Rezension zu C.G. Jung - Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit
Analytische Psychologie 41(3), 2010, S. 376–378.
Rezension von Werner A. Disler
Die Geschichte der Psychoanalyse ist unter anderem eine Geschichte
der Trennung: von Vätern und Söhnen, von Brüdern und Schwestern,
die sich vom Meister distanzierten und eigene Schulen gründeten.
Die Dynamik dieser Trennungen und Spaltungen und entsprechende
Ausschlusstendenzen finden wir zwischen den Nachfolgern leider
heute immer noch – ich denke zum Beispiel nur an die Spaltungen in
Zürich: einerseits die Psychoanalytiker (Freud-Institut vs.
Psychoanalytisches Seminar) und die Analytische Psychologie (C.G.
Jung-Institut vs. ISAP [Internationales Seminar für Analytische
Psychologie]). Die großartigen Instrumente in Bezug auf
Konfliktmanagement und Techniken zum Wertschätzenden Kommunizieren,
Konfliktlösen und Organisieren (siehe z.B. Klaus G. Deissler und
Kenneth J. Gergen, 2004: Die wertschätzende Organisation.
Transcript Verlag) scheinen den führenden Vertretern der Schulen
ein unbekanntes Feld zu sein. Das zeigt sich leider auch in der
neuesten Publikation »Über die Folgen persönlicher und kollektiver
Spaltungen im tiefenpsychologischen Erbe« – so der Untertitel der
Schrift »C. G. Jung. Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit«
von Brigitte Spillmann und Robert Strubel.
Zu Jungs Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus finden wir
nichts Neues; es handelt sich lediglich um ein (unvollständiges!)
Zusammentragen von Zitaten aus längst geleisteter Kritik, jedoch
mit der Beimengung affektiver Reaktionen der Autoren. Sie berichten
nicht sachlich von Jungs »politischer Naivität und Ignoranz« (S.
51) oder allgemein von seinen Fehleinschätzungen, schwierigen
Aussagen und Missgriffen, sondern sie sind heute, nachdem
Informationen vorliegen, die Jung 1933–36 noch nicht kennen konnte,
»entsetzt«, »beklommen«, »betroffen«, »perplex«, »fassungslos«,
finden seine Aussagen »schwer erträglich«, »unflätig«, »billig«,
»unbegreiflich«, »menschlich absolut erbärmlich«, »nicht
einfühlbar« etc. (passim!). Was für Worte würden die Autoren zu den
wirklichen Nazischergen finden? Sie verpassen es indessen, eine
Analyse jener fachlichen Schriften zu geben, die Jung gerade auch
als Autor im berüchtigten Zentralblatt für Psychotherapie
veröffentlicht hatte. Ein Beispiel (C.G. Jung, Grundsätzliches zur
Praktischen Psychotherapie, Vortrag, gehalten an der medizinischen
Gesellschaft in Zürich 1935, publiziert im »Zentralblatt für
Psychotherapie« VIII/2: 66–82): Jung zeigte 1935 eindeutig und
unmissverständlich, dass er sich in seinen
psychologisch-psychotherapeutischen Aussagen nicht gleichschalten
ließ. Hier finden wir nämlich Jungs erste Formulierung einer
Theorie der Intersubjektivität. Damit war er nicht nur jedem
anderen bestehenden Ansatz weit voraus, sondern er stand damit in
deutlichstem Gegensatz zur Gleichschaltungsmaschinerie der
Naziführer. Siehe dazu meine Ausführungen in »Freud, Jung, der
Nationalsozialismus und die Intersubjektivität« (Werner Disler,
2007, Zürich: IKTS – Institut für Kritische Theorie und
Selbstpsychologie). Zu einer Aufarbeitung würden auch solche
Informationen gehören. Oder: Jungs Kritik der Freudschen
»Infantiltheorie«, in der nach Jung der Patient (die Patientin) als
Opfer unbewusster infantil-perverser Wunscherfüllung dasteht,
werten die Autoren als »dümmlich-entwertenden Kommentar« (S. 57f.).
Jung hat z. B. den Fall Dora gelesen (Bruchstück einer
Hysterie-Analyse 1905)!
In dem hier besprochenen Buch finden wir indessen kaum eine Hilfe
für die Aufarbeitung schwieriger Vergangenheit und sicher keine
»reife Auseinandersetzung mit den vorgefundenen theoretischen
Hinterlassenschaften und den Lasten der Vergangenheit« (Zit.
Brigitte Spillmann, S. 496), sondern über weite Strecken widerlich
zu lesende peinliche und durchaus maliziöse Unterstellungen und
Anwürfe an nicht benannte lebende Personen, deren Identität man aus
dem Kontext herauszuraten verführt wird. Da ist (S. 333) die Klage
vom Nicht-sterben-Können alter und kranker Analytiker (Freud würde
Todeswünsche unterstellen), die sich »als alternde Narzissten« (S.
338) nicht aus ihren Tätigkeiten verabschieden können. Strubel
unterstellt »vielen narzisstischen [Jungschen, W.A.D.] Analytikern«
»Denkunfähigkeit oder -trägheit« (S. 331), »geistlose Selbstliebe«
(ebd.), »angebliche Empathie«, die nichts sei »als hohle,
sentimentale Mitleidsbekundung« (ebd.), »verwaschenes
Herumtheoretisieren«, »Borderlinemanier«, »unbrauchbare
pseudowissenschaftliche Aussagen«, »mitmenschliches und
therapeutisches Versagen« (alle S. 331). Und so weiter, die Liste
lässt sich beliebig verlängern. Rundumschläge werden deutlich gegen
Kathrin Asper, Mario Jacoby, vermutlich Verena Kast und weitere
Personen geführt (S. 314–340). Für den Außenstehenden sind diese
Anwürfe unverständlich und bleiben rätselhafte Botschaften. Ich
vermisse die Selbstreflektion der Autoren und es erhebt sich die
Frage nach deren eigenen Rollen im Spaltungsprozess der Zürcher
Jungianer, wenn man die angewandte Sprache und die durchscheinende
Frustration der Autoren bedenkt. Das Buch macht mehr den Eindruck
eines Rechtfertigungsbedürfnisses und einer Ventilfunktion als
einer Informationsabsicht. Wertschätzende Konfliktaufarbeitung oder
Standpunkte aus der Sicht der Angegriffenen sucht man darin leider
vergeblich. Anstelle von erwarteter Aufarbeitung finde ich hier
neues Sprengmaterial. Weitere rätselhafte Botschaften sind zu
erwarten...
Dieses Buch wurde zu früh geschrieben – zu sehr sind die Autoren in
eigener Problematik und aktuellen gruppendynamischen
Spaltungsprozessen gefangen und tragen kaum etwas bei zur
»Beleuchtung der Jungschen Psychologie aus gegenwärtiger Sicht«,
wie im Vorwort versprochen wird. Wer Aufarbeitung und Diskurs
erwartet, sieht sich bei der Lektüre enttäuscht: Neben kurzen
Strecken von Aufarbeitungs- und Integrationsversuchen finde ich in
diesem 500 Seiten umfassenden Werk statt Aufarbeitung ein
monumentales Beispiel von Unversöhnlichkeit.