstaltung im Zentrum
neben der Synagoge eröffnete. Das Buch trägt den poetischen Titel
»Der kleine Vogel heißt Goral« und ist im Herbst vergangenen Jahres
im Gießener PsychosozialVerlag erschienen. Immer wenn ein Mensch
geboren wird, fliegt ein kleiner Vogel auf. Der Vogel heißt Goral,
was auf hebräisch Schicksal bedeutet. Diese Geschichte erzählte
Großmutter Emma Rachel der jungen Ruth Koren. Solche und viele
andere Geschichten aus der jüdischen Tradition sind in dem reich
bebilderten Buch zu finden. Vor allem aber ist es die
dokumentarisch erzählte Geschichte ihrer Familie. Die Großmutter
heiratet Ende des 19. Jahrhunderts den Leipziger Altmetallhändler
Harsch Freier. Der Vater der Autorin, Leo Freier, ist das zehnte
von insgesamt elf Kindern.
Ruth Koren lässt die Familienmitglieder jeweils in Ich Form
sprechen. Vater Leo erzählt von seiner glücklichen Jugend in der
Leipziger Münchgasse, von den grausamen Veränderungen nach der
Machtergreifung Hitlers, und auch davon, wie die Großfamilie
schließlich auseinandergerissen wird. Die Eltern erhalten eine
Ausreisegenehmigung nach Palästina, die elf Kinder mit Familien
müssen zurückbleiben. »Wir kommen bald nach«, trösten sie ihre
Mutter.
Fünf der Geschwister werden mit ihren Familien in Lagern ermordet.
Leo Freier wird 1945 von der Roten Armee aus dem Lager Stutthof
befreit. Bei Gleisarbeiten hatte er beide Beine verloren. In einem
Hospital in Schlesien lernte er seine deutsche Frau kennen, die
dort als Zwangsarbeiterin in der Krankenpflege arbeitete.
Drei Jahre später wird Tochter Ruth in Berlin geboren. Aufgewachsen
in Leipzig, flüchtete die Familie 1953 vor dem in der DDR
aufkeimenden Antisemitismus nach Frankfurt. Sie besuchte dort, so
ist es in Angaben des Verlags nachzulesen, die Frauenfachschule,
erlernte das Friseurhandwerk, absolvierte eine MannequinSchule und
ist auch in beiden Berufen tätig. 1969 wanderte sie nach Israel
aus, wo viele Angehörige ihrer Großfamilie bereits leben. 1970
heiratete sie und brachte drei Kinder zur Welt. Sie arbeitete fünf
Jahre als Diamantensortiererin an der Tel Aviver Diamantenbörse und
in einer Boutique in Tel Aviv. Heute lebt sie in Herzliya und
widmet sich dem Schreiben. Das zweite Buch ist schon fast fertig,
verriet sie auf Anfrage.